Pierre Bourdieu

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Während es in »Der Einzige und sein Eigenheim« um die »Wahl« (zwischen Mietwohnung und Eigenheim) und um die sie determinierenden Faktoren geht, wendet sich Bourdieu in »Das Elend der Welt« dem daraus resultierenden kleinbürgerlichen Elend, den Problemen und Nöten an den verschiedenen Orten zu. In Tiefeninterviews lässt er unter anderem diejenigen zu Wort kommen, die an den »Orten gesellschaftlichen Abstiegs leben, wo sich unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit die mittellosesten Bevölkerungsgruppen zusammenballen« (Elend der Welt 1993/1998, 208); nämlich Eigentümer, aber auch Mieter: Hier wie dort geht es um die Auswirkungen des Rückzugs des Staates, seiner neoliberalen Politik.

In der Eigenheim-Studie ist implizit bereits eine politisch-aufklärerische Leistung enthalten: Ihre Ergebnisse bieten Werkzeuge für eine Kritik an der neoliberalen Politik. Auch in seinen politischen Schriften greift Bourdieu das Thema der Wohnungspolitik immer wieder auf, etwa in der Streitschrift »Gegenfeuer« (1998), indem er dem Staat die Verantwortung für die Probleme der banlieus (Vorstädte) zuschreibt und diese als Folge einer in den 1970er Jahren durchgesetzten Politik darstellt, die personenbezogene Eigentumsförderung auf Kosten der öffentlichen Bauförderung bevorzugt:

»… zehn Jahre sozialistischer Macht haben es fertiggebracht, den Glauben an den Staat zu vernichten und die Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates zu vollenden, [75]die in den siebziger Jahren im Namen des Liberalismus eingeleitet wurde. Ich denke hier vor allem an die Wohnungspolitik. Ihr erklärtes Ziel war es, das Kleinbürgertum aus dem gemeineigenen Wohnraum (und damit aus dem ›Kollektivismus‹) herauszulösen und es an den Privatbesitz von Einfamilienhäusern oder Eigentumswohnungen zu binden. Diese Politik ist in einer Hinsicht nur allzu gut gelungen. Ihre Vollendung veranschaulichtdie sozialen Folgekosten bestimmter Wirtschaftsformen …, denn sie ist zweifelsohne die Hauptursache für die räumliche Segregation und damit die sogenannten Probleme der ›banlieus‹« (Gegenfeuer 1998, 17),

ohne dass dieser Zusammenhang dreißig Jahre später noch gesehen wird.

2.5 Gegenwartsanalyse: Das Elend der Welt

Als Ende der 1980er Jahre in Frankreich »malaise social« ein Schlagwort wurde, in den Medienberichten über die Streikbewegungen (z. B. bei Peugeot im September 1989) oder über die Vorfälle in den Pariser banlieus,36 wurde Bourdieu von der Caisse des dépôts gefragt, ob er zu diesem Thema empirisch forschen wolle. Skeptisch gegenüber Auftragsarbeiten zu vorgegebenen sozialen Problemen, aber interessiert an dem Thema lehnte Bourdieu den vorgeschlagenen Einsatz herkömmlicher Befragungstechniken ab und wandte sich (zusammen mit mehreren Mitarbeitern37) mit einem eigenen methodischen Ansatz den Formen und Ursachen des Leidens an der Gesellschaft und in der Gesellschaft zu (vgl. Schultheis 1998, 836).

In dem daraus entstandenen Werk »Das Elend der Welt« (orig. La misère du monde 1993) kritisierte er die typisch staatlich-bürokratischen Meinungsumfragen als Forschungsinstrument scharf: Sie ähnelten eher Verhören als dass sie eine »gewaltfreie Kommunikation« anstrebten, sie drängten den Befragten Problematiken auf anstatt die Vielfalt der individuellen Situationen [76]zu erfassen; kurz: sie seien normativ gefärbt, und so bekämen die Meinungsforscher letztendlich nur das zu hören, was sie hören wollten (Elend der Welt 1993/1998, 804 ff.).

Auch die Medien erfassten Bourdieu zufolge die Sorgen und die Not der Menschen nur unzureichend, weil sie bevorzugt über spektakuläre Ereignisse und Ausnahmesituationen berichteten, die die Journalisten an die Schauplätze lockten und vom alltäglichen Leid ablenkten. Welche »Miseren« und wie sie in die Schlagzeilen gelangen, sage also ebenso viel über das journalistische Feld aus wie über die Ereignisse selbst (vgl. Volkmann 2002a, 99 ff.).

Bourdieu will zur Erfassung der »Miseren« einen anderen Weg einschlagen, will ein Gegengewicht zu den journalistischen Berichten und den Ergebnissen der Meinungsforscher, der »Doxosophen« (so viel wie: Fachleuten für Denkgrenzen), schaffen. Rückblickend charakterisiert er die Methodik dieser Studie als durch die Absicht bestimmt, den »scholastischen Epistemozentrismus« zu vermeiden:

»Wir bemühten uns hier, den Anschein zu vermeiden, als sei die Fähigkeit, die eigene Erfahrung und das eigene Handeln als Gegenstand eines Wissens zu betrachten, über das man nachdenken und sprechen kann, universell gegeben, und stellten uns die Aufgabe, Erfahrungen von Menschen, die zu den Bedingungen, unter denen die scholastische Disposition erworben wird, keinen Zugang haben, in den Bereich des Diskurses, das heißt auf einen fast theoretischen Status zu heben; und dies nicht nur, indem wir darauf achteten, nicht durch epistemozentrische Fragen, die die scholastische Disposition voraussetzen, einen scholastischen Bias einzuführen, sondern auch, indem wir die Befragten, die ihr am fernsten standen, beim Verstehen und Erforschen ihrer selbst unterstützten – eine Arbeit, diegewöhnlich der Welt der scholé vorbehalten ist.« (Meditationen 1997/2001, 77f.)

Um die Sicht der Befragten erfassen zu können, wurde das Thema im Interview nicht allgemein vorgegeben, sondern es wurde an den jeweiligen Interviewpartner bzw. an seine gesellschaftlichen Merkmale angepasst. In einem Interview mit zwei Hausmeistern einer Sozialsiedlung sind Themen das Wohnumfeld, die Schwierigkeiten insbesondere mit den jungen Mietern und die Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation durch die Rechtspartei von LePen (Elend der Welt 1993/1998, 141 ff.). Schülerinnen berichten über ihr Scheitern in der Schule und ihre Ängste beim Übergang ins Gymnasium (Elend der Welt 1993/1998, 557 ff.). Peugeot-Arbeiter sprechen über ihre Streikerfahrungen und die Veränderungen von Arbeit und Arbeitsatmosphäre (Elend der Welt 1993/1998, 375 ff.). Und einer Tochter von Kleinbauern, die nachts in einem Postsortierzentrum von Paris arbeitet, wird mitgeteilt, dass es in der Untersuchung um die Schwierigkeiten des Lebens in [77]Paris gehe – ein Thema, zu dem sie viele Erfahrungsberichte beisteuern kann (Elend der Welt 1993/1998, 341 ff.).

Oft macht diese wenig strukturierte Befragung einen zweiten Interviewtermin notwendig, um auf der Grundlage eines intensiveren Vertrauensverhältnisses die offen gebliebenen Sach- und Interpretationsfragen zu klären (z. B. Elend der Welt 1993/1998, 780, Fußn. 1). So sucht Sayad die 35-jährige Farida, die durch ihren algerischen Vater lange Zeit vom öffentlichen Leben fern gehalten wurde und die zu Beginn der Befragungssituation misstrauisch ist, dreimal zum Interview auf. Während der je zwei bis drei Stunden dauernden Gespräche verschiebt sich der Fokus von den Lern- und Schulbedingungen hin zur gesamten Lebensgeschichte, die schließlich »bis in die Details hinein mit wirklicher Zufriedenheit und lebhafter Erleichterung« (Elend der Welt 1998, 753) erzählt wird.

Allerdings ist Bourdieu mit dieser Studie nicht auf die Seite des »Subjektivismus« übergegangen. Gerade weil die persönlichen Berichte dazu verführen, die Erklärungen für das Handeln (und Scheitern) in der Person selbst, in ihrer individuellen Lebensgeschichte zu suchen,38 will die Studie hinter die Oberfläche der offenkundigen Tatbestände gelangen, um die wirklichen Ursachen des Leidens zu verstehen und zu erklären – ähnlich der Medizin, die zu jenen Krankheiten vordringen muss, über die der Kranke nicht Auskunft geben kann. Dazu muss die Forschung mit dem Alltagsverständnis brechen und den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Determinanten nachgehen – den Zwängen der Schule, des Arbeits- und Wohnungsmarktes, den Folgen des Rückzugs des Staates aus der Wohlfahrt o. Ä., also den Mechanismen, die das Leid verursachen.

Wie aber kann man die grundlegenden Strukturzusammenhänge aufdecken, die die Hoffnungen und Nöte der Menschen erklärbar machen? Wesentliche Grundlage dafür ist ein gut geführtes Interview. Dazu können sich die geschulten Interviewer ihre Interviewpartner aus dem eigenen Bekanntenkreis auswählen. Diese Bedingung geht nicht auf eine pragmatische Überlegung zurück, die den Zugang zum Feld erleichtern soll, sondern auf eine methodologische Annahme über das Interview als sozialer Beziehung: Ein solches Vorgehen gewährleistet, neben dem Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Beteiligten selbst, auch ein Vertrautsein mit dem, was und wie der Gesprächspartner erzählt, weil der Interviewer Vorinformationen über sein Gegenüber hat und weil eine soziale Nähe besteht. Für den Interviewten bewirkt diese soziale Ähnlichkeit, dass er sich sicher fühlen kann, dass der Interviewer ihn gut versteht und dass seine subjektiven Motive und [78]Gründe nicht vorschnell auf objektive Ursachen zurückführt werden. Denn der Interviewer wird »wohl kaum vergessen, daß den Befragten zu objektivieren für ihn bedeutet, auch sich selbst zu objektivieren« (Elend der Welt 1993/1998, 784). Für den Interviewer ist diese Konstellation sinnvoll, weil so die Fragen, die er stellt, seiner eigenen Disposition entspringen, die mit derjenigen des Interviewten in Einklang steht. So ist die Voraussetzung für eine entlastete und verständnisvolle Gesprächssituation geschaffen.

»Der Markt der sprachlichen und symbolischen Güter, der anläßlich des Interviews entsteht, variiert seiner Struktur nach in Abhängigkeit von der objektiven Beziehung zwischen dem Interviewer und dem Interviewten oder, was auf dasselbe hinausläuft, in Abhängigkeit von der Relation zwischen dem einem jeden von ihnen verfügbaren Kapital jeglicher, insbesondere aber sprachlicher Art.« (Elend der Welt 1993/1998, 781f.)

In einem auf Arabisch von Sayad geführten Interview mit dem algerischen Immigranten Abbas wird dieser Vorteil deutlich, als dieser von der doppelten Schande des Einwanderers spricht – nämlich sich einerseits als Nicht-Franzose in Frankreich fehl am Platze und unter ständigem Rechtfertigungsdruck zu fühlen, und andererseits zugleich das Verlassen der Heimat und die nicht verwirklichte Rückkehr als Verfehlung zu bewerten. Dabei wendet sich Abbas an den Interviewer mit den Einvernehmen heischenden Worten: »Ich weiß nicht, ob du es genauso empfindest oder ob es meine Schuld ist …« (Elend der Welt 1993/1998, 742). Dass der Interviewer wegen gleicher ethnischer Zugehörigkeit (und der damit vermuteten homologen Position im sozialen Raum) seine Situation nachempfinden kann, wird unterstellt oder zumindest erhofft.

 

Problematisch für die Erhebung ist eine auf sozialer Nähe beruhende Konstellation natürlich dann, wenn der Interviewer die Erzählungen und Berichte des Interviewten als selbstverständlich aufnimmt, weil ihm alles bekannt und natürlich vorkommt, wenn er also nicht neugierig-interessiert nachfragt oder ihm gar das Nachfragen unbehaglich ist (von solchen Gefühlen berichten einige Interviewer).

Die soziale Nähe von Interviewer und Befragtem ist nicht der einzige Weg, um eine »gewaltfreie Kommunikation« zu verwirklichen. Auch das Bemühen zu verstehen, zuzuhören statt anzuklagen und den anderen in seiner Position zu respektieren, kann bei einem geübten Interviewer ausreichen. So ist in einem Interview Bourdieus die Asymmetrie des kulturellen Kapitals zwischen ihm und den beiden von ihm Befragten überdeutlich: Ali, ein ca. 20-jähriger Beur, wie sich »die in Frankreich geborenen und als Franzosen aufgewachsenen Nachkommen von Einwanderern aus dem Maghreb« (Elend der Welt 1993/1998, 84 f.) nennen, und François, ein junger Franzose, der [79]seinen Berufsabschluss verfehlt hat, die beide »in einem der verrufensten Gebäude einer verrufenen Siedlung« (Elend der Welt 1993/1998, 88) von Plattenbauten im Norden Frankreichs wohnen. Beide sind zuerst misstrauisch, scheinen Angst zu haben, »der Sache nicht gewachsen zu sein« (Elend der Welt 1993/1998, 88). Doch Bourdieu gelingt es, ihnen im Laufe des Gesprächs das Gefühl zu vermitteln, dass er ihre Erzählungen zu verstehen sucht und ihre Informationen nicht missbrauchen wird. Nachdem er seine Absichten erklärt und sich damit von Personengruppen wie Polizisten und Richtern abgegrenzt hat, mit denen die jungen Männer negative Assoziationen verbinden, bewirkt bereits die für die beiden ungewohnte Nachfrage, ob er sie duzen dürfe – mit Verweis auf seine Söhne, die ähnlich alt seien wie sie – einen angemessenen Einstieg ins Interview.

Im Laufe des Gesprächs und bei der anschließenden Analyse sollte der Forscher versuchen, sich so weit in die Position des Gegenübers hineinzuversetzen, dass er schließlich von diesem Punkt aus auch Partei für den anderen ergreifen könnte (Elend der Welt 1993/1998, 786). So bezeichnet Bourdieu die von den beiden jungen Männern berichteten Diebstähle vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte und -bedingungen – gekennzeichnet durch fehlende Ausgehmöglichkeiten, durch ein gegenseitiges Sich-Anöden, durch das Handicap fehlender Bildungsabschlüsse, durch Stigmatisierung aufgrund der schlechten Wohngegend, durch fehlende Zukunftsaussichten, zugespitzt noch durch die ethnische Zugehörigkeit von Ali, dem der Zutritt zur nahe gelegenen Disco versagt wird – als »schon verständlich«, »wenn es sonst nichts zu tun gibt« (Elend der Welt 1993/1998, 96). Verstehen bedeutet aber nicht gutheißen. So meint Bourdieu zu den Geschehnissen des Vorabends, an dem ein Mann Tränengas gegen Ali und François eingesetzt hatte, weil sie sich mit ihren Freunden im Eingangsbereich seines Wohnhauses lautstark unterhalten hatten:

»Na ja, er muß schließlich pennen, oder? Deswegen gleich Tränengas zu versprühen ist natürlich hart, aber schließlich, wenn ihr ihn die ganze Nacht belästigt habt, dann versteht man das schon irgendwie, oder nicht?« (Elend der Welt 1993/1998, 94).

Sie »einigen« sich darauf, dass er sie freundlich zum Weggehen hätte auffordern können.

Eine solche Haltung des Interviewers führt dazu, dass sich die beiden jungen Männer verstanden fühlen, dass sie

»eines ihrer wahren Gesichter offenbaren – zweifellos dasjenige, das normalerweise unter dem Einfluss der Gruppenzensur (mit dem, was sie ›Angeberei‹ nennen) und der kollektiven Zwänge, die aus dem Übermaß an Gewalt hervorgehen, [80]am besten verborgen wird« (Elend der Welt 1993/1998, 91; kritisch zu diesem Interview: Rehbein 2006, 100f.).

Abgesehen von der aufmerksamen Haltung und der »hingebungsvollen Offenheit« (Elend der Welt 1993/1998, 787) gegenüber dem Gesprächspartner ist der Interviewablauf so offen konzipiert, dass das Aufdrängen einer Problematik weitgehend vermieden wird. Es gibt keine feststehende Einstiegsfrage. Ein Bild der Tochter auf der Anrichte kann Anlass bieten, sich vorsichtig über ihre Schullaufbahn und ihre Berufswünsche zu erkundigen (»Weiß sie denn ungefähr, was sie machen will? Oder nicht so recht?«), um einen Einblick in das Leben einer Arbeiterfamilie zu erhalten (Elend der Welt 1993/1998, 31). Der gewerkschaftliche Aktivist Hamid dagegen, der zuvor von einem Kollegen erfahren hatte, dass sich dieser »Soziologe oder Journalist« für die Arbeit bei Peugeot, für die Arbeit als Delegierter und die Arbeitsatmosphäre interessiert, wird vom Interviewer aufgefordert:

»Am besten wäre es, wenn Sie einfach so nach Lust und Laune erzählen und ich nachher Fragen stelle« (Elend der Welt 1993/1998, 380).

Nachfragen werden meist direkt gestellt, damit der Sinn der Erzählung verfolgt werden kann (»Ich hab’ nicht verstanden. Um wen geht es?«; Elend der Welt 1993/1998, 47) und eine wirkliche Verständigung möglich wird. Auch die Form, in der Fragen gestellt werden, passt sich dem Gesprächsverlauf und dem Interviewten an. So wird die Frage an Madame und Monsieur Leblond, beide um die 40 Jahre alt, nach der Höhe ihrer Miete (»Wieviel bezahlen Sie dafür? Oder ist die Frage indiskret?«) vorsichtig formuliert (Elend der Welt 1993/1998, 35), die Nachfragen an den mit »rauhem Ton« redenden François bezüglich der »Dummheiten«, die er begangen hat, sind dagegen drängender (»Na los, na los«, »Du sagst nicht alles, hm?«; Elend der Welt 1993/1998, 97 und 99).

Diese Interviewführung verlangt vom Interviewer viel, denn er muss ständig die Interviewsituation reflektieren. Dem Interviewten bietet er damit nicht nur Raum für seine Erzählungen, sondern er greift auch unterstützend ein; in einer Art »sokratischer Arbeit« hilft er dem Befragten dabei, sich zum Ausdruck zu bringen, indem er Vorschläge oder Annahmen formuliert, die dem Interviewten weiterhelfen und Anschlussmöglichkeiten bieten können (Elend der Welt 1993/1998, 792, Fußn. 7).

Weil die Akteure oft nicht selbst den Zugang zur Quelle ihres Unbehagens finden, ist es Aufgabe des Interviewers, Hilfestellung zu leisten. Um eine Selbstanalyse beim Interviewten zu provozieren und um, damit einhergehend, die subjektiven Handlungsformen zu verstehen, muss der Interviewer die Lebensumstände, die Laufbahn des Befragten, die objektiven Strukturen [81]und den Möglichkeitsspielraum der Akteure vor sich sehen. Wenn der Interviewer die Position des Interviewten im Sozialraum verorten kann und die gesellschaftlichen Mechanismen erfasst, die entweder alle Mitglieder seiner Kategorie betreffen oder aus seiner persönlichen Laufbahn entspringen, kann er schon im Interview den Sinn der Erzählung verstehen und dementsprechend sinnvolle Fragen auswählen. Denn es geht darum,

»ein generelles und genetisches Verständnis der Existenz des anderen anzustreben, das auf der praktischen und theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen basiert, deren Produkt er ist …« (Elend der Welt 1993/1998, 786)

So ist es wichtig, um die Erfahrungen und den Habitus eines Arbeiters bei Peugeot verstehen zu können, die Rekrutierungsmechanismen der »alten« Arbeiter im Gegensatz zu den »neuen« zu kennen, das Leiharbeitersystem, den Rückgang des gewerkschaftlichen Einflusses und die betrieblichen Individualisierungspraktiken (z. B. die Prämienvergabe, die in Form von Einzelprämien zu einer Konkurrenz unter den Arbeitern führt und viele dazu veranlasst, ihren Lohnzettel nicht mehr vor den anderen zu öffnen). Gérard: »Das ist die bis zum Äußersten getriebene Vereinzelung, jeder für sich.« (Elend der Welt 1993/1998, 335) Dem Interviewer Pialoux sind diese Strukturen nach jahrelanger Forschung über die Arbeit bei Peugeot bekannt; er ist deshalb dafür prädestiniert, bei den Interviewten in diesem Feld eine Selbstanalyse zu provozieren. Auch die anderen Mitarbeiter der Studie forschen vorzugsweise in ihnen vertrauten Bereichen.

In dem über 800 Seiten umfassenden Buch ist eine Auswahl aus den 182 Interviews in Auszügen abgedruckt. Die Transkription pendelt zwischen den Ansprüchen, nahe am Gesprochenen zu bleiben und zugleich eine gute Lesbarkeit zu gewährleisten. Die Phonetik blieb im Transkript zugunsten des zweiten Aspekts unberücksichtigt; Wörter und Sequenzen wurden zwar nicht geändert, doch ist der Text, vor allem aus Respekt vor den Erzählenden, teilweise von »ähms« und konfusen Sätzen bereinigt worden.

Bei der Interpretation will die Gruppe um Bourdieu herausarbeiten, wie die Informanten zu ihrer spezifischen Perspektive auf die soziale Welt gekommen sind und welche strukturellen Bedingungen dazu geführt haben (vgl. Barlösius 1999, 17). Dabei wird jedoch die Perspektive des Informanten keineswegs mit einer verallgemeinert-soziologischen konfrontiert. Denn das würde seinen besonderen Blickwinkel entwerten und als Anspruch des Soziologen erscheinen, die richtige und legitime Perspektive zu kennen. Die Aufgabe des Soziologen besteht einzig darin, die spezifische Perspektive des Informanten zu ergänzen und zu erweitern durch jene sozialstrukturellen Bedingungen, die in dieser nicht erkennbar sind.

[82]Im Interesse der Interviewten – und im Sinne des Erkenntnisinteresses – stellen sich Bourdieu und seine Mitarbeiter bei der Darstellung der Ergebnisse die Frage, wie sie die Leser der Interviews dazu bewegen können, die Anweisung Spinozas zu befolgen:

»›Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen‹« (Elend der Welt 1993/1998, 13).

Verstehen heißt hier, dass der Leser die Geschichte aus der Position des Interviewten heraus nachvollziehen kann und erkennt, dass die persönlichen Erfahrungen »das Produkt des Eingeschriebenseins bestimmter gesellschaftlicher Erfahrungen in eine gesellschaftliche Ordnung« sind (Elend der Welt 1993/1998, 461). Damit die Interviewauszüge nicht nur als einzigartige Zeugnisse, sondern als Symptome gelesen werden können, damit also die immanenten Strukturen sichtbar werden, muss auch der Leser ein wenig mit soziologischem Rüstzeug ausgestattet werden. Das soll durch mehrere Punkte erreicht werden:

1. Jedem Interviewauszug ist eine analytische Einleitung vorangestellt, die neben Informationen zur Kontaktaufnahme solche zum soziokulturellen Kontext, zur Laufbahn des Befragten, zur Ausbildung oder zur Körpersprache, zum Tonfall des Interviews39 etc. mitteilt. Die Kenntnis der wesentlichen sozialen Merkmale des Akteurs, seiner Position im Sozialraum und der Laufbahn, die ihn dort hingeführt hat, lassen dem Leser die Sicht des Akteurs auf die Welt und seinen Habitus deutlich werden. So erhält man für die Leblonds nach der Charakterisierung ihres Wohnumfeldes (»Wüste«) und einer Erläuterung der mit dem Schwinden der Fabriken einsetzenden kollektiven wirtschaftlichen Katastrophe eine dichte Beschreibung ihrer Wohnung:

»Diese heimelige, kleine, nach außen abgeschirmte Welt genügt sich vollkommen selbst: mit der liebevoll gewienerten Anrichte, die mit Fotografien der Töchter und dem von Nippes umstellten Abschlußzeugnis der älteren Tochter geschmückt ist, dem ebenfalls mit Fotografien und Nippes dekorierten Bücherregal, das drei Reihen populärwissenschaftlicher Werke enthält, dem Sofa mit den in lebhaften Farben bestickten Kissen gegenüber dem Fernseher, den üppigen Pflanzen und dem winzigen, mit allem versorgten [83]Hund ist das Ebenbild von Monsieur und Madame Leblond, ihrer freundlichen, lächelnden und arglosen Mienen, die dennoch Zeichen von Beunruhigung, um nicht zu sagen Furcht aufweisen, wenn mit verdeckten Worten bestimmte Probleme der Nachbarschaft angesprochen werden« (Elend der Welt 1993/1998, 22f.).

Ein solcher Zugang erfordert Feingefühl, denn:

»Auf welche Weise soll man die Frisur einer kleinen Angestellten thematisieren, ohne einen Rassismus der Klassen anzuheizen, wie soll man den Eindruck vermitteln, den diese Frisur für das durch den Kanon der legitimen Ästhetik geschulte Auge erweckt, ohne diesen Eindruck zu bestätigen – ein Eindruck, der doch gleichzeitig Teil ihrer unausweichlich objektiven Wahrheit ist?« (Elend der Welt 1993/1998, 800)

 

Während solche Beschreibungen kaum mit theoretischen Begriffen operieren, gibt es auch Kapitel, die einige Aspekte auf eine abstraktere Ebene heben. So thematisiert das Kapitel »Ortseffekte« die Strukturhomologie von Sozialraum und physischem Raum (Elend der Welt 1993/1998, 159 ff.): Hat man wenig Kapital, ist einem die Möglichkeit verwehrt, sich von unerwünschten Personen fern zu halten. Das belegen all die Geschichten über die störenden, lärmenden Nachbarn in den Plattensiedlungen. »Der Mangel an Kapital … kettet an einen Ort.« (Elend der Welt 1993/1998, 164) Während das noble Wohnviertel seine Bewohner »symbolisch weiht«,

»degradiert das stigmatisierte Viertel symbolisch jeden einzelnen seiner Bewohner, der das Viertel degradiert, denn er erfüllt die von den verschiedenen gesellschaftlichen Spielen geforderten Voraussetzungen ja nicht.« (Elend der Welt 1993/1998, 166)

Auf einem solchen theoretischen Hintergrund lassen sich die Interviews aus einer soziologischen Perspektive lesen, etwa die Erfahrungen von Ali:


»Ali:Ein übler Ruf Das ist schon ein komisches Gefühl, wenn man, sagen wir, mit Mädchen redet, die in einer besseren Siedlung wohnen, dieWenn Sie denen sagen: Ich wohne in ›La Roseria‹
I:Dann sind sie Dir gegenüber gleich mißtrauisch, oder was.
Ali:Nein, sie gehen weg. Das ist schon blöd. Man muß sie vollquatschen.« (Elend der Welt 1993/1998, 107)

Ein Entkommen aus der Stigmatisierung ist nur schwer möglich.

Die Bewertungen von Wohngegenden dürfen aber nicht als einfach gegeben angesehen werden. Vielmehr sind

[84]»die Orte und Plätze des verdinglichten Sozialraums und die von ihnen vermittelten Profiteselbst Gegenstand von Kämpfen (innerhalb der verschiedenen Felder)« (Elend der Welt 1993/1998, 163).

Dabei spielt der Staat durch seine Steuergesetzgebung und durch die Wohneigentumsförderung, die die »Konstituierung homogener Gruppen auf räumlicher Basis gefördert« haben, eine wesentliche Rolle. Die Wohnungsbaupolitik wird so als Hauptverantwortlicher für die verfallenden Wohnsiedlungen und die vom Staat aufgegebenen banlieus sichtbar (Elend der Welt 1993/1998, 167).

Neben der sozialen Verortung der befragten Person durch einen dem Interviewauszug vorgeschalteten fallspezifisch-analytischen Teil werden an verschiedenen Stellen, ähnlich wie beim Ortseffekt, makrostrukturelle Zusammenhänge und theoretische Überlegungen eingefügt, zum Schulsystem, zur Abdankung des Staates, zu den Folgen der neoliberalen Sichtweise. Ein weiteres Kapitel reflektiert die »Widersprüche des väterlichen Erbes«: Das Erbe soll die Perpetuierung der väterlichen Position gewährleisten, was teilweise ein Übertrumpfen des Vaters erforderlich macht. Damit sei eine »gelungene Erbschaft … ein auf Befehl des Vaters hin vollzogener Vatermord« (Elend der Welt 1993/1998, 652). Wie sehr eine Ablehnung des väterlichen Erbes einer Negierung von dessen Position und dessen Lebenssinn gleichkommt, wird hier theoretisch ausgeführt und anhand einiger Interviewpassagen (z. B. von Landwirten) aufgewiesen.

So werden die analytischen Einleitungen, die den Interviewauszügen vorangehen, und die allgemeinen Erörterungen von gesellschaftlichen Bedingungen und Mechanismen zu Mitteln einer soziologischen Objektivierung und insofern auch zu Mitteln einer verstehenden Lektüre; die persönliche Erzählung wird in ihrer sozialen Bedingtheit evident.

2. Ein weiterer Kniff, um ein nur empathisches Lesen der Interviews zu vermeiden, steckt im Aufbau der Studie. Dem Interview mit Ali und François folgt die Geschichte einer für die Belange des Wohnviertels engagierten Frau, die in einer Hochhaussiedlung ein Sportgeschäft eröffnet hatte, das nach kurzer Zeit geplündert wurde und ausbrannte. Dieses Ereignis unterbrach nicht nur ihren geplanten sozialen Aufstieg, sondern tangierte auch ihre Überzeugungen schmerzhaft (Elend der Welt 1993/1998, 121 ff.). An das Interview mit einer Polizistin, die die Ineffizienz der Polizei unerträglich findet, deren Gründe sie – neben fehlenden finanziellen Mitteln, träger Bürokratie und starren Hierarchien – in der Gleichgültigkeit der Gerichte gegenüber der Polizeiarbeit sieht (Elend der Welt 1993/1998, 265 ff.), schließt das Gespräch mit einem Untersuchungsrichter an (Elend der Welt 1993/1998, 283 ff.). Auf Interviews mit Schülern [85]folgt das Gespräch mit einer Lehrerin, auf die Schilderungen der Leblonds über den Lärm auf den Straßen während des Ramadan folgen die Erfahrungen einer algerischen Familie am Stadtrand von Paris, die sich von ihren Nachbarn diskriminiert fühlt.

Durch ihre Aneinanderreihung von Personen in homologen bzw. komplementären Positionen sprechen die Texte miteinander und zeigen in der Gegenüberstellung, wie die objektiven Strukturen positionsspezifisch wirken. Das Elend wird in dem relationalen Kosmos zu einem positionsspezifischen. Das heißt nicht, dass damit das Leid der Einzelnen relativiert wird, dass also das Unbehagen des Untersuchungsrichters durch die Geschichte einer durch Hauskauf verschuldeten Frau verkleinert werden soll. Im Gegenteil sollen seine Position und die damit verbundenen Widersprüche und Enttäuschungen, insbesondere sein Abstieg im sozialen Raum sichtbar gemacht werden, die seine eingeschränkte Handlungsfähigkeit erklären können.

Deutlich wird immer wieder, wie stark sich die Ordnung des sozialen Raumes im physischen Raum niederschlägt.

»Tatsächlich steht einem nichts ferner und ist nichts weniger tolerierbar als Menschen, die sozial fern stehen, aber mit denen man in räumlichen Kontakt kommt.« (Raum 1991, 32)

So fühlt sich die algerische Familie auch deshalb deplatziert, weil sie nicht über das kulturelle Kapital, nicht über den Lebensstil (Lärm, Küchengeruch etc.) verfügt, den die Nachbarn von ihr erwarten.

Die Pluralität der Weltzugänge und Perspektiven zeigt, dass die malaise social mit den gängigen eindimensionalen Bildern nicht zu erfassen ist.40 Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Kniff, dass verschiedene Varianten aufgezeigt werden. Beispielsweise kommen drei Schülerinnen zu Wort, die mit dem Wechsel aufs Gymnasium erstmals das Gefühl eines schulischen Versagens erfahren, sich auf gering geschätzte Abiturzweige abgeschoben sehen und diese schmerzhafte Erfahrung in einer wenig solidarischen Schulumgebung erleben. Angesichts ihrer ähnlichen Erfahrungen (alle drei sind Mitglieder der kommunistischen Jugend) wird die Aufmerksamkeit auf die Auswirkungen der unterschiedlichen (schulischen) Herkunft gelenkt. Nimmt man dabei noch die Erzählungen über die Schulen in den banlieus in den Blick, wird deutlich, wie heterogen die Kategorie der »schulischen Malaise« ist.

[86]3. Eine Hilfe erhält der Leser beim Gang durch dieses Mammutwerk auch durch die Titel und Untertitel; sie unterteilen die Interviewtexte und lenken die Aufmerksamkeit. Jeder einzelne Fall lockt dazu, auch das jeweils folgende Interview zu lesen, um eine weitere Perspektive kennen zu lernen. So baut sich das Mosaik allmählich auf in seiner ganzen Komplexität. Dennoch hat man am Ende den Eindruck, das Buch könnte noch mehr Geschichten enthalten, könnte noch umfangreicher sein, nachdem man allmählich eine Vorstellung von den wirksamen Mechanismen und den objektiven Strukturen entwickelt hat.

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