Kitabı oxu: «Das Erbe der Macht - Band 32: Sigilschwingen», səhifə 2

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3. Nur der Tod öffnet den Weg


Die andere Seite

Er brach in die Knie. Blut rann aus seinen Augen, sein anklagender Blick traf Annora. Ringsum begannen die Steinwände zu diffundierten, wurden zu grauem Nebel.

»Einzig der Tod ebnet den Weg«, sagte Alfie Kent mit seinem letzten Atemzug.

Annora fuhr in die Höhe. Ihr Atem ging stoßweise. Vor dem Fenster graute der Morgen. Immerhin, in dieser Nacht war es nicht das rötliche Glühen des Immortalis-Kerkers, das sie verfolgt hatte. Auch nicht die grauenvollen Zwillinge.

»Es war mehr«, realisierte sie. »Ein Echo.«

Eines, das sie schon einmal gespürt hatte. In der Weißen Krypta, als sie zur Ritterin geweiht worden war.

Sie sprang aus dem Bett und schlüpfte in ihre Kleidung. Ihr erster Schritt führte wie jeden Morgen in die Küche der Zuflucht, wo die gute Seele Tilda ihr bereits einen Kaffee zubereitet hatte. Frisch gemahlen, mit geschäumter Milch obenauf, dazu eine Prise Zimt.

»Ich danke dir.«

Tilda winkte ab. »Solange ihr mir nur Kyra, Max, Titik, Kevin, Jen und Alex findet.«

»Keine Sorge, wir bringen sie zurück.« Annora nippte an ihrem Kaffee.

Die Tasse in der Hand eilte sie zu einem der Studierzimmer. Hier hatte Grace wie immer Bücher vor sich liegen und recherchierte.

»Guten Morgen«, grüßte sie. »Ich habe zwischenzeitlich mit Albert und H. G. Wells gesprochen. Albert trägt alles zusammen, was er über die Erschaffung des Walls findet. Und H. G. möchte sogar dorthin reisen, um sich das Drama genauer anzusehen. Allerdings könnte er unseren Freunden wohl nicht helfen, da sie mittlerweile Teil der Geschichte sind. Und er könnte damit auch nichts ändern, weil die Zeit sich selbst schützt.«

Annora nahm einen weiteren Schluck ihres Kaffees. »Kann ich deine Aufmerksamkeit einen Augenblick beanspruchen?«

Grace musste ihren Tonfall richtig gedeutet haben, denn sie sah von dem Buch auf, in dem sie gerade etwas nachgeschlagen hatte. Wie immer, wenn sie recherchierte, wirkte sie sogar nach einer Nacht ohne Schlaf fit und tatkräftig. Sie ging auf in ihrer Leidenschaft, was aus sich selbst heraus Energie generierte. Ihr Haar fiel ihr in Wellen auf die Schultern, seit einigen Tagen hatte sie sich Pulli, Hose und Schuhe im 1990er-Style besorgt. Der grau-bunte Pullover, die Jeans, die am Knöchel endete, und die Turnschuhe verliehen ihr die Ausstrahlung einer 90er-Ikone.

Annora berichtete von ihrem Albtraum.

Grace verschränkte die Arme auf dem Rücken und überdachte ihre Worte. »Wie wir wissen, verhält sich die Magie bei Rittern nach ihrer Ernennung unterschiedlich. Der Hinweis auf den nächsten Essenzstab kommt zeitverzögert und different. Die Seher und Essenzstabmacher haben das alles nach einem ganz bestimmten Takt aufgebaut.«

»Du gehst also davon aus, dass es der nächste Hinweis sein könnte?«

»Tust du es?«

Annora nickte. »Es war auf beklemmende Weise real.«

»Dann ist meine Vermutung, dass Alfie Kent irgendwie der Schlüssel zum nächsten Essenzstab ist, diese Suche für ihn aber überaus gefährlich werden könnte.«

»Wie für uns alle«, entgegnete Annora. »Aber sie ist von elementarer Bedeutung.«

»Davon gehen wir zumindest aus.« Grace kehrte zurück zu ihrem Buch. »Letztlich wissen wir nicht, weshalb die Seher überhaupt dachten, dass ein König notwendig ist. Aber lassen wir das einstweilen aus. Selbst wenn Alfie und du dazu bestimmt wären, den Stab zu suchen – dein Traum hat nicht wirklich einen Hinweis darauf erbracht, wo der nächste Essenzstab der Macht zu finden ist.«

Annora nutzte die einsetzende Stille, um Grace‘ Worte zu überdenken. Sie benötigten die Essenzstäbe schon allein deshalb, weil die Magier der Zuflucht bisher keine weiteren besaßen. Merlin hatte alle zerstört. Max’ Stab hatte bewiesen, wozu diese mächtigen Artefakte fähig waren.

Gleichzeitig durften sie all die anderen Dinge nicht außer Acht lassen. Max versuchte, das Agentenprogramm zu reaktivieren. Anne Bonny baute weiter an der Schiffsflotte, die im Hafen von Talanis beständig wuchs. Einstein und H. G. kümmerten sich um die Verschollenen, und Kleopatra braute einen neuen magischen Trank nach dem anderen. Wesley hatte ihr erste Besuche abgestattet, da er bei ihr von einem Trauma durch die Gefangenschaft im Immortalis-Kerker ausging.

Tomoe untersuchte zum einen zusammen mit den Heilmagiern Moriarty, zum anderen überprüften sie nach der Entdeckung, dass Alex’ Mutter von Merlin mit dem Pakt des falschen Glücks auf seine Seite gezogen wurde, die übrigen Familienangehörigen der Widerständler. Nikki half dabei, indem sie ihre Magie als Sprungmagierin zur Verfügung stellte.

»Was sollte ich also …?«

Ein Klopfen an der Tür erklang. Kurz darauf stürmte ein rotwangiger Alfie Kent herein. »Grace, ich … Oh, hallo Annora.

»Guten Morgen. Kommst du vom Sport?«

Die Röte auf Alfies Wangen nahm zu. »Also … hm … irgendwie kann man das wohl so sagen. Ich musste meine Bernsteinkörner aufladen.«

Mittlerweile war es ein offenes Geheimnis, dass Alfie Essenz von anderen Magiern abziehen konnte, um die Bernsteinkörner in seinem Blut aufzuladen. Hier musste der jeweilige andere Magier allerdings in einem Zustand sein, in dem die Aura nicht im Schutz- oder Verteidigungsmodus war.

Da kam es ihm zugute, dass er in einer Beziehung mit Jason und Madison lebte. Die roten Wangen deuteten also darauf hin, dass er gerade Sex gehabt hatte und nun bis obenhin voll war mit Endorphinen und frischer Essenz.

Darüber hinaus hatte Grace das Trio in mehreren Situationen beobachtet und in ihrer typischen Sherlock-Holmes-Art festgestellt, dass sie alle drei ein Tattoo besaßen, das ihre Geister miteinander verband. Es gab also offensichtlich keine Geheimnisse zwischen ihnen. Darauf angesprochen hatten die drei jedoch nur herumgedruckst. Sie wollten oder konnten nichts dazu sagen.

Sprachen sie hier nur mit Alfie oder auch mit Madison und Jason?

»Und du bist hier, um uns das mitzuteilen?«, fragte Grace mit einem Funkeln in den Augen.

»Haha«, erwiderte Alfie. »Tatsächlich geht es um etwas anderes. Artus hat doch vor einiger Zeit nach den Depots von Agnus Blanc gesucht, damit wir an die Artefakte herankommen, die er konstruiert hat. Es war ja fast alles leer, aber uns ist eine andere Idee gekommen.«

Womit er die vollständige Aufmerksamkeit von Grace und Annora genoss.

»Dein Bruder macht kurz vor seinen Enthüllungen auch immer eine Pause. Um die Spannung zu steigern.« Annora schürzte die Lippen. »Ich hasse es.«

»Ihr seid heute ja total lustig.« Alfie grinste frech. »Obwohl das hier tatsächlich Absicht war. Also, Madison erinnerte sich daran, dass es da ja noch ein Archiv gibt, in dem alle möglichen vergessenen Zauber, Mentigloben und so weiter aufbewahrt werden.«

»Wehe, du machst eine Pause«, warf Annora schnell ein.

»Die endlosen Tiefen«, sagte Alfie flink.

Die Worte hingen in der Luft.

Es gab nur wenig, was über das Archiv der ehemaligen Schattenkrieger bekannt war. An einem geheimen Ort existierte es, jedoch unzugänglich. Zumindest war es das für die Lichtkämpfer gewesen. Doch die beiden Fraktionen gab es nicht länger.

»Aber wir kämen überhaupt nicht hinein«, merkte Annora an. »Wo der Eingang zu finden ist, weiß ebenfalls niemand.«

»Da haben wir vielleicht eine Idee.« Alfie verschränkte die Arme.

Und schwieg natürlich, mit einem Grinsen auf den Lippen.

Baby Kent, der Spitzname, den Madison benutzte, traf es bei ihm wirklich ziemlich genau.

4. Moriartys Zugang


Das ist auf absurde Weise lächerlich«, stellte Annora fest.

Gemeinsam mit Alfie, Madison und Jason war es ihnen tatsächlich gelungen. Da Moriarty noch immer im Koma lag, hatten sie ihm problemlos eine Blutprobe entnehmen können. Gekoppelt mit einem Suchzauber, der mit einem der wenigen Pergamente verwoben wurde, die aus den endlosen Tiefen stammten, verrichtete er sein Werk. Dass es dieses überhaupt noch gab, verdankten sie Moriartys Paranoia. Er hatte die wichtigsten seiner Aufzeichnungen nämlich auch gegen Feuer imprägniert, wodurch eine Handvoll den Absturz der East End überstanden hatte.

»Das ist wirklich ein wenig theatralisch«, kommentierte Madison. »Selbst für Moriarty.«

Annora hatte längst realisiert, dass die junge Magierin aus Amerika mittlerweile nicht mehr viel von ihrem ehemaligen Oberen hielt. Sie ließ ihre Finger knacken.

»Eine Kirche«, vollendete Jason.

Sie standen in Schottland vor einem Gotteshaus. Die Szene wirkte, wie einem Historienfilm entsprungen. Gewölbte Bögen und Buntglasfenster, Erker und ein Dach, von dem sich die eine oder andere Schindel bereits gelöst hatte.

Da der Wind inzwischen Nieselregen mit sich brachte, machte Annora eine auffordernde Handbewegung. »Folgen wir der magischen Spur.«

In der Luft schimmerte eine Essenzlinie, die jedoch kurz vor dem Verblassen stand.

Zu dieser Tageszeit war das Kirchenportal nicht verschlossen, sie konnten problemlos eintreten. Die Scharniere quietschten. Ein überlautes Geräusch in dem sonst stillen Gotteshaus. Ein paar aufgestellte Kerzen flackerten.

»So was schaue ich mir am liebsten von einer gemütlichen Couch aus an«, kommentierte Jason.

»Das letzte Mal hast du mir ins Ohr gebrüllt, als wir etwas Gruseliges geschaut haben.« Alfie rieb sich instinktiv das Ohr.

»Alter, das waren steinerne Engel, die auf einem Friedhof standen«, sagte Jason. »Und jedes Mal, wenn dieser Arzt die Augen geschlossen und dann wieder hingesehen hat, kamen sie näher.«

»Doctor«, erklärte Alfie mit Nachdruck. »Das habe ich dir jetzt schon tausend Mal gesagt. Er ist der Doctor.«

»Und er telefoniert gerne«, neckte Madison. »Weil Telefonzelle und so.«

»Das ist keine …« Alfie ballte die Hände und stapfte grummelnd in die Kirche.

Hinter seinem Rücken gaben sich Madison und Jason ein High Five.

»Funktioniert immer wieder«, sagte sie leise.

»Aber dafür werden wir beim nächsten Mal auf der Couch bitter bezahlen müssen«, ergänzte Jason.

Annora schmunzelte. Die drei zu beobachten, die Nähe und Vertrautheit, mit der sie zueinanderstanden, ließ sie hoffen. Auf eine Zukunft der Versöhnung.

»Die Spur endet hinter dem Altar!«, rief Alfie mit donnernder Stimme.

»Zurücktreten«, bat Annora.

Sie zeichnete mit ihrem Essenzstab das notwendige Symbol in die Luft und rezitierte: »Revelio Porta.«

Das typische Essenzecho, an das sie sich nach ihrer Rückkehr aus dem Immortalis-Kerker erst gewöhnen musste, manifestierte sich. In der Luft lag der Geruch von Wintertee. Das Gefühl von Beständigkeit vermischte sich mit dem Geräusch von Eichenholz, das jemand polierte.

Der Altar zerbrach und gab den Blick auf ein Weihwasserbecken frei.

»Wenn das jedes Mal auf diese Art funktioniert, ist es ein ziemlicher Verschleiß«, sagte Madison. »Oder müssen wir das wieder reparieren, sobald wir zurückkehren?«

»Sie hat den Stab.« Jason deutete auf Annora. »Ist doch ein Klacks.«

Alfie schüttelte den Kopf. »Spürt ihr es nicht? Dieser Nachhall.«

»Essenzecho genannt, Baby Kent.«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Da ist etwas anderes.«

»Alfie hat recht«, bestätigte Annora. »Da ist eine Präsenz, die in der Magie gebündelt war. Der Zauber ist bereits fort, doch der Nachhall deutet auf ein Siegel hin. Wir konnten es leicht zerstören, weil es schon länger nicht erneuert wurde. Andernfalls hätte es uns einiges an Mühe gekostet. Ohne Essenzstab wäre es selbst jetzt noch unmöglich gewesen.«

»Bedeutet es, dass jemand Moriarty aussperren wollte?«, fragte Madison.

Alfie ballte die Hand um seinen eigenen Essenzstab fester. Er hatte längst begriffen, dass hier Gefahr drohte. Annora betrachtete das Artefakt in seinen Händen. Es war natürlich kein echter Essenzstab. lediglich eine von Agnus Blanc geschaffene Krücke, mit der auch ein Nimag Magie wirken konnte.

Jason trat an das Weihwasserbecken. »Das ist kein Weihwasser.« Er tauchte seine Finger in das schwarze Pulver und zerrieb es. »Asche.«

»Ich sollte besser allein …«, begann Annora.

»Kommt nicht infrage«, stoppte Alfie sie sofort.

Natürlich hatte sie ihm von dem Traum erzählt. Ihre Idee dahinter war gewesen, dass er keinesfalls kopfüber in das Abenteuer springen sollte. Bedauerlicherweise interpretierte der Bruder von Alexander Kent die Sache ein wenig anders. Schließlich könnte man den Essenzstab der Macht ganz eindeutig nur mit ihm gemeinsam erbeuten. Deshalb müsse er quasi mit.

Waren Kevin und Chris auch so schlimm gewesen, als sie noch Teenager waren? Sie gab sich selbst die Antwort. Schlimmer.

»Ich habe ja nicht viel für Religion übrig«, kommentierte Jason. »Meine Eltern waren da anders.« Ein Schatten zog über sein Gesicht.

Madison legte ihm die Hand auf die Schulter.

Annora konnte sich denken, dass die Jugend von Jason nicht die beste gewesen war. In einer konservativen Familie aufzuwachsen, die alles außerhalb des religiösen Korsetts ablehnte, konnte einen Menschen zerstören.

Alfie trat ebenfalls hinzu. Er und Madison küssten Jason nacheinander sanft auf die Lippen, darüber hinaus fiel kein Wort.

»Also, ich erkläre dir, wie es normalerweise geht.« Alfie ging zum Weihwasserbecken, tauchte die Finger hinein und machte dann drei Kreuze. Eines auf seiner Stirn, eines auf dem Kinn und eines auf der Brust. Was natürlich entsprechende Aschekreuze hinterließ. »Wobei das ja nicht bei allen gleich ist.«

Wie Nebel, der vom Wind vertrieben wurde, verschwand Alfie. Einfach so.

»Der Eingang!«, schaltete Madison sofort.

Bevor Annora reagieren konnte, hatten sie und Jason ihre Finger in die Asche getaucht und machten es Alfie nach. Auch sie verschwanden.

»Wunderbar. So viel zu wohl überlegtem Vorgehen.« Annora fluchte lauthals, was sich als Echo wirklich unangenehm anhörte.

Sie tauchte ihre Finger in die Asche und machte die drei Kreuze ebenfalls.

Die Umgebung verwischte.

Annora fand sich direkt neben Alfie, Jason und Madison wieder. Beide starrten auf die Regalbretter und Tische, die überall um sie herum zu finden waren.

»Okay«, sagte Alfie. »Das hätte ich jetzt nicht erwartet.«

Dem konnte Annora nur beipflichten.

5. Das temporale Interdikt


Die andere Seite

Zeitreisen«, echote Professor Steiner.

Jen nickte nachdrücklich, Alex ließ sich nichts anmerken, ganz in seiner Rolle als Abgesandter des Instituts. Solange der Prof Angst vor ihm hatte, würde er ihn nicht nach dem Sigillum fragen – eine Art von unfälschbarem Ausweis, den die Vertreter dieser unsichtbaren Macht wohl mit sich führten.

»Es ehrt mich natürlich, dass Sie bezüglich dieses Themas ausgerechnet mich aufsuchen, aber soweit mir bekannt ist, gibt es keine neueren Erkenntnisse, nachdem das Interdikt verhängt wurde.«

Glücklicherweise basierten Zauber auf der Basis der Sprache Latein, oder genauer: Die tote Sprache basierte auf jener der Magie. Deshalb war es für Magier auch recht simpel, die Worte zu deuten.

»Das Verbot, natürlich«, gab sie sich wissend.

»Ist das ein Test?«, fragte der Professor vorsichtig.

Jen bedeutete ihm mit einer beruhigenden Geste, dass keinerlei Gefahr bestand. »Nehmen Sie uns an die Hand, damit wir Sie zur eigentlichen Frage leiten können. Zeitreisen waren nicht immer verboten.«

Steiner schluckte. »Das ist natürlich richtig, obgleich ich vollkommen und absolut mit dem Institut übereinstimme, dass es die einzig mögliche Entscheidung war.«

»Ist notiert«, sagte Alex.

»Nachdem das geklärt ist: Bitte, sprechen Sie.«

»Nun, wir alle kennen die Geschichte. Die Manipulationen des Anbeginns führten dazu, dass die Unsterbliche Cixi versuchte, den Wall zu erschaffen. Sie lebte als Nimag später, als Unsterbliche früher. Basierend auf diesem fatalen Ereignis, das uns beinahe alle unserer Macht beraubt hätte, wurde wenige Jahre nach der Befreiungsnacht von Alicante das Interdikt erlassen.«

Jen hätte beinahe aufgelacht. In dieser Zeitlinie war es also tatsächlich so, dass die Sieger den Kampf umgedeutet hatten. Aus der Blutnacht war die Befreiungsnacht geworden. Dass Merlin Cixi manipuliert hatte, war allerdings richtig.

»Das Institut benötigte natürlich seine Zeit, um die Kontrolle zu erlangen«, führte Steiner weiter aus. »Die Jahre des Chaos nach der Befreiungsnacht … Es muss schrecklich gewesen sein. Doch sie erwuchsen. Das führte schließlich dazu, dass Mentigloben und Zeitreisen mit dem Interdikt belegt wurden.«

Jen zweifelte keinen Augenblick daran, dass ein Blick in die Vergangenheit über kurz oder lang zu einem Aufstand geführt hätte. Doch ohne Mentigloben gab es nur jene Geschichte, die das Institut verkündete.

Das Verbot von Zeitreisen verhinderte ebenfalls Beobachtungen der Vergangenheit. Eine Änderung war schließlich sowieso nicht möglich gewesen.

»Und dieses Interdikt wird bis heute lückenlos eingehalten?«, hakte Jen nach, um den Professor zur eigentlichen Frage zu lenken.

»In der Tat«, bestätigte der. »Sieht man von den wenigen ab, die vom Institut die Erlaubnis erhalten. Sie müssen sich natürlich einer Befragung stellen und dürfen danach nicht zurückkehren an ihre alte Wirkungsstätte.«

Alex verdrehte die Augen, was der Professor glücklicherweise nicht sehen konnte.

Vermutlich endeten jene ›Befragungen‹ schlicht damit, dass der jeweilige Magier oder die Magierin getötet wurden. Nie und nimmer würde ein so restriktives Regime Zeitreisen zulassen. Jen fragte sich unweigerlich, wer dieses anführte. Selbst Joshua war es nicht gelungen, das zu enthüllen. In der Gegenwart war das Institut ein Mythos, seine Beobachter und Agenten waren allgegenwärtig. Niemand wagte es offen, Kritik zu äußern. Annora Grant hatte nicht umsonst mit dem Zwillingsfluch alles riskiert. Sie wollte in ihrer Familie Magier mit Sigilen, die nicht entrissen werden konnten. Ein schlauer Schachzug.

»Und diese lückenlose Überwachung wurde wie genau ermöglicht?«, fragte Jen.

»Ah, ich verstehe, worauf sie hinauswollen.« Steiner nickte, geradezu stolz. »Nachdem alle temporalen Artefakte eingesammelt worden waren, wurde ihre Signatur ausgelesen. Von mir.« Er räusperte sich. »Auf dieser Basis half ich dem Institut, die Resonatoren zu entwickeln.«

Joshua war es gelungen, bis zu diesem Punkt Informationen zu erlangen. Alles darüber hinaus war jedoch unbekanntes Land.

»Womit wir in der Gegenwart angelangt wären.« Jen lächelte, als habe sie jedes Wort genauso erwartet. »Denn um diese geht es.«

»Ist etwas damit nicht in Ordnung?«, fragte Steiner. »Bei meiner letzten Kontrolle waren sie unbeschädigt. Ich habe jeden einzelnen Standort untersucht und alles getestet. Mit der Erlaubnis des Instituts natürlich.« Er nickte in Alex’ Richtung. »Das Artefakt öffnete einen temporalen Riss und die Resonatoren konnten es sofort feststellen. Ein Einsatzteam war in der gleichen Sekunde neben mir. Niemand kann eine Zeitreise unbemerkt ausführen, das versichere ich Ihnen.«

»Was wäre, wenn jemand einen permanenten Riss in der Zeit schaffen würde?«, hakte Jen nach.

Denn letztlich war das Portal, das von dieser Seite auf ihre eigene führte, genau das: ein Riss in der Zeitlinie, ein Durchgang.

»Es würde bemerkt werden«, war sich Professor Steiner sicher.

»Sagen Sie mir, Professor, falls eine solche Beschädigung früher entstanden ist – bevor die Resonatoren aufgestellt wurden –, würden diese ihn ebenfalls erkennen?«

Joshuas Vermutung legte nahe, dass es wie bei einer Küchenwaage funktionierte. Schaltete man diese ein und die Ablage blieb leer, pegelte sie sich auf null ein. Legte man danach etwas auf, wurde das Gewicht bestimmt.

Wurde jedoch zuerst etwas aufgelegt und die Wage dann eingeschaltet, pegelte sich das Gerät auf null, obwohl etwas auflag. Nahm man es dann herunter, ging die Anzeige ins Minus.

Waren die Resonatoren also später aufgestellt worden, nachdem das Portal sich etabliert hatte, nahmen sie es nicht mehr korrekt wahr.

»Verblüffend«, sagte Steiner wie in Gedanken. »Und Sie haben recht. Im Falle einer bereits bestehenden Problematik würden die Resonatoren es als Normalwert definieren und keinen Wert zurückliefern.«

»Und genau deshalb sind wir hier.« Jen schnippte mit den Fingern. »Sehen Sie, wir haben diese Thematik intensiv besprochen, und auf Basis einer Recherche wurde die Überlegung aufgeworfen, dass wir uns aktuell möglicherweise in einem solchen Fall befinden. Doch eine Überprüfung wäre nötig.«

Alex nickte schwer. »Ein Riss in der Zeit würde auf keinen Fall konstant bleiben. Über die Jahre würde er ganz langsam wachsen. Vermutlich würde das gar nicht auffallen. Korrekt?«

»Da es durch unsere Magie ständig zu Schwankungen kommt – es müssen nur ausreichend viele Magier einen Zeitschattenzauber ausführen –, gibt es einen gewissen Pufferwert, der als ›normal‹ definiert ist.«

»Wäre es möglich, diesen Wert über die vergangenen hundert Jahre zu prüfen?«, fragte Jen. »Sollten wir Auffälligkeiten feststellen, könnten wir die Resonatoren entsprechend auf die Quelle ausrichten und herausfinden, wo das Problem zu finden ist.«

Womit sie auf simple Weise das Portal entdeckt hätten. Sie mussten lediglich darauf achten, dass der Professor den Zielort nicht interpretieren konnte, bevor sie die gesamte Apparatur vernichteten – und die Resonatoren gleich mit. Ein simpler Ablauf.

»Ich denke, das dürfte kein Problem sein«, erklärte Steiner und bedeutete ihnen, ihm durch die Tür zu folgen. »Sie haben Glück, dass ich Ihnen darauf überhaupt eine Antwort geben kann.«

»Wie meinen Sie das?« Jen schlenderte locker neben dem Professor her und ließ ihren Charme spielen.

»Es gab schon einmal eine Magierin, die fast exakt die gleichen Fragen stellte wie Sie jetzt«, erwiderte er. »Nach ihrem Besuch habe ich umgehend das Institut verständigt. Agenten wurden hier postiert. Sie ist jedoch nicht mehr aufgetaucht.«

»Ich erinnere mich.« Die Lüge kam Alex glatt über die Lippen.

Jen nickte.

Und fragte sich unweigerlich, um wen es sich bei dieser Magierin gehandelt haben könnte. Hatte sie am Ende aufgegeben –oder war ihre Suche von Erfolg gekrönt gewesen?

Pulsuz fraqment bitdi.

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112 səh. 5 illustrasiyalar
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9783958344594
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