Kitabı oxu: «Das Bücherarchiv»

Şrift:

Anna Schilasky

DAS BÜCHERARCHIV

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Covergestaltung Milan Ziebula

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Das Bücherarchiv

Dann schiebt sie das kleine runde Brot über die Verkaufstheke. „Es ist das andere Brot“, sagt sie noch einmal. „Ich habe es nicht bezahlt.“

„Ich weiß“, erwidert Isa, „da ich es doch verschenkt habe.“

Es ist zwecklos, denkt Miriam. Sie will mich nicht verstehen.

Isa lässt das Brot unbeachtet auf der Theke liegen. „Ich mach mir einen Kaffee. Willst du auch einen?“ Isa weist einladend auf einen kleinen Tisch und zwei Stühle, die neben der Eingangstür stehen.

Miriam nimmt stumm auf dem Stuhl Platz, der neben dem Eingang steht. So behält sie das Gefühl, dass sie ganz schnell verschwinden kann. Isas Stimme ist ein angenehmes Hintergrundgeräusch, das sie sanft umhüllt. Miriam hört eine ganze Weile darauf und lehnt sich schließlich an. Sie fühlt sich schläfrig. Als auch Isa endlich sitzt, fragt Miriam: „Was hast du da gerade eben erzählt?“

Isa sieht sie erstaunt an, fängt dann an zu kichern. „Was? Du hast mir gar nicht zugehört?“

Miriam nickt. Sie hört das Klingeln der Straßenbahn, registriert, wie die Bahn dicht an ihr vorbeifährt. Sie wundert sich, dass alles so weitergeht. Aufmerksam mustert sie die Fassade des gegenüberstehenden Hauses. Es fällt ihr nichts Besonderes auf. Vielleicht hat sie sich alles nur eingebildet und nichts hat sich verändert. Vielleicht, denkt sie, sind alle Veränderungen nur eingebildet und alles bleibt eigentlich immer gleich. Sie stellt sich vor, dass die Zeit stillsteht, und weiß schon, dass dies nicht möglich sein wird. Aber nur wenig Bewegung, kaum Veränderung, ein langes Warten.

Sie sieht wieder aus dem Fenster. Die blaue Straßenbahn bewegt sich in unglaublicher Langsamkeit vorbei. Sie kann einigen Fahrgästen sehr lange in die Augen blicken; gleitet dann endlich ein Gesicht vorbei, bleibt sie ewig lange beim nächsten hängen. Sie will ihnen gern Zeichen geben, ihnen zuzwinkern, winken oder wenigstens mit den Händen kleine Gesten vollführen, jedoch fühlt sie sich wie gelähmt. Sie kann nichts tun, als immer hinüberzusehen, und wird jetzt von einer Frau angeschaut. Sie sehen einander an und wissen beide, dass jede die andere gründlich beobachtet. Die Fragen: Was tust du? Warum bewegst du dich nicht? Jetzt beschreibe ich, wie du aussiehst. Die halbe Frau, die sie sieht, trägt eine grüne Strickjacke. Sie hat ein sehr kleines, schmales Gesicht. Miriam hat den Eindruck, die Bahn bewege sich minimal vor und zurück, da sich der Frauenkopf auch unmerklich vor- und zurückbewegt.

Sie hört Isas Stimme: „Du hast mir gar nicht zugehört?“

Sie wundert sich, weshalb Isa ihre Frage noch einmal stellt. Sie nickt. Sie hört das Klingeln der Straßenbahn, sieht, wie die blaue Bahn dicht neben ihr vorbeifährt. Sie wendet ihren Kopf Isa zu und nickt noch einmal.

Es entsteht immer eine Lücke zwischen diesen Bildern. Miriam weiß nicht, wie sie in den Laden gekommen ist. Es ist, als müsse sie sich entscheiden, ob in kurzer Zeit sehr viele Dinge passieren werden oder nur wenige Momentaufnahmen angesehen werden können. Sie wünscht sich, in der Lage zu sein, es selbst zu bestimmen. Wie bei einem Musikstück. Und dabei notfalls die vorgegebenen Tempobezeichnungen ignorieren und ein Largo in flottem Tempo spielen zu können. Aber es scheint nicht so. Die Temposchwankungen geraten außer Kontrolle, manchmal fast bis zum Stillstand. Was, denkt sie, ist das übliche Lebenstempo? Wer schreibt mir vor, in welcher Geschwindigkeit ich gelebt haben soll?

Sie erinnert sich an einen langen Tag voller Katastrophen. Das ist heute gewesen. Eigentlich erscheint es unmöglich, dass alle diese Dinge in einen Tag gepasst haben könnten, aber es ist so. Denn der Abend dieses Tages ist heute.

Sie hat das Brot zurückgegeben. Es liegt immer noch unbeachtet auf der Glastheke. Isa ist vertraut mit ihr.

„Manchmal“, antwortet sie endlich, „kann ich gar nicht richtig hinhören. Dann lausche ich nur auf den Klang von Stimmen, so auch jetzt auf den Klang deiner Stimme. Dann ist Sprechen für mich einfach nur ein schönes Geräusch. Bitte erzähle es mir noch einmal, ich werde mir Mühe geben. Und ich habe auch eine Frage an dich: Wie war dein Tag?“

„Gerade das“, erwidert Isa, „habe ich dir eben erzählt.“

Dann schweigen sie beide. Die Bahn ruckt an und fährt weiter.

Auf der Bank im Hof sitzt ein kleiner Mann. Er weint. Sie erinnert sich, dass es der Mann sein muss, der unter ihr wohnt. Sie setzt sich zu ihm. Sie sagen beide nichts. Miriam schaut auf und sieht eine große Elster auf dem Geländer ihres Balkons sitzen. Sie scheint zu warten.

Miriam steht auf und geht nach oben. Ihre Wohnungstür klemmt immer noch ein wenig. Jetzt wird sie endlich einmal Zeit finden, ihre Wohnung aufzuräumen. Da gibt es nicht viel. Nur ein paar Kisten mit Papierkram drin. Sie blättert den letzten Stapel durch, zieht ein Bild heraus. Hält es neben das große Bild, das sie über den langen Riss geklebt hat. Darauf ist ein riesiger Elsterflügel zu sehen. Sie fährt mit den Fingern über das schillernde Blau, sie mag dieses Bild sehr. Valentin hat es ihr vor Kurzem geschenkt. Daneben hängt sie das etwas vergilbte und viel kleinere Blatt. Darauf ist eine Frau mit wirren, grünen Haaren zu sehen und riesigen Mutteraugen, auch dieses Bild mag sie sehr. Lina hat es gemalt, als sie noch sehr klein war.

Ihr scheint es, als sei ihr Leben aufgehängt zwischen diesen beiden Bildern, zumindest ihr Leben als erwachsene Frau bis heute.

Das große Bild mit dem Elsterflügel klebt auf dem schmalen Riss, der sich die Wand von oben herabschlängelt. Sie fährt mit den Händen über das Blatt, als wolle sie es streicheln. Spürt unter dem Papier den Riss. Neben dem großen Bild nimmt sich die grüne Frau winzig aus. Ihre Augen wirken nicht mehr so riesig und ihre Brüste scheinen auf eine normale Größe geschrumpft. Sie erinnert sich: Hier hat sie mit dem Schnabel draufgepickt und Lina hat ihr empört das Blatt unter dem Schnabel fortgezogen. Sie sieht immer noch den kleinen Punkt, den Einstich. Es muss also wahr sein.

Wie komme ich hierher?, denkt sie. Noch eben war ich ein Vogel. Sie läuft zum Fenster und blickt auf die Straße hinunter. Gerade schiebt sich wieder eine blaue Bahn über die Fahrbahnmitte. Sie zerschneidet die Straße in zwei gleiche Teile. Dann bleibt sie einfach stehen. Hier ist aber keine Haltestelle.

Anna ist nicht zurückgekommen und Valentin bleibt verschwunden. Sie überlegt, wohin sie Annas Brief gesteckt hat, es fällt ihr nicht ein. Nur ich bin wieder hier, denkt sie. Ich bin immer hier. Sie blickt zur Balkontür, die Elster ist fort.

Immer noch sucht sie Annas Brief und kann ihn nicht finden. Wozu soll man Abschiedsbriefe finden?, denkt sie. Aber sie hat ihn ja nicht einmal richtig gelesen.

Miriam beschließt, Anna selbst einen Brief zu schreiben. Sie weiß zwar nicht, wohin sie ihn schicken soll, aber das ist jetzt ihre geringste Sorge. Sie muss sowieso viel zu oft an Anna denken.

Anna, ich sehe dich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, du schaust auf meine Seite herüber, als würdest du jemanden suchen – ich hoffe, dass ich es bin. Du kannst mich nicht sehen, weil du mich in diesem Moment noch nicht kennst. Mein Gefühl für das Vergehen von Zeit ist restlos aus den Fugen geraten. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin und was zwischendurch geschah. Wir gehen immer von einem chronologischen Verlauf der Dinge aus, dabei sind bestimmte Ereignisse in einer Art Spirale gefangen, kreisen in und um sich selbst. So wie der Morgen, an dem ich dich zum ersten Mal auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig sah und dachte, dass ich eigentlich gern in den falschen Zug steigen würde, um dir zu begegnen. Jetzt denke ich gerade, dass du genauso gut bei mir hättest mitfahren können.

Ich weiß gar nicht mehr so genau, welche Verpflichtungen ich noch habe. Die ganze Sache mit der Arbeitserprobung und den Lagern erscheint mir wie ein Spuk, dem ich entronnen zu sein glaube. Als ich das alles erlebte, war immer eines die logische Folge des Vorangegangenen gewesen.

Ich vermute, dass du lange sehr weit weg sein wirst. Es ist schwer auszuhalten, während einer großen Katastrophe einen Menschen zu verlieren. Ich werde zu dem Moment zurückkehren, als du noch hier gewesen bist.

Als sie aus dem Fahrstuhl tritt, sieht sie, dass die Bahnsteige völlig verlassen sind. Sie ist die Einzige, die hier mit ihrem Fahrrad steht. Offenbar hat sie sich wieder nicht rechtzeitig informiert. Sie schiebt ihr Fahrrad zurück in den Fahrstuhl. Unten in der Wartehalle liest sie die Anzeigentafel: „Ausfall ohne Ersatz“, steht da gleich mehrere Male untereinander. Sie braucht nicht länger zu warten. Dieses Mal hat sie es gar nicht mitbekommen, dass schon wieder ein Streik ist.

Als sie die Bahnhofshalle verlassen will, kommen ihr plötzlich sehr viele Menschen aus dem Nichts entgegen, ihre Stimmen schwingen hastig in der Halle, schwellen an zu einem unerträglich heiseren Brummen, das in ihren Ohren klopft. Sie versucht einige Worte zu verstehen und hört mehrere Male eine Zeit heraus: 7 : 17 Uhr. Sie schließt sich der Menge an, die sich in zähem Tempo auf den breiten Treppenaufgang zum Bahnsteig hin schiebt. Ein Zug wird fahren, egal wohin, sie will mit.

Der Fahrstuhl ist stecken geblieben. Sie versucht ihr Fahrrad die Treppen hinaufzutragen, wird jedoch immer wieder abgedrängt. Dann läuft sie einfach los, rammt mehrere Körper. Das ist ihr jetzt auch gleich. Oben quietschen schon die Bremsen. Die Menschen drängen sich vor den noch verschlossenen Türen. Sie sieht, wie ein älterer Mann vor ihr mit weit ausladenden Bewegungen die Menge zerteilt. Es sieht aus, als vollführe er mit seinen Armen Schwimmbewegungen. Sie folgt ihm, dann ist sie drin im Zug. Die Tür schließt nicht richtig, sie kann das Rad nicht weit genug hineinschieben. Es riecht wie im Arbeitsamt. Ihr Rücken klebt am Rücken eines anderen Körpers. Sie drückt ihr Fahrrad noch etwas nach vorn in eine Lücke zwischen zwei Leiber. Dann schließt die Tür.

Als sie endlich angekommen ist, läuft sie schnell hinüber zum Gebäude der Arbeitserprobung. Sie ist spät dran. Schon von Weitem sieht sie, dass an den Glastüren etwas anderes steht. Als sie näher herankommt, versteht sie, dass im Gebäude des Amtes für Arbeits- und Belastungserprobung jetzt eine Zeitarbeitsfirma ihren Sitz gefunden hat. So hat sie sich das nicht vorgestellt. Sie beschließt, trotzdem hineinzugehen, sucht in ihrem Rucksack nach ihrer Arbeitskarte, vergeblich.

Um schließlich überhaupt etwas durch das Fenster der Pförtnerloge reichen zu können, greift sie nach einem kleinen, zerknitterten Bestellzettel, der mit dem Stempel dieser Zeitarbeitsfirma versehen ist.

„Sie kommen aber spät“, hört sie. Dann wird sie durchgewunken. Sie folgt dem blauen Pfeil, der unverändert den Boden des Flurs zerschneidet. Sie verspürt entsetzlichen Hunger und erinnert sich, dass Isa ihr ein kleines Rundes zugesteckt hat, bevor sie aus dem Laden gegangen ist. Sie zieht das Brot heraus und entdeckt dabei die Bücher auf dem Grund der Fahrradtasche. Sie bricht ein Stück Brot ab und beißt hinein. Wenigstens das, denkt sie, ist noch gleich geblieben.

Dicht vor einem blauen Pfeil bleibt sie stehen, etwas hat ihren Fuß berührt. Sie blickt nach unten. Sie sieht, wie der Pfeil über ihren Fuß wandert, um ihre Schenkel gleitet wie eine schmale, blaue Schlange, spürt, wie er in ihre Kniekehlen greift, ihren Oberkörper schnürt. Sie kann sich nicht mehr bewegen.

Ein Mitarbeiter der Behörde steht vor ihr, jedenfalls glaubt sie, dass es ein Mitarbeiter ist. Er trägt ein winziges Namensschild am Kragen. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt er leise.

Sie wagt einen schwachen Versuch: „Ich suche die Arbeitserprobung“, flüstert sie.

Der Mann zieht ein Teppichmesser aus seiner Hosentasche. „Nun das schon wieder“, murmelt er. Behutsam beginnt er die um sie geschlungenen Pfeile zu zerschneiden, die leblos zu Boden fallen. Er berührt Miriam an der Schulter. „Hier entlang“, sagt er und weist auf eine angelehnte Tür. Sie blickt über die Tür, dort flimmert es rot, es sind jedoch keine Schriftzüge erkennbar.

Als sie den Raum betritt, sitzt Barbara wie immer hinter ihrem Schreibtisch. Für sie nun wieder Frau Krüger, wie sie sich denken kann. Barbara trommelt ungeduldig mit den Fingern auf die Tischkante.

„So setzen Sie sich doch“, sagt sie bloß. „Haben Sie Ihre Bücher mitgebracht?“

Gehorsam zieht Miriam ein Buch nach dem anderen aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. Es sind drei.

Frau Krüger zieht den Stapel zu sich herüber, legt alle drei vor sich in eine Reihe und schiebt sie dicht zueinander. „Und Sie denken, dass Sie es schaffen?“, fragt sie.

„Was soll ich schaffen?“

„Nun“, beginnt Frau Krüger, „Sie bekommen eine Adressliste mit einer jeweils anderen Uhrzeit am Ende. Sie haben sich bei jeder der hier aufgeführten Adressen zur entsprechend angegebenen Uhrzeit einzufinden. Sie werden dort bereits erwartet. Sie werden klingeln und sich vorstellen. Miriam Schilasky, richtig? Sie werden den Kunden Zeit lassen, sich zu entscheiden. Dieses hier“, sie weist auf das dritte Buch, „kommt leider nicht infrage.“

„Warum?“, fragt Miriam.

„Es ist nicht erwünscht, packen Sie es ganz schnell weg.“

Frau Krüger schiebt es rasch über den Tisch zurück, Miriam lässt es in die Tasche fallen.

„Noch Fragen?“

„Nein, nicht“, erwidert Miriam schnell.

„Also dann.“ Frau Krüger beugt sich unter den Tisch und holt etwas aus einem Rollcontainer, reicht es Miriam. „Das brauchen Sie, Ihre Legitimation.“

Miriam betrachtet das kleine Ding auf ihrer Handfläche. Es ist ein Anstecker mit winzigen Schriftzügen darauf.

Also wird sie sich ab heute ihre Kundschaft erlesen müssen. Eigentlich hat sie keine Lust dazu, sie findet es sehr anstrengend, auf die richtige Betonung zu achten. Anna kann das viel besser als sie. Aber Anna ist jetzt weit weg. Sie erfährt von Frau Krüger, dass es inzwischen kaum noch Menschen gibt, die selbst lesen. Fehlt bloß noch, denkt sie, dass die Sprache ganz verschwindet.

Sie fragt Frau Krüger, wie das habe passieren können.

„Es ist unpraktisch“, antwortet diese.

Dann erfährt sie, dass es ein Privileg sei, sich eine Leserin/​einen Leser bestellen zu dürfen.

Als sie zu ihrer ersten Adresse kommt, öffnet ihr ein bleicher, älterer Herr, dessen Augen tief in den Höhlen versunken sind. So hat sie den Eindruck, er blicke sie aus dem tiefsten Inneren seines Kopfes an. Sie empfindet seinen Blick als unangenehm stechend und starr, ein Raubvogelblick.

„Sie gehören also auch dazu?“, flüstert er. Der Mann kommt dicht an sie heran und besieht sich gründlich das Schild mit den winzigen Schriftzügen, das sie an ihren Kragen geheftet hat. „Nun geht es Ihnen an den Kragen“, scherzt er und hält kurz einen Scanner ans Schild. Es piepst. „Alles in Ordnung, man kann ja nie wissen“, murmelt er.

Für Momente empfindet sie so etwas wie Mitleid mit diesem Mann. Es scheint ihr, als könne er einfach nur schlecht sehen. Sie stellt sich vor, eine Betreuerin zu sein, die für eine wohltätige Organisation arbeitet, fast blinde Menschen aufsucht, um ihnen etwas vorzulesen.

Der Mann packt sie am Oberarm, zieht sie unsanft neben sich her über den Flur, stößt sie fast in einen Raum. Fordert sie auf, vor einem Lesepult stehen zu bleiben. „Legen Sie die Bücher aufs Pult. Lesen Sie laut und deutlich die Titel vor. Lassen Sie eine Pause zwischen jedem Titel!“

Sein Befehlston ist unmissverständlich. Keine Betreuerin, eher eine Dienerin. Sie hat den Eindruck, dass es jetzt enorm wichtig ist, alles richtig zu machen. Obwohl sie die Spielregeln nicht kennt, noch nicht kennt.

Ich werde alles genau beobachten, denkt sie, und abwarten. Nur etwas tun, wenn ich dazu aufgefordert werde.

Auf dem Rückweg muss sie in eine Straßenbahn steigen, deren Fenster von innen mit blauer Farbe bestrichen sind. Miriam fühlt sich wie in einem Aquarium. Sie setzt sich ans Fenster, kratzt ein wenig von der Farbe ab und blickt durch das Loch auf Häuserfassaden. In einer Lücke zwischen zwei Fassaden kann sie sehen, dass es wirklich nur Fassaden sind, dahinter ist ein großes Trümmerfeld.

Das kenne ich doch schon, denkt sie. Irgendwo habe ich das gelesen. Da fällt es ihr wieder ein. Um Himmels willen, denkt sie, hoffentlich fährt die Bahn jetzt nicht dorthin. Das wäre das Ende.

Sie drückt auf den Haltewunschknopf. Die Bahn hält, aber die Türen bleiben verschlossen. Sie setzt sich wieder auf ihren Platz ans Fenster, die Bahn ruckt an und fährt weiter. Miriam wird schläfrig zumute.

Sie hört Linas hohes Stimmchen: „Schläft sie? Ist sie schon tot? Und wenn sie schon tot ist, wann wacht sie wieder auf?“

„Ich bin nicht tot!“, sagt Miriam laut. Die anderen Fahrgäste wenden ihre Köpfe zu ihr um, sehen sie an. „Ich will nicht tot sein“, fügt sie etwas leiser hinzu.

Die Köpfe der anderen Fahrgäste nicken mechanisch, fast gleichzeitig, wie ihr scheint. Dann wenden sie höflich ihre Gesichter ab und sehen gebannt auf das Blau der Fensterscheiben, als könnten sie dort etwas besonders Interessantes und Bedeutsames erblicken.

Miriam hat jegliche Lust verloren, durch das Loch auf ihrer Fensterseite zu sehen. Sie beschließt, einfach in der Bahn sitzen zu bleiben und wieder zurückzufahren. Irgendwann werden die Türen schon öffnen. Sie hat heute noch einen Termin bei Frau Krüger, um von ihrem ersten Arbeitseinsatz zu berichten.

Am Eingang der Zeitarbeitsfirma steht ein hochgewachsener Mann, der sich für jede hereinkommende Person herunterbeugt und deren Kragen scannt. Nach jedem Piepen murmelt er den gleichen Satz: „Gehen Sie durch.“

Auf dem langen Flur stehen jetzt neue Spinde. Die Nummer auf ihrem Schild entspricht der Nummer eines Spindes. Sie lehnt sich mit dem Oberkörper nach vorn und berührt den Spind mit ihrem Schild, die Tür springt auf. Sie findet dort Arbeitsbekleidung: ein blaues Kopftuch, den gerade geschnittenen Rock und die Arbeitsjacke. Oben in einem kleinen Fach liegen sauber abgepackt in Zellophan drei Scheiben Brot. Das gehört aber nicht hierher, denkt sie noch.

Sie lässt die Sachen im Spind liegen und läuft weiter den Flur entlang. Alle Türen sind geschlossen. Es ist sehr still. Am Ende des Ganges liegt ein großes Rechteck aus Licht am Boden. Als sie näher kommt, sieht sie, dass diesem Raum die Tür fehlt. Nun steht sie davor. In der Mitte des Raumes sieht sie auf einem sehr großen Tisch ein Modell. Sie geht ein paar Schritte in den Raum, da erkennt sie, dass es eine Puppenstube ist. Nur das Dach fehlt. So kann sie von oben die Einrichtung überblicken. Sie sieht am Eingang des Hauses eine winzige Pförtnerloge, auf dem Flur mehrere Tische, hinter denen kleine Kisten stehen. Sie nimmt eine Kiste auf die Handfläche und öffnet sie. Darin sind winzige, durchsichtige Tüten mit etwas Blauem. Sie reißt eines der Tütchen auf, klopft es auf die Handfläche: blaue Puppensachen.

Von oben sieht sie drei quadratische Räume. Im ersten Raum klebt über die ganze Wand ein Foto. Als sie sich hinunterbeugt, erkennt sie das Fließbandfoto mit den Broten. Im zweiten Raum stehen lauter kleine, blaue Müllsäcke. Im dritten Raum ist tatsächlich ein Miniaturfließband zu sehen, aber es bewegt sich nicht. Es fehlen auch gänzlich die Puppen.

Seltsam, denkt sie, was soll das? Eigentlich muss ich mich jetzt auf die Suche nach Barbaras Büro machen. Frau Krügers Büro, verbessert sie sich in Gedanken.

Sie wendet sich um, nun steht sie genau im Rechteck aus Licht. Frau Krügers Büro ist gleich gegenüber. Da es keine Wartestühle auf dem Flur gibt, klopft sie.

Der Mann hat ihr dann befohlen, die Bücher nun rasch wieder einzupacken. „Das genügt für heute“, sagte er.

„Und das ist alles?“, fragte sie.

Es ist keine Bemerkung über das dritte Buch gefallen. Sie hat es einfach mit hingelegt, obwohl es unerwünscht war. Ihr erster Arbeitseinsatz ist also recht kurz gewesen.

Danach ist sie die Treppe hinunter bis in den Keller dieses Hauses gegangen, hat das Haus über den Hintereingang verlassen. Hinter dem Haus hat sie ein großes, sanft aufsteigendes Feld gesehen und ist sehr lange in einer Furche gelaufen.

Nun sieht sie in der Ferne viele Vögel, sie scheinen den Horizont zu verdunkeln. Selbst aus dieser Entfernung sehen sie riesig aus. Als sie näher kommt, landen einige von ihnen in ihrer Furche und verstellen ihr den Weg. Sie liebt diese Vögel wegen ihrer Schönheit und ihres frechen Übermuts, aber jetzt kommen sie ihr für Momente bedrohlich vor. Genau vor ihr steht eine Elster. Der Vogel beugt seinen Kopf zu ihr herunter, berührt sie leicht mit dem Schnabel. Eine Begrüßung, wie ihr scheint. Miriam hebt ihren Arm und streichelt zaghaft über den Vogelkopf, dann geht sie um das Tier herum und streicht mit den Händen über die Schwanzfedern. Diese schillernden Federn, denkt sie. Mit hocherhobenen Armen kann sie gerade so auf den Rücken der Elster greifen. Sie zieht sich nach oben. Die Elster bewegt sich nicht, als habe sie nur darauf gewartet. Inzwischen wundert sich Miriam über gar nichts mehr und verspürt auch keinerlei Bedenken. Sie freut sich schon auf den Flug.

Da die Elster nicht besonders weit oben fliegt, kann Miriam auf ihre Stadt hinunterblicken. Sie sieht kaum Menschen, viele Straßen sind aufgerissen. In ihrer Straße steht eine Bahn, sonst sind keine Fahrzeuge zu sehen. Die Elster landet auf einem Trümmerfeld, verharrt reglos, bis Miriam abgestiegen ist. Als sie dann schnell wieder davonfliegt, empfindet Miriam so etwas wie Trauer. Für Momente wirft der Vogel einen riesigen Schatten auf Miriam, dann ist sie allein.

Pulsuz fraqment bitdi.

9,14 ₼
Janr və etiketlər
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Litresdə buraxılış tarixi:
22 dekabr 2023
Həcm:
80 səh. 1 illustrasiya
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9783960083030
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