Kitabı oxu: «Mars», səhifə 2

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DER VERGRABENE SCHATZ
1.

Der Tote blieb liegen. Morgen käme jemand vom städtischen Dienst, um ihn abzuholen. In der Zwischenzeit versuchte man, seine Witwe, eine Frau, die an langjährigem Tablettenmissbrauch litt, zu beruhigen, man gab es aber bald auf – normale Dosen der Beruhigungsmittel wirkten nicht: Sie krümmte sich auf der Couch, sichtbar aufgebracht.

»Gebt ihr eine höhere Dosis«, sagte der Arzt.

Die Schwester las zwischen den Zeilen und gab ihr eine ganze Handvoll Tabletten. Die Witwe verlangte, dass man sie ins Bett bringe, gleich neben den Verstorbenen: Ihr Gefühl sagte ihr, dass der Mann neben ihr lebt. Die Enkel rannten aus dem Zimmer hinaus und wieder herein, ohne sich um die Oma zu kümmern – nur manchmal blieben sie stehen, um die Leiche zu berühren.

»Vielleicht lebt er wirklich noch«, sagte die älteste Enkelin.

Aus dem Nachttopf, der unter dem Bett stand, verdunstete der Urin des Verstorbenen und verbreitete einen beißenden Geruch.

Die Älteren trauerten jeder auf seine eigene Art, aber die Kinder hatten nicht allzu viel Zeit für Trauer, da sie im Begriff waren, ihre Sexualität zu entdecken, was ihre Eltern – hätten sie es gewusst – mehr getroffen hätte als Großvaters Tod.

Den Kindern war es egal, dass Großvater nur Dinge hinterlassen hatte, die für Erwachsene bestimmt waren, da man sie immer in etwas Nützliches verwandeln konnte: Aus den Büchern wurden Treppen für Puppen gebaut, die Medaillen wurden zu Glasuntersetzern, und am interessantesten war das Schicksal einiger Bleistifte aus Holz, die Großvater in einer Schublade aufbewahrte. Kurz nach Großvaters Tod erwischte die älteste Enkelin ihre Cousine dabei, wie sie hinter einem Sessel hockend mit einem der Bleistifte ihr eigenes Genital erforschte. Obwohl sie nicht überrascht war, entschied sie, dass diese Bleistifte – und zwar alle – nicht mehr zum Schreiben und Zeichnen dienen konnten, vielleicht hatte die Cousine ja nicht nur den einen, sondern alle Bleistifte für ihr privates Vergnügen benutzt. So landete also ein Teil von Großvaters Erbe im Müll. Die Eltern waren jedoch nicht einverstanden, sie forderten, dass die Bleistifte wieder aus dem Mülleimer herausgeholt und weiter benutzt werden sollten, da sie glaubten, dass die Mädchen sie aus lauter Übermut weggeworfen hatten. Die Kinder sagten nichts dazu, nicht einmal, als einer der Erwachsenen nervös an der Spitze eines der Bleistifte knabberte, während er einen wichtigen Brief verfasste.

Die Großmutter erholte sich nur langsam, doch bald kehrte sie zu ihren alten Gewohnheiten zurück. Sie versteckte weiterhin diverse Tabletten im Wäscheschrank, schob heimlich Nahrungsmittel unter die Wintermäntel und erlaubte den Kindern, »Twin Peaks« zu sehen, obwohl die Eltern es ausdrücklich verboten hatten.

Im schnellen Vorwärtsspulen ihrer Kindheit erkannten die Enkel, dass die herabhängenden Hoden des Großvaters, die aus dem Hosenbein der kurzen Shorts herausspähten, nicht das Lustigste waren, das sie in ihrem Leben sehen würden, da einige Etagen unter der Wohnung der Großeltern Nataša lebte, ein Mädchen, deren Vater ein großer Verehrer japanischer Pornografie war. Einige Stunden beim gemeinsamen Spielen in ihrer Wohnung hatten genügt, um Großvaters Schande vergessen zu machen.

Natašas Vater sammelte erotische Comics und Zeitschriften, und Nataša hatte auch ein kleines Schaukelpferd, auf dem die Kinder abwechselnd schaukelten, eine Art Simulation der sexuellen Handlungen der Erwachsenen. Sehr bald schon wurden sie erwischt, und die gesamte Kollektion der pornografischen Zeitschriften und Comics landete auf dem leeren Parkplatz, dort hingeworfen, als hätte man den Armen ein Bündel Geldnoten von einem Luxusbalkon zugeworfen. Natašas Mutter beendete mit dieser Geste einen recht angenehmen Frühling, danach gab es keine Rückkehr mehr. Die Kinder hatten merkwürdige Dinge gesehen, »Twin Peaks« war dagegen Pipifax. Sie wurden empfindsam gegenüber Geheimnissen. Alles, was verborgen war, wollten sie fortan erforschen und kennenlernen. Sie ertrugen die Lügen der Erwachsenen nicht, obwohl sie selbst häufig und völlig ohne Grund logen, das Wichtigste aber war – sie blieben naiv. Wäre es nicht so gewesen, wäre das, was sich in den folgenden Ferien abspielte, nicht möglich gewesen.

2.

Als Oma endlich aufgehört hatte, Opa zu beweinen und Abfall und Tabletten überall im Haus zu horten, fuhren die Kinder zusammen mit ihr und mit ihrem Onkel nach Smoluća, jenem Dorf, in dem die Großmutter geboren und aufgewachsen war, um dort die Sommerferien zu verbringen. Nach ihrer Ankunft wechselte der Onkel sogleich vom Fahrersitz auf die Bank unter einem Walnussbaum, öffnete eine Flasche Bier und betrachtete die Wiese vor dem benachbarten Ferienhaus. Die Kinder umkreisten ihn, drei Mädchen, die alles wissen wollten. Der Onkel trank in großen Schlucken.

»Willst du später in dem Fass baden?«, fragten die Kinder.

»Natürlich«, sagte der Onkel.

Am selben Tag sollten Verwandte in das benachbarte Ferienhaus einziehen. Sobald sie einträfen, würden alle auf die Bäume klettern und sich gegenseitig mit unreifen Früchten, zumeist Pflaumen, bewerfen. Der Onkel würde ihnen helfen, sich dünne, gezwirbelte Schnurrbärte ins Gesicht zu malen. Sie würden Maiskolben von dem benachbarten Feld klauen und den Dorfkindern dafür die Schuld in die Schuhe schieben. Die älteste Cousine würde vermutlich zu viel unreifes Obst und Mais essen und anschließend – wie im letzten Jahr – zwei Stunden auf dem Plumpsklo verbringen. Die anderen Kinder würden lachen und ihr angewidert neue Rollen Toilettenpapier anreichen. Alles wäre wie immer.

»Der Brunnen ist ausgetrocknet«, hörten sie die Großmutter vom Fuß des Hügels rufen. »Es gibt keinen Tropfen Wasser.«

Der Onkel trank weiter sein Bier und machte sich keine großen Sorgen. Er mochte es sowieso lieber, zu Hause zu bleiben und sich vor den Fernseher zu fläzen.

»Es gibt kein Wasser, mein Gott, es gibt Schlimmeres«, sagte er zu den Kindern.

Jedes Mal, wenn sie hier waren, sagte der Onkel: »Unten im Tal, direkt neben dem Brunnen, liegen riesige, mit Gold gefüllte Krüge vergraben. Wenn die Außerirdischen kommen, um mich zu holen, werde ich sie ausgraben und mit zum Mars nehmen.«

»Vergiss bloß nicht das Bier«, pflegte Oma ihm bissig zuzuwerfen, aber der Onkel scherte sich nicht um ihre Worte.

»Warum graben wir sie nicht sofort aus?«, fragten die neugierigen Kinder.

»Weil die Zeit noch nicht reif ist«, sagte der Onkel.

Die Kinder glaubten ihm, weil er zu Hause eine umfangreiche Kollektion der Zeitschrift Arke hatte, die sich den Themen Ufos, Hexen, Meeressirenen und Geister verschrieben hatte. Und die Kinder lasen sie immer, wenn sie Gelegenheit dazu hatten. Hier und da hatten sie auch Pornos gefunden, die der Onkel in Schallplattenhüllen versteckte. Sie konnten nicht verstehen, warum er sie ausgerechnet dort aufbewahrte oder warum er sie überhaupt versteckte.

»Oma, Oma, wo kommt das denn her?«, fragten die Enkelinnen einmal.

Die Großmutter, die mitgekommen war, um die Wohnung des Onkels aufzuräumen, fing sich schnell.

»Das hat Opa vor langer Zeit im Hauseingang gefunden und hierhergebracht, damit wir damit die Fenster putzen können.«

Die Kinder waren naiv, aber nicht dumm. Es war klar, dass Oma etwas verbarg. Bald darauf, als sie das nächste Mal in die Wohnung des Onkels kamen, lagen die Pornos nicht mehr in den Schallplattenhüllen, die Arke-Hefte lagen dennoch an ihrem gewohnten Platz. Die Kinder fanden all das seltsam. Die Bilder, die man in den Arke-Heften sehen konnte, kamen ihnen merkwürdiger vor als jene, mit denen der Onkel angeblich die Fenster putzte, und diese hatte er jedoch nicht versteckt. Die Großmutter kam langsamen Schrittes zum Ferienhaus. Der Onkel sah sie lächelnd an.

»Wie willst du in dem Fass baden, wenn es kein Wasser gibt?«, fragten ihn die Kinder.

»Ich werde das Fass mit nach Hause nehmen«, antwortete der Onkel und nahm noch einen Schluck Bier.

»Wir müssen Zoran rufen«, warf Oma ein. »Ich glaube, dass der Brunnen nicht mehr zu retten ist.«

»Warum willst du ihn nicht mit den Kindern holen gehen?«, fragte der Onkel und öffnete ein neues Bier. »Das Auto schafft diesen steilen Hang nicht. Ihr könnt durch den Wald spazieren gehen.«

Großmutter blickte ihn an, sagte aber nichts. Sie drehte sich zu ihren Enkelinnen und fragte: »Möchtet ihr mit mir einen Spaziergang machen?«

»Wir würden lieber mit dem Onkel gehen«, antworteten sie.

Die Großmutter küsste sie der Reihe nach auf die Stirn, blickte wieder ihren Sohn an und sagte ruhig: »Sag Zoran, er soll sich beeilen. Das ist schon der dritte Brunnen, der ausgetrocknet ist. Und auch im Brunnen deiner Schwester gibt es kein Wasser.«

Der Onkel stand lustlos auf und zog ein T-Shirt an, das er einige Minuten zuvor wegen der Julihitze ausgezogen hatte.

»Vielleicht schafft es der Fiat doch bis zu Zorans Haus. Der Hang ist gar nicht so steil«, sagte er.

3.

Die Kinder saßen auf der Rückbank des langsam vorwärts ruckelnden Autos. Ihnen war heiß – ihre nackten Beine klebten am Kunstleder. Es gab noch kein Internet, und so konnten sie sich nicht bei gleichaltrigen Freunden darüber beschweren, wie schwer sie es hatten und wie heiß es war. Der Onkel murrte vor sich hin. Er war Junggeselle, und die Großmutter wollte, dass er sie an jedem Wochenende in ihr Dorf fuhr. Er hasste Smoluća, er hasste seine Mutter.

»Wir können immer im Bach baden«, sagte eines der Mädchen.

»Das können wir«, sagte der Onkel. »Das können wir, aber wir wollen nicht.«

Auf der Hälfte des Hanges blieb das Auto stehen, mit großer Mühe gelang es dem Onkel, es wieder in Bewegung zu setzen. Die Kinder mochten es, wenn er beim Starten die Handbremse losließ. Sie fanden es aufregend zu erleben, wie sich Onkel und Auto abquälten, nach oben zu kommen. Als sie endlich angekommen waren, sahen sie Hühner und Gänse vor Zorans Haus herumlaufen. Der Hund war angekettet. Er bellte laut und verärgert.

»Bleibt im Auto«, sagte der Onkel. »Ich komme gleich wieder.«

Zorans Haus hatte einen Erdboden. Die Hühner spazierten frei im Flur herum. Zwei schäbige und schläfrige Katzen lagen direkt vor dem Eingang. Der Onkel musste über sie steigen. Am Tisch saß Zoran, eine Flasche Bier in der Hand, und starrte abwesend durch das kleine Fenster.

»Hallo«, sagte der Onkel.

»Hey«, antwortete Zoran, »was führt dich zu mir?«

»Unser Brunnen ist ausgetrocknet.«

»Das wundert mich nicht, wir haben eine große Dürre.«

»Wir sollten einen neuen graben. An einer Stelle, die keine Schwierigkeiten mit dem Wasser haben wird. Aber mir ist es eigentlich egal. Mit Wasser oder ohne, ich bin sowieso mit meiner herummeckernden Mutter geschlagen.«

»Du darfst nicht so über deine Mutter sprechen«, sagte Zoran.

Es klang wenig überzeugend.

»Das alte Weib geht uns allen auf die Nerven. Sie macht mich und meine Schwester verrückt, sie schimpft nur rum, schluckt Tabletten und hortet Müll. Seitdem Vater gestorben ist, ist sie unerträglich.«

Zoran fixierte den Onkel. Er betrachtete ihn aufmerksam.

»Manchmal ist es ein Segen, ein Elternteil zu verlieren«, sagte er. Es sah so aus, als hätte der Onkel ihn nicht gehört. Er starrte die Bierflasche an.

»Willst du ein Bier?«, fragte der Brunnenbauer.

»Gerne!«

Zoran drehte sich um, der Kühlschrank stand direkt hinter ihm.

»Hast du viel zu tun?«, fragte der Onkel.

»Ja, aber ich kann trotzdem morgen kommen und nachschauen, wo das Problem liegt.«

»Ausgezeichnet!«, sagte der Onkel und trank seinen hundertsten Schluck Bier.

Die Kinder hatten natürlich nicht auf den Onkel gehört und waren sofort aus dem Auto gestiegen. Die Gänse waren sauer, und eine begann, sie über den Hof zu verfolgen. Ganz außer Puste stürmten die Mädchen in Zorans Haus. Die Katzen flitzten in ihr Versteck. Der Hund hörte nicht auf zu bellen.

»Sind das deine wunderbaren Nichten?«, fragte Zoran den Onkel.

»Ja, das sind unsere drei Schätze!«, antwortete der Onkel. »Meine älteste Schwester hat noch zwei Söhne und ein Töchterchen. Die sind auch wunderbar«, fügte er hinzu.

Die Mädchen blickten Zoran an. Es kam ihnen so vor, als hätten sie ihn schon irgendwo gesehen. Es gefiel ihnen nicht, wie Zoran lachte. Er erinnerte sie – so meinte später eines der Mädchen – an das Waldmonster, das sie einmal in einem der Arke-Hefte gesehen hatten. Es war ein Monster, das jeden, der sich an der Oberfläche eines kühlen Waldsees zu spiegeln versuchte, in die Tiefe zog. Vorher hatten sie nicht gewusst, wie dieses Monster heißt, aber als sie den Brunnenbauer sahen, war ihnen alles klar. Das Monster hieß Zoran, und es war aus dem Wald herausgekommen. Es brauchte den See nicht mehr.

4.

»Mindestens achthundert Mark?«, fragte die Großmutter, als sie zurückkamen.

»Das hat Zoran gesagt«, antwortete der Onkel. »Er hat gesagt, dass es sich nicht lohne, weniger als acht Meter in die Tiefe zu gehen. Und da viele Brunnen ausgetrocknet sind, wird man vermutlich noch tiefer graben müssen.«

»Ich finde es seltsam, dass er so viel Arbeit hat und so schlecht lebt. Wofür verwendet er das viele Geld?«

Der Onkel sagte nichts. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn, er war ganz nass geschwitzt. Die Kinder gingen zum Haus ihrer Tante und setzten sich auf die Treppe. Sie warteten auf ihre Cousins und ihre Cousine und darauf, dass ihre Tante Kuchen mitbringen würde. Die Großmutter musste auf ihren Zuckerspiegel achten und deshalb buk sie zum großen Bedauern ihrer Enkelinnen keine Kuchen und Torten mehr. Die Mädchen warfen Steinchen auf die staubige Straße.

»Was meint ihr, was für einen Schatz hat der Onkel wohl?«, fragte eine der Schwestern.

»Einen großen Schatz!«, antwortete die jüngste Schwester.

Mit ihren Armen beschrieb sie die genaue Größe.

»Von hier bis zum Mond!«, fügte sie hinzu.

»Da ist bestimmt viel Gold«, stellte die älteste Schwester fest und verfiel wieder in ihre Träumerei.

Die Mädchen wollten gerade aufstehen und den Feldweg entlanglaufen, als die Verwandten eintrafen. Mittags wurde reichlich gegessen. Die Erwachsenen unterhielten sich über die Dürre und den neuen Brunnen. Die Großmutter und die Tante vereinbarten am Ende, nur einen Brunnen bohren zu lassen und sich die Kosten zu teilen.

»Ich hoffe nur«, sagte die Oma, »dass Zoran Wasser findet. Manchmal kommt es mir so vor, als sei diese ganze Gegend ausgetrocknet. Als wäre das Wasser anderswohin geflüchtet.«

»Es ist sicher irgendwohin geflüchtet, wo bessere Menschen leben«, sagte der Onkel und blickte in den Himmel.

Zoran kam am nächsten Tag, um zu schauen, was es mit dem Wasser auf sich hatte. Er hatte zwei Lötdrähte in der Hand, die an einem Ende nach unten gebogen waren. Er nahm die Drähte an diesen improvisierten Griffen in beide Hände und begann, um den alten Brunnen der Großmutter zu laufen. Die Drähte reagierten schwach: Sie wichen nicht auseinander. Die Wasserader musste sich an einem anderen Ort befinden.

Zoran lief herum und suchte nach Wasser. Die Kinder sahen ihm zu. Sie waren sich einig, dass sie ihn merkwürdig fanden und nicht mochten. Er wirkte auf sie unehrlich und abweisend. Schließlich wollten sie ihm nicht mehr zusehen und gingen in den Schuppen, setzten sich auf einige Holzscheite und unterhielten sich darüber, wie man ein Monster erkennt und entlarvt.

»Vielleicht verändert sich sein Gesicht, wenn wir ihm diese Drähte wegnehmen«, sagte einer der Jungen.

»Ich glaube, die haben nichts damit zu tun«, sagte eine seiner Cousinen. »Gestern hatte er sie nicht und trotzdem sah er genauso aus wie heute.«

Während die Kinder im Schuppen beratschlagten, begleiteten die Erwachsenen mit besorgten Blicken den Brunnenbauer.

»Hier! Hier werden wir bohren«, sagte Zoran nach einer Weile.

Alle atmeten auf, nur die Kinder sahen sich gegenseitig besorgt an.

»Was, wenn er anstelle von Wasser das Gold findet?«, fragten sie sich.

5.

Zoran sagte, dass er die alten Brunnen zuschütten würde, nachdem der neue gebohrt worden sei. Die Kinder wollten sich nicht mit Bohren beschäftigen, obwohl sie darin lustige sexuelle Konnotationen erkannten. Sie wussten, dass der Brunnenbauer einen speziellen Lastwagen mit einem Bohrer besaß und dass er Beton rühren und eine Wasserpumpe einbauen würde. Von all dem hatten ihnen die Erwachsenen erzählt.

Während er die Bohrung vorbereitete, unterhielt sich Zoran mit den Erwachsenen über Politik (die neunziger Jahre hatten gerade begonnen). Über die Inflation (der Dinar war nie schwächer gewesen). Aber vor allem über das Verschwinden einiger alter Frauen aus dem Nachbardorf.

»Keine von ihnen litt an Demenz«, sagte die Großmutter besorgt. »Es ist schon komisch, dass Frauen einfach so verschwinden.«

»Sie lebten allein«, sagte der Onkel. »Ihre Kinder haben sich nicht um sie gekümmert, vielleicht sind sie ins Ausland gebracht worden.«

»Oder ins Altersheim«, fügte die Tante hinzu.

»Das ist merkwürdig«, sagte Zoran, »manchmal habe ich Angst, da ich auch allein lebe.«

»Du bist jung, dich rührt niemand an«, beteuerte die Großmutter.

Die Tante lachte.

»Vielleicht haben sie das Wasser mitgenommen«, sagte sie.

»Alles ist möglich«, sagte der Onkel. Doch er irrte sich. Einige Dinge waren keinesfalls möglich. Zum Beispiel war es unmöglich, dass Zoran plötzlich den Kindern sympathisch wurde. Die Kinder beobachteten ihn aufmerksam aus großer Entfernung.

»Wir sollten ihm auflauern«, schlug die älteste Enkelin vor.

Die anderen Kinder waren damit nicht einverstanden.

»Er lebt zu weit weg, es ist besser, wenn wir ins Feld gehen und später Maiskolben braten.«

Am Abend versammelten sich die Kinder um das Feuer und lachten und spielten. Sie hörten auf, über Zoran nachzudenken, sie beobachteten nicht mehr, was er tat.

In der Nacht schleppte Zoran zwei Riesensäcke über ihren Hof. Zement? Bauschutt? Niemand konnte ihn sehen, alle schliefen. Die Kinder lagen aufgereiht wie ordentlich sortierte Zeitschriften – von der ersten bis zur letzten Nummer. Der Onkel war im Sessel eingeschlafen. Die Oma lag in ihrem Bett. Auch das benachbarte Ferienhaus lag im Dunkeln. Man konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Es gab keine Hunde, die wegen Zoran hätten anschlagen können. Niemand hatte einen Hund, da hier niemand mehr wohnte. Wer hätte den Hund füttern sollen? Die Kinder hätten schon gewollt, aber Kinder wollen allerlei.

Im Schutz der Smolućaer Nacht setzte Zoran seine Beschäftigung mit den Brunnen fort, die er am nächsten Tag zuschütten wollte. Er warf jeweils einen Sack in die beiden ausgetrockneten Brunnen. Eigentlich warf er sie nicht, nein – er ließ sie langsam an einem Seil bis zum Boden sinken. Bevor er begonnen hatte, sie herabzulassen, riss einer der Säcke ein wenig ein, doch man konnte nicht sehen, was sich darin befand. Er war leise, warf eine dünne Schicht Erde über beide Säcke, warf noch mehr Erde darauf und ging zurück nach Hause. Er stolperte kein einziges Mal, er kannte jedes Steinchen und jeden Hang – er war hier großgeworden, er kannte diese Gegend besser als alle anderen zusammen. Während er langsam den Hang nach oben ging, war er geistig völlig abwesend. Er dachte nicht über seine Kindheit nach. Er dachte nicht über seine Familie nach, nicht über seine Mutter und seinen Vater, die jeden Tag im Feld verbracht hatten. Sie pflegten, ihn in einem Fass zurückzulassen, oder sie banden ihn an einem Baum fest, damit sie sich nicht fragen mussten, wo er war und was er tat, während sie nicht auf ihn aufpassen konnten. Er wuchs heran, den Blick nach oben gerichtet, vom Boden des Fasses aus oder den dünnen Baum an einem Seil umkreisend. Doch war er wirklich je erwachsen geworden, hatte er es je geschafft, jenes Fass zu verlassen, die Knoten zu lösen und sich vom Baum zu entfernen? Hatte er es geschafft, sich von den verhassten Eltern und ihrer mangelnden Fürsorge zu befreien? Diesen Fragen stellte er sich nie.

Er lief langsam, die Steigung störte ihn nicht. Am nächsten Morgen setzte er seine Arbeit fort, als wäre in der Nacht zuvor nichts passiert. Doch er hielt es nicht lange aus. Er war erschöpft, man konnte es ihm ansehen.

»Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte er bald.

Es war nicht einmal Mittag. Die Großmutter klopfte ihm auf die Schulter.

»Du siehst schlecht aus, Zoran«, sagte sie. »Warum legst du dich nicht hier hin? Du kannst auch etwas essen.«

Zoran versuchte sich herauszureden, es gelang ihm jedoch nicht. Die Großmutter war hartnäckig, dann begann auch der Onkel zu drängen.

»Mutter hat Recht«, sagte er. »Leg dich doch etwas hin.«

»In Ordnung«, sagte Zoran, »in Ordnung, ich lege mich kurz hin.«

Die Kinder waren entsetzt. Sie wollten nicht, dass er sich in ihre Betten legte.

Während Zoran schlief, beschlossen die Enkel, zu den alten Brunnen zu gehen, um nachzuschauen, was der Feind ausgegraben und zugeschüttet hatte. Sie waren nervös, sie liefen über die Wiese um die Brunnen, sie liefen und liefen, und plötzlich erblickte eines der Mädchen etwas Glänzendes.

»Schaut mal«, sagte es.

Ein goldener, altertümlicher Ring glitzerte auf der Handfläche des ältesten Mädchens. Die Kinder versammelten sich um sie. Sie betrachteten das Schmuckstück voller Bewunderung, sie kamen aus dem Staunen kaum heraus.

»Der Schatz existiert wirklich!«, sagte das jüngste Mädchen.

»Dann existieren bestimmt auch die Marsmenschen«, stellte ihr Cousin fest.

Zoran schlief in unmittelbarer Nähe, ein Auge noch immer geöffnet, die Ohren gespitzt. Das Monster war aus dem Wald hervorgekommen und beschenkte die Kinder. Der Sommer näherte sich langsam seinem glücklichen Ende.

Pulsuz fraqment bitdi.

27,31 ₼

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