Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter

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1.Qualitätsbereich: Die Gestaltung positiver pädagogischer Beziehungen

(Beziehungen zwischen Kindern und Pädagog:innen)

Der Ganztag ist ein außerunterrichtliches Setting, in dem Kinder und pädagogische Fachkräfte Beziehungen gestalten, deren Qualität entscheidend dafür ist, dass Kinder sich wohl und sicher, in ihren Rechten anerkannt und wertgeschätzt sowie beim Verfolgen ihrer Interessen, Aktivitäten und Arbeiten unterstützt fühlen.

Kinder wünschen sich pädagogische Fachkräfte, die zusammen mit ihnen nicht nur eine rollenförmige Beziehung gestalten, sondern eine persönliche Beziehungsebene pflegen, die von Freundlichkeit und Respekt geprägt ist. Sie wünschen sich vertrauensvolle, emotional warme Interaktionen, in denen sie als ebenbürtig anerkannt und ernst genommen werden, Verantwortung übernehmen können und zur Partizipation eingeladen werden. Bei der Entwicklung und Festigung eines friedlichen und solidarischen Miteinanders wünschen Kinder sich starke Erwachsene, die sich um Gerechtigkeit bemühen und ihnen – wenn dies in der Perspektive der Kinder notwendig erscheint – bei der Konfliktlösung helfen.

Im negativen Gegenhorizont der Kinder steht es, wenn ihre Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten im Ganztag durch organisationale Regeln und Normen stark eingeschränkt werden und die pädagogischen Fachkräfte vor allem auf Gehorsam, Disziplin und Ruhe bestehen. Sowohl die Verlängerung von klassischen Unterrichtsprinzipien in die Hausaufgabenzeit als auch die Gestaltung des Mittagessens als Ruheübung und Fokussierung auf das Sattwerden belasten die Kinder. Bei der Pflege ihrer Freundschaften und dem Spielen miteinander wollen sie in der außerunterrichtlichen Zeit so wenig wie möglich von den pädagogischen Fachkräften gestört werden.

1.1In Lern- und Arbeitssettings von Pädagog:innen unterstützt werden, die aufmerksam und respektvoll an die Interessen und Bedarfe von Kindern anknüpfen

In Lern- und Arbeitssettings (z.B. der Hausaufgabenbetreuung oder von Projekten) wünschen Kinder sich pädagogische Fachkräfte, die daran orientiert sind, sie in einer freundlichen, entspannten und von Respekt geprägten Atmosphäre inhaltlich und auch moralisch zu unterstützen, sich dabei an ihren Ressourcen zu orientieren, sie mit ihren (Lern-)Besonderheiten wahr- und ernst zu nehmen und offen gegenüber ihren Ideen, Einfällen und Vorschlägen zu sein.

Kinder schätzen flexible, individualisierte Lern- und Arbeitssettings, in denen es auch um ihre Themen und Interessen, um ihre Bedarfe und Bedürfnisse gehen kann. Hausaufgaben gehören zwar nicht zu den Lieblingsaktivitäten der Kinder, doch sie sind froh, wenn sie bei deren Erledigung im Ganztag von geduldigen Fachkräften begleitet werden. Als ideal empfinden Kinder es, wenn sie in der Hausaufgabenzeit nicht länger sitzen bleiben müssen als nötig, aber auch, wenn sie länger konzentriert arbeiten können, falls sie die Zeit brauchen.

Empirisches Beispiel I: Lernzeit

Ganztag F, Teilnehmende Beobachtung


Abbildung 1: Klassenraum der 4. Klasse (hier von Kindern während eines Fotospaziergangs aufgenommen und anschließend verfremdet)

Die Kinder haben sich zur sogenannten Lernzeit im Klassenraum der Klasse 4 eingefunden. Es stehen 15 Tische mit je zwei Plätzen im Raum, die systematisch von vorn nach hinten in fünf Reihen und vom Fenster zur Wand in drei Reihen angeordnet sind. Insgesamt neun Kinder haben sich jeweils einzeln auf die Tische verteilt; eine Ausnahme bildet der dritte Tisch der Wandreihe, an dem zwei Mädchen zusammensitzen.

Vor den Kindern auf den Tischen befinden sich jeweils eine Trinkflasche und eine Federmappe. Ihre Ranzen stehen neben ihnen an den Tisch gelehnt. Vorne, ihnen zugewandt, stehen zwei Lehrerinnen, Frau Weiß und Frau Behrend, in Vertretung der eigentlich zuständigen Lehrerin. Hinter ihnen an der Tafel ist unter der unterstrichenen Überschrift »Plan« zunächst notiert: »Zirkelbild auf 1 weißes Blatt, AH M S. 46«. Darunter sind über die Breite der Tafel vier DIN-A4-Seiten aus weißem Papier geklebt, beschrieben mit Aufgaben. Diese sind oben auf der Tafel jeweils mit Kreide beschriftet, beispielsweise »AB D S. 23 Nr. 1« oder »AB M S. 23 Nr. 3 a, b, c«.

Das Setting für die außerunterrichtliche Lernzeit unterscheidet sich nicht von einem klassischen Unterrichtssetting: Da sie im Klassenraum stattfindet, in dem zwei Lehrer:innen anwesend sind und die Kinder zudem geordnet bzw. vereinzelt an Schultischen sitzen, wird die Lernzeit räumlich und personell als Fortsetzung des Unterrichts inszeniert. Die Kinder werden damit auch während der Lernzeit als lernende und arbeitende Schulkinder markiert, deren (Inter-)Aktionsradius auf die »Box« begrenzt ist.7 Auch die zu bearbeitenden Aufgaben an der Tafel vermitteln, dass die Lernzeit eine Verlängerung des Unterrichts darstellt, in der sich die Kinder weiter mit dem dort behandelten Stoff beschäftigen. Nahegelegt wird – unterstrichen durch die Sitzordnung – ein sitzender Einzelarbeitsmodus, in dem die Kinder maximal zu zweit arbeiten und sich auf die Aufgaben konzentrieren sollen. Bewegung im Raum und Zusammenarbeiten erscheinen hingegen nicht erwünscht.

Schließlich ist in dem räumlich-sozialen Setting ein starkes Hierarchiegefälle angelegt: Während die Lehrerinnen vorne stehen, die Klasse im Blick haben und die Hüterinnen der Aufgaben sind, sitzen die Kinder jeweils für sich und müssen zu den Lehrerinnen aufschauen. Durch die Aufgabenstellungen, die an der Tafel fixiert sind, wird zudem ihre Blickrichtung immer wieder nach vorne gelenkt.

Frau Weiß steht vorn in der Mitte des Raumes und diskutiert mit den Kindern, was diese aufhaben. Sie sagen, sie hätten etwas in Mathe. Frau Weiß dreht sich um, deutet auf die Tafel und sagt, dass sie diese Arbeitsblätter aufhätten, die an der Tafel angeklebt sind. »Da macht ihr einfach weiter.« Die Kinder stöhnen kollektiv und holen ihre Hefte, Stifte und Zirkel heraus. Frau Behrend steht am Rand und schaut zu.

Timur, der hinten rechts in der Wandreihe (am Tisch vor mir) sitzt, meldet sich und Frau Weiß kommt sofort zu ihm. Er sagt: »Ich weiß nicht, wie man das macht.« Sie fragt kurz zurück: »Wie?« und er wiederholt die Frage. Sie vertieft sich in sein Arbeitsblatt und fragt, was er für die Aufgabe braucht. Sie diskutiert mit ihm und erklärt, was er machen soll. Es sind nur Ausschnitte zu verstehen, z.B.: »Dieses Bild soll später so aussehen, verstehscht? Das soll dann ein Kreis in dem Quadrat sein.« Sie holt sich einen Stuhl, setzt sich an die Seite seines Tisches und beugt sich darüber. Timur malt mit seinem Zirkel und nach einer Weile sagt die Fachkraft: »Ja, genau, so, das geht grad noch.« Er malt weiter und fragt dann leise (für mich unverständlich) wieder nach. Sie schaut es sich an und sagt: »Hättest du noch ein bisschen genauer machen können, aber Hauptsache, es ist einigermaßen.« Timur sagt nach einigen Augenblicken, in denen er weiterzeichnet: »Ah, der Radius muss gleich sein«, während die Lehrerin etwas anderes erklärt. Er malt noch etwas weiter, als sie kommentiert: »Genau so geht das. Jetzt muss nur noch schaffe, ä bissle genauer zu zeichne, ja? Und hier zum Beispiel hier, nicht so viel hien und her, sondern mit dem Zirkel geht man e:::inmal rum.« Timur: »Okay.« Lehrerin: »So da weil das isch ganz schlecht, wenn=de anfängscht hien und her zu machen.« Dann steht sie auf, geht zu Elif in der Reihe vor ihm und setzt sich neben diese.

Die Lernzeit beginnt mit einer weiteren Demonstration der schulischen (organisationalen und generationalen) Rahmungshoheit8. Sie wird explizit als Verlängerung des Matheunterrichts gerahmt: Die an der Tafel für alle gut sichtbar hängenden Arbeitsblätter symbolisieren gewissermaßen den Matheunterricht, dessen Fortführung auf die Vertretungslehrerinnen übertragen wurde. Mit den Blättern im Rücken geht der Auftrag bzw. das Mandat, an den Matheunterricht anzuschließen und ihn fortzuführen, auf sie über. Im darauffolgenden Stöhnen der Kinder dokumentiert sich, dass dieses Setting der Hausaufgabenbearbeitung in einem negativen Horizont steht. Zugleich scheinen die Kinder wie selbstverständlich davon auszugehen, dass es kein Entrinnen aus dem Setting gibt bzw. offener Widerstand zwecklos ist – sie fügen sich, wenn auch unter Protest.

Es scheint eine übliche Praxis zu sein, dass die Kinder sich melden, um sich die Hilfe der Fachkräfte zu holen bzw. um Kontrolle der von ihnen erledigten Aufgaben zu bitten. Gleichzeitig gehen die Lehrerinnen aber auch herum und lassen sich die Fortschritte zeigen, sodass deutlich wird, dass jedes Kind für sich arbeiten soll, bei Bedarf die Erwachsenen anfordern kann, allerdings auch jederzeit damit rechnen muss, im Hinblick auf seine Arbeitsergebnisse kontrolliert zu werden.

Timur, der die Lehrerin durch sein Melden zu sich gebeten hat, rahmt sich selbst in Bezug auf die zu erledigende Aufgabenstellung als unfähig und unwissend. Er fordert unmittelbar die Soforthilfe der Lehrerin an, ohne zuvor Eigenanstrengung demonstriert zu haben.

Die enge, kritische Begleitung von Frau Weiß wird von Timur akzeptiert, was sich in den wechselseitigen Bezugnahmen dokumentiert: Indem er fortlaufend die Lehrerin etwas fragt, hält er sie an seinem Tisch bzw. an seiner Seite. Auch hier dokumentiert sich die performative Aufführung und Sicherung eines Hierarchie- und Wissensgefälles: Während Timur sich in der Rolle des Lernenden, Unfähigen und Fragenden zeigt, der probiert, der Aufgabe gerecht zu werden, agiert Frau Weiß in der Rolle der Wissenden, Lehrenden und Bewertenden, ohne deren Hilfe Timur die Aufgabe nicht würde angemessen lösen können. Sie lobt wenig, sondern tadelt und bewertet und inszeniert sich damit als diejenige, der das Recht zusteht, über (un-) erwünschte Umgehensweisen mit dem Zirkel bzw. richtige und falsche Ergebnisse zu urteilen. Als Timur auf eine Erkenntnis verweist, die er gewonnen hat (»Ah, der Radius muss gleich sein«), gewährt die Lehrerin ihm kein Lob. Damit entsteht der Eindruck, dass vorrangig die schnelle, korrekte Lösung der Aufgabe und die Exaktheit der Zeichnung im Vordergrund stehen und weniger die Lernerfahrung und der Erkenntniszugewinn seitens eines Schülers.

 

Auch Kevin, am hintersten Tisch der mittleren Reihe, malt konzentriert einen Kreis mit seinem Zirkel. Er hält das Zeichengerät mit beiden Händen und dreht den minenbestückten Stab langsam um den mit einer Nadel auf dem Papier fixierten Stab. Dann justiert er den Abstand der beiden Stäbe etwas weiter, vollzieht noch eine Drehung mit dem Zirkel und nimmt beide Stäbe dann sehr eng zusammen. Er drückt stark auf das Papier auf, sodass die Mine plötzlich bricht, woraufhin Kevin laut und in einem überrascht-enttäuschten Tonfall »nei::n!« ruft. Er nimmt den Zirkel hoch, hält ihn sich nah vor das Gesicht und betrachtet ihn eingehend. Als er die Mine gerade herauspult, kommt Selma aus der Fensterreihe zu ihm gelaufen und fragt ihn etwas (unverständlich). Kevin fragt zurück, ob er ihr helfen soll. Sie stimmt zu und geht zu ihrem Platz zurück.

Kevin lässt seinen Zirkel liegen, folgt ihr und lässt sich ihren Zirkel reichen. Er malt konzentriert einen Kreis auf Selmas Blatt, während sie zuschaut. Dann setzt er ab, sagt nüchtern »zu klein« und fragt: »Hast du einen Radiergummi?« Sie gibt ihm einen, woraufhin Kevin auf dem Blatt radiert, sich wieder darüber beugt und einen weiteren Kreis zeichnet. Er dreht einige Kreise mit dem Zirkel und fragt dann: »So?« Beide Kinder diskutieren kurz leise und Kevin radiert erneut. Dann setzt er noch einmal an, zeichnet einen weiteren Kreis und fragt wieder: »So?« Dabei richtet er sich auf, dreht sich zum Gang und geht, während Selma »Danke!« sagt, mit gelassenem Gesichtsausdruck zurück zu seinem Platz. Dort setzt er sich hin, nimmt seinen Zirkel und lässt verlauten, dass er auch etwas mit diesem malt. Selma wendet sich derweil ihrem Blatt zu.

An seinem Tisch angekommen, sagt Kevin leise zu sich selbst: »Ich mach auch was mit dem Zirkel.« Nach einer kurzen Diskussion mit mir, bei der Kevin mich fragt, ob ich schon viel geschrieben habe, widmet er sich erneut seiner Zeichnung und fragt Timur, ob er schon mal eine Spinne mit dem Zirkel gemacht habe. Dieser bejaht und Kevin fragt ihn: »Was denkst du, was mach ich?« Timur: (»Eine Sonnenblume?«)

Kevin wirft lächelnd ein: »Sonnenblume, von Pflanzen gegen Zombie.« Timur antwortet: »Dann musst du aber den Mund aufmachen.« Daraufhin Kevin: »Wie macht man diese Blumenspuren noch mal?«, woraufhin Timur etwas murmelt und Kevin »nein« sagt. Kevin zeichnet weiter und sagt zu sich: »Das sieht komisch aus.«

Nachdem beide etwas weitergezeichnet haben, sagt Kevin: »Ich weiß, was das sein könnte. Diese Blume von Pflanzen gegen Zombies eins zwei.« Timur fragt nach: »Die wo so? Nein Drei?« Kevin lächelt und antwortet: »Nein, diese Pusteblume, diese grüne da, die wo die dann so zurückschnippt.« Er summt und zeichnet weiter mit dem Zirkel Kreise. Beide Jungen konzentrieren sich zwei Minuten lang still auf ihre Blätter, Kevin auf sein Bild und Timur auf sein Arbeitsblatt.

Dann lacht Kevin stolz: »Ohohoho«, zeigt Timur sein Bild und sagt: »Guck mal, wie horror das aussieht.« Er lächelt und hält das Blatt auch in Richtung Yola, die es sich interessiert anschaut. Dann steht er auf, geht zu Timur, stellt sich vor dessen Tisch und nimmt sich ganz selbstverständlich einen roten Stift aus dessen Mappe. Damit geht er zurück und zeichnet in das Gesicht der Blume vier rote, senkrechte Striche. Dann zeigt er die Blume erneut Timur und sagt: »Guck mal, das ist die Horrorversion.« Timur schaut es sich interessiert an.

Abbildung 2: Zeichnung mit Zirkel: Die Horrorversion einer Blume

Im konzentrierten Umgang von Kevin mit dem Zirkel dokumentiert sich sein Interesse an dessen Funktionsweise. Er erprobt verschiedene Einstellungsgrößen und beobachtet die Wirkung seiner Justierungen. Mit der für alle hörbaren, melodramatisch anmutenden, überrascht-enttäuschten Reaktion auf den Bruch der Mine, den er durch sein starkes Aufdrücken provoziert hat, zieht er Aufmerksamkeit auf sich. Kevin zeigt damit für die Anwesenden wahrnehmbar an, dass er mit dem Gerät gearbeitet hat, aber auch, dass er im Moment nicht weiterarbeiten kann, sondern den Zirkel reparieren muss.

Selma reagiert darauf, geht zu Kevin und initiiert ein Gespräch; indem Kevin anbietet, ihr zu »helfen«, legitimiert er sowohl ihr als auch sein Aufstehen und (im Unterrichtssetting) unerwünschtes Verlassen der eigenen Box. Durch den Impuls von Selma angeregt, inszeniert Kevin sich nun als Helfer für Kinder, die nicht über seine Expertise in der Zirkelhandhabung verfügen. Er schlüpft quasi in die zeigende Rolle einer Lehrperson und verschafft sich damit mehr Bewegungsfreiheit. Die Lehrerinnen scheinen – angesichts der Rahmung des Helfens in schulischen Dingen – die Interaktion zwischen Selma und Kevin zu tolerieren. Solange auf der Vorderbühne9 der verlangten Tätigkeit des Zeichnens mit dem Zirkel nachgegangen und ein prosoziales Verhalten an den Tag gelegt wird, scheinen sich also Freiräume für die Kinder zu eröffnen.

Homolog zur Sequenz mit Selma zeigt sich auch hier die Orientierung der Kinder daran, sich mit anderen auszutauschen, sich ihre Zeichnungen zu zeigen, sie zu kommentieren und einander zu helfen. Während Timur zwar handlungspraktisch bei seiner Aufgabe bleibt, wird in der Diskussion mit Kevin das gemeinsam geteilte Interesse daran deutlich, den Zirkel (auch) explorativ zu nutzen, verschiedene Handhabungen mit ihm auszuprobieren und etwas anderes auf das Papier zu bringen als die vorgegebenen und eingeforderten mathematischen Figuren. So dokumentiert sich im Räsonieren über Spinnen, über die Pflanzen und Zombies das Interesse daran, die medialen Erfahrungen eines Computerspiels (»Pflanzen gegen Zombies 2«) zu bearbeiten.

Kevin scheint einerseits an der Aufmerksamkeit des anderen Kindes interessiert zu sein, an dessen Rückmeldungen, aber auch an dessen Meinung und Hilfe. Er adressiert Timur als interessiertes Gegenüber, wobei das Bild in der Rezeption durch den anderen und in der Auseinandersetzung mit ihm erst entsteht. Beide sind an der Interaktion mehr interessiert als an der pflichtbewussten Erledigung der Hausaufgaben. Die Kinder ko-konstruieren eine Situation, in der sie sich als Wissende und als Experten in Szene setzen – nicht in Bezug auf das unterrichtlich gerahmte Thema (die Matheaufgaben), sondern in Bezug auf eine konjunktive (mediale) Erfahrung der Peers.

Interessant ist zudem, dass sie sich in der Lernzeit wiederum an der Grenze zwischen erlaubtem bzw. nicht erlaubtem Verhalten bewegen. Auf der Vorderbühne hantiert Kevin mit dem Zirkel auf seinem Blatt, aber auf der Hinterbühne bearbeitet er nicht die Matheaufgabe, sondern malt die »Horrorversion« einer Blume. Es handelt sich damit zum einen um ein verdeckt oppositionelles Verhalten in Bezug auf die Erwartungen der Lehrpersonen; zum anderen erfüllt Kevin aber auch die an ihn gerichtete Aufgabe: Es geht darum, exakt zu zeichnen, um handwerkliches Geschick und um die Verhältnisse der Kreise zueinander – nur, dass dies hier mit der kreativen, selbst gestellten Aufgabe verbunden wird, eine »Horrorblume« aus einem Computerspiel mittels Zirkel darzustellen (siehe Abbildung 2).

Empirisches Beispiel II: Hausaufgaben

Ganztag E, Teilnehmende Beobachtung

Maike und Laura sitzen im Hausaufgabenraum nebeneinander an zwei Tischen, dem Fenster zugewandt; vor ihnen liegen jeweils ein Heft und eine Federmappe, der Ranzen steht neben ihnen am Boden. Außer dem Forscher befindet sich niemand weiter im Raum. Laura zeigt auf ihr Heft, zählt laut und schreibt dann etwas auf, während Maike aufsteht, etwas aus ihrem Ranzen holt und sich dann wieder hinsetzt. Sie schaut erst zu Laura, dann auf deren Heft und widmet sich schließlich ihrem Heft, in dem sie zu schreiben beginnt. Maike holt einen neuen Stift, schaut zu Laura, radiert etwas und lacht laut auf. Dann guckt Laura wiederum zu Maike, wie diese etwas ausfüllt. Beide wenden sich wieder ihrer Aufgabe zu und schreiben intensiv weiter. Maike guckt immer wieder kurz zu Laura und wendet sich dann ihrer Aufgabe zu. Laura: »Weißt du, was da reinkommt?« Maike: »Nein.« Laura hält beide Hände mit den Fingern ausgestreckt vor sich hoch und fragt: »Es müssen sechs weg sein, aber es sind noch sechs da.« Sie stockt, nimmt beide Hände herunter, hebt dann abwechselnd immer wieder eine hoch und guckt sie an. Auch Maike zählt flüchtig mit den Fingern der rechten Hand auf dem Tisch und füllt dann wieder etwas in ihrem Aufgabenheft aus. Beide schreiben konzentriert weiter.

Paula (Pädagogin) betritt den Raum, geht zu den beiden, schaut ihnen über die Schulter und fordert sie leise, aber bestimmt auf, sich weiter auseinanderzusetzen. Sie schiebt die Stühle und assistiert Laura dabei, samt ihren Arbeitsmaterialien einen Platz weiter rechts einzunehmen. Daraufhin arbeiten beide kurz still weiter, nehmen die Konversation aber wieder auf, sobald die Fachkraft aus dem Raum gegangen ist. Beide heben den Kopf und schauen aus dem Fenster, vor dem ein Auto hält, aus dem Robert (Pädagoge) steigt. Dieser kommt am Fenster vorbei und grüßt mit einem Lächeln, das die Kinder erwidern. Laura fragt, als wäre kein geschlossenes Fenster zwischen ihnen, ob er Kinder mitgebracht hat. Das hat Robert offenbar nicht gehört und geht weiter. Beide Mädchen stehen dann immer wieder auf und schauen zu dem anderen. Sie unterhalten sich und lachen immer wieder dabei. Als sie sich gegenseitig versichert haben, mit den Matheaufgaben fertig zu sein, legen sie die Hefte in die Mitte zwischen sich und holen ein neues Heft heraus. Sie bringen mir dann das Heft, zeigen auf eine Aufgabe und fragen, was man da machen soll. Ich bestätige, als Laura richtig vorliest: »Text lesen und ergänzen«. Nachdem wir geklärt haben, was »ergänzen« im Zusammenhang der Übung bedeutet, fährt Laura mit Schreiben fort.

Erneut kommt Paula herein und wendet sich den beiden zu. Sie beugt sich über die Mathehefte, die schon »fertig« in der Mitte liegen, und es scheint so, als kontrolliere sie die Aufgaben. Nach einigen Augenblicken setzt sie sich zwischen die beiden und studiert aufmerksam die Hefte, während Maike und Laura an ihren Texten weiterschreiben. Laura sagt laut zu Maike: »Maike, ich bin bei ›ankommen‹« (offenbar eine Stelle in der Übung), was diese bestätigend zur Kenntnis nimmt, während beide konzentriert auf ihre Hefte fokussiert sind und schreiben. Paula korrigiert dann eine Matheaufgabe von Laura, wobei sie sich ganz ruhig und zugewandt mit ihr unterhält. Dabei zeigt sie auf verschiedene Aufgaben und kontrolliert; Maike zählt immer wieder nach, radiert auch dann und wann etwas aus und schreibt etwas Neues auf.

Die beiden Mädchen gestalten das Erledigen der Hausaufgaben hier als etwas, das sowohl jede für sich macht als auch beide gemeinsam bzw. in Interaktion miteinander erledigen. Sie ko-konstruieren eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre, in der soziale Interaktion und Austausch nicht im Widerspruch zur individuellen Aufgabenbearbeitung stehen. Dabei scheinen sie die Anwesenheit der jeweils anderen zu genießen, was sich im nahen Beieinandersitzen und in den mehrfachen gegenseitigen Bezugnahmen dokumentiert. Es gelingt ihnen, in stetiger Verbindung miteinander zu bleiben und gleichzeitig in ihren Heften zu arbeiten. Dass sie sich über einen längeren Zeitraum allein im Raum befinden, signalisiert, dass ihnen selbstständiges Arbeiten grundsätzlich zugetraut wird.

Wenn die Fachkraft die Mädchen auseinandersetzt und damit zum Ausdruck bringt, dass dies ihrer Meinung nach einen Widerspruch zur erwartungsgemäßen Erledigung der Hausaufgaben im jeweils eigenen Heft darstellt, ist dies eine Opposition gegenüber der Orientierung der Kinder am sozialen Miteinander. Indem die Fachkraft einen leeren Platz zwischen den Mädchen schafft, markiert sie zudem, dass sie über die Macht verfügt, die Positionierung der Körper sowie die Nähe und Distanz zwischen den Kindern zu bestimmen.

 

Im Folgenden lassen sich Homologien herausarbeiten: Während die Kinder die Relevanz der sozialen Konstituierung der Hausaufgabenzeit unterstreichen, indem sie sich wieder unterhalten und den ankommenden Pädagogen zuerst nach den anderen Kindern fragen, ist die Fachkraft auch beim zweiten Hereinkommen zunächst wieder auf die pflichtgemäße individuelle Aufgabenerledigung fokussiert.

Das Interesse der Kinder an gegenseitigem Austausch wird im weiteren Verlauf von der Pädagogin aber nicht unterbunden oder getadelt; vielmehr gesteht sie den Kindern zu, beides miteinander zu vereinbaren, solange die Hausaufgaben gemacht werden. Sie initiiert nicht nur eine intensive soziale Interaktion mit den Mädchen, sondern sorgt auch dafür, dass die Hausaufgaben korrekt sind. Dabei agiert sie nicht in einer belehrenden, ermahnenden, sondern einer zugewandten, die Kinder unterstützenden Rolle.

Empirisches Beispiel IIIa: Mehr Zeit für Hausaufgaben

Ganztag E, Teilnehmende Beobachtung

Nach der Hausaufgabenzeit gehen die Kinder im Ganztag E, wie jeden Tag, in den nahe gelegenen Wald. Auf dem Weg gehen zwei Mädchen, die die vierte Klasse besuchen, neben der Forscherin, die sich erkundigt, wie sie die Regelung mit den Hausaufgaben finden. Ruth sagt: »Manchmal reicht die Zeit nicht und wir sind noch nicht fertig. Das ist doof, dann muss ich das am Abend zu Ende machen.« Lotte stimmt ihr zu: »Ich will zwar dann auch raus in den Wald, aber auch fertig machen. Meine Mama findet das auch blöd, wenn sie mir abends noch mal helfen muss.« Die Forscherin fragt nach: »Wie könnte man das anders machen?« Die beiden lachen und sagen: »Weniger Hausaufgaben wär gut.«

In diesem kurzen Gespräch dokumentiert sich, dass die Kinder vor der Herausforderung stehen, ihre Orientierung daran, die Aufgaben für die Schule pflichtgemäß zu erfüllen, und ihren Wunsch, frei zu haben, auszubalancieren. Belastend scheint vor allem zu sein, wenn es keine klare Trennung gibt und der Druck, sich mit den schulischen Aufgaben befassen zu müssen, auch nach der (Frei-)Zeit im Hort und am Abend in der Familie wieder zum dominanten Thema wird.

Empirisches Beispiel IIIb: Mehr Zeit für Hausaufgaben

Ganztag D, Briefbox

Ähnlich äußern sich auch zwei Kinder des Ganztags D, die Karten mit Wünschen in die Briefbox geworfen haben:


Abbildungen 3 und 4: Wünsche

»Ich wünsche mir das Hausaufgaben seit lenger bleibt bis wir unsare Hausaufgaben fertig Haben.«

»Ich wünsche mir dass man so lang hausaufgaben macht wie man wiel.«

Auch hier dokumentiert sich, dass es den Kindern vor allem um Selbstbestimmtheit und eine Form der Hausaufgabenbetreuung geht, die sich an ihren individuellen Bedarfen orientiert. Im negativen Gegenhorizont steht eine allgemeine und feststehende Hausaufgabenzeit, also eine organisationale Regelung, die relevanter ist als die Bedarfe und Wünsche der einzelnen Kinder.

Empirisches Beispiel IV: Beschwerdebriefe (Hausaufgaben)

Ganztag F, Briefbox

Im Folgenden sind schließlich noch zwei Briefe abgebildet, die Kinder in ähnlicher Ausführung in den verschiedenen Ganztagen in großer Zahl in die Briefboxen geworfen haben.


Abbildungen 5 und 6: Beschwerdebriefe Hausaufgaben

»Ich wünsche wir krigen keine Hausaufgaben«

»Ich möchte weniger Hausaufgaben. Hausaufgaben sind :P«

In ihnen dokumentiert sich in homologer Weise die Orientierung der Kinder daran, die Hausaufgabenzeit möglichst zu minimieren. Kein Kind hat in der Studie den Ort, an dem die Hausaufgaben gemacht werden, als Lieblingsort angegeben oder Hausaufgaben als eine Aktivität beschrieben, der es gern nachgeht. Im Gegenteil: Konventionelle Lernzeiten, in denen von den Lehrkräften aufgetragene Aufgaben abgearbeitet werden müssen, stehen eindeutig und durchgängig im negativen Horizont der Kinder und könnten aus ihrer Sicht abgeschafft werden. Solange sie allerdings gemacht werden müssen (vgl. das Beispiel IIIb), möchten die Kinder, dass sich die Hausaufgabenbetreuung im Ganztag an ihren individuellen Bedarfen und ihrem Wunsch, sie abschließend zu erledigen, orientiert.

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