Kitabı oxu: «Schon immer ein Krüppel»

Şrift:

»Schon immer ein Krüppel«

Benjamin Schmidt

1. Auflage, Mai 2020

© Edition Outbird

www.edition-outbird.de

www.weristdieserschmidt.de

Herausgeber: Tristan Rosenkranz

Illustrationen: Franziska Appel

Grafikdesign: Tobias Giese, Benjamin Schmidt

Autorenfoto: Stef Schmidt

Lektorat: Vanessa-Marie Starker, Tristan Rosenkranz

ISBN: 978-3-969171-45-5

Preis: 13,-€

Alle Rechte vorbehalten.

Und manchmal fühle ich mich noch fremd, verlassen und hoffnungslos verzweifelt. Dann bin ich immer froh, nicht zusätzlich noch erkältet zu sein.

Kapitel 1: Flashback: Prolog

Kapitel 2: Heimkehren

Kapitel 3: Benniä

Kapitel 4: Das Unterding

Kapitel 5: Geschwisterliebe

Kapitel 6: Dazwischen

Kapitel 7: Flashback: Normale Menschen

Kapitel 8: Hosenwechsel

Kapitel 9: Flashback: Ein bisschen Verachtung

Kapitel 10: Vergangenheit

Kapitel 11: Lügen haben dürre Beine

Kapitel 12: Flashback: Sexuelle Dysfunktion

Kapitel 13: Füße still halten

Kapitel 14: Ein gelungener Abend

Kapitel 15: Dazwischen II

Kapitel 16: Mood for a day

Kapitel 17: Flashback: Anleitung zum Verrücktwerden

Kapitel 18: Ein offenes Buch

Kapitel 19: Ewige Wiederkehr

Kapitel 20: Weil wegen Eddi

Kapitel 21: Daszwischen III

Kapitel 22: Der Entrüstete

Kapitel 23: Fatum

Kapitel 24: Flashback: Nekrolog

Kapitel 25: Die Liebe macht das nicht

Kapitel 26: Flashback: Epilog

Kapitel 27: Ein Neuanfang

Flashback: Prolog

Das Licht geht wieder an. Ich schwebe auf dem Rücken, irgendwo zwischen Realität und den verworrenen Träumen meines Unterbewusstseins. Licht an, Licht aus, Licht an. Ich gewöhne mich bereitwillig an jenen betäubenden Schmerz, der meinen Körper bei jeder Erschütterung durchfährt. Um einiges heftiger befällt mich das Bewusstsein, dass dies kein Traum sein kann. Ich lebe noch, bin wieder hier. Hier, wo wir alle sind, ob wir nun wollen oder nicht. Willkommen zurück. Fuck off!

Meine Verzweiflung überschwemmt die weißen Flure. Die Scham um das Gefühl meiner Einsamkeit erdrückt mich und je mehr Menschen sich um mich scharen, desto schwerer wird sie. Es will und will mir einfach nicht gelingen, die mich überströmende Flut von Ereignissen als real zu akzeptieren.

Meine Eltern sind hier. Ihre Mienen wertfrei, vorwurfslos. Sie sind einfach da und schauen auf mich herab. Ich bin der Meinung spüren zu können, dass sie mich in diesem Moment sehr lieben. Nur ganz tief unter der Oberfläche erkenne ich die Angst, die unruhige Sorge und den Schmerz, der an ihren Gefühlen kratzt und schabt und Furchen hinterlässt. Aber sie sind da und lieben mich. Nur darum geht es, nur darum. Licht aus. Licht an.

Ich schwebe. Über mir eine nie enden wollende Reihe Leuchtstoffröhren. Schwindel. In meinem Kopf ein kristallenes Kaleidoskop aus grellem Schmerz. Ich schließe die Augen, drücke die Lider so fest ich kann zusammen. Licht aus. Und wieder an!

Eine neue Umgebung formt sich um mich herum. Eine Frau in Weiß proklamiert, bald mit der Narkose zu beginnen und verspricht mir Träume der erquicklichsten Sorte.

Ich frage sie, was für Träume das denn wären.

Welche ich denn haben wolle? So ihre Gegenfrage.

Ich antworte, mich an die Gestade von Lethe zu wünschen, um einen Moment nur das Elysium zu erblicken und bemühe mich, es bedeutungsvoll klingen zu lassen.

Elysium und Lethe seien leider aus. Ob die finnischen Strände von Helsinki eine Alternative wären?

Egal, Hauptsache weg von hier.

Licht aus.

Die folgenden Wochen beherbergen mich und mein Leben in diffusem Trott, an dem ich nur als Zuschauer teilzunehmen scheine. Ständig sehe ich mich wach werden. Das Gesicht schmerzverzerrt. Der Körper erschlafft, nicht in der Lage, sich zu drehen und zu wenden. Die Beine taub, gefühllos, unbeweglich. Versuche, mich aufzurichten, schlagen fehl. Ich existiere nur noch in der Waagerechten. Wenn ich nur sitze, wird mir schwarz vor Augen.

Sehnen müssen täglich gedehnt, Psychiater immunisiert und gelangweilt werden. Die Zeit verrinnt sichtbar in Urinbeuteln und stinkt. Ein Dauerkatheter führt in meine Harnblase. Unter meinen Arsch schiebt man Schüsseln. Mal bleiben sie leer, mal nicht. Ich habe vergessen wie man scheißt. Mir wird erklärt, dass ich gelähmt sei, mich voraussichtlich an einen Rollstuhl gewöhnen müsse. Inkompletter Querschnitt. Aneinandergereihte Standbilder. Wie beim Betrachten alter Dias, scheinbar aus einer anderen Zeit, scheinbar aus einem anderen Leben.

Manchmal ist der Schmerz unerträglich. Vor allem in der Nacht leide ich ausschweifend. Meine Albträume zerrt es unsanft in die Wirklichkeit und ich klatsche aus schwindelerregender Höhe schweißnass auf mein Krankenbett. Oft gerate ich in Panik. Beim Aufprall ist mir immer so, als würde ich ersticken. Die Dunkelheit kriecht aus allen Ecken und Enden und beobachtet mich aus funkelnden Augen. Unfähig mich zu bewegen, bin ich für sie leichte Beute. Ich möchte mich drehen, mich abwenden. Ich kann es nicht. Licht und immer wieder Dunkelheit.

Die tägliche Dosis Morphin wird injiziert. Jedes Mal erfasst mich ein wärmendes Feuer von orgiastischer Intensität. Nicht einmal zwei Sekunden braucht es und jeder Schmerz ist verschwunden, jeder Muskel entspannt. Selbst die seelische Last wird mit einem Mal federleicht und fliegt mit jedweder Form mutloser Besorgnis einfach davon. Das trügerische Gefühl absoluter Zufriedenheit durchdringt mühelos das Bewusstsein. Ganz langsam senken sich die Lider, ich werde müde und falle in Morpheus‘ Arme, jedes Mal voller Hoffnung auf Erholung. Ich brauche dieses Gefühl, ich bin süchtig danach. Doch die schmerzfreien Zeiten verkürzen sich. Mein Körper schreit nach mehr Sorglosigkeit, nach mehr Schlaf, nach noch mehr Schwärze. Licht aus! Licht an. Licht aus. Licht an. Licht aus. Licht an. Licht aus. Licht an. Licht!

An das Waschen habe ich mich gewöhnt – daran, ausgeliefert zu sein. Meine Scham habe ich abgelegt. Desinteresse. Meinen Stolz verloren. Gleichgültigkeit. Dünn komme ich mir vor, furchtbar dünn. Wie Hundescheiße, die man vergeblich versucht auf einer Rasenfläche vom Schuh zu schmieren. In Therapiestunden langweile ich mittlerweile auch mich selbst. Deshalb füge ich meiner Biografie in den Gesprächen oft kleine Details hinzu, um interessanter zu erscheinen. Etwa, dass ich mich immer sofort in Menschen verliebe, wenn ich von meinen Gefühlen erzähle und sich das nicht selten in exhibitionistischen Übergriffen und spontaner Masturbation äußern würde. Oft werde ich dann gefragt, ob ich seit meinem Aufenthalt auf der Station denn schon einmal versucht hätte, mich selbst zu befriedigen und ich langweile mich erneut.

Die Spritzen sind zu Pflastern, die Schmerzen zur regulären Form des Fühlens geworden, das Krankenhaus zu meinem Zuhause. Manchmal bekomme ich dort auch Besuch. Meine Eltern sehen nach mir, Freunde versuchen, mich aufzumuntern. Ich bin mir nie sicher, ob sie tatsächlich anwesend sind. Ich teile meiner Therapeutin mit, mich schon etwas besser zu fühlen und sie spricht sich für einen Aufenthalt in einer Psychiatrie für mich aus.

Nach zwei Wochen hell und dunkel, unter Wahnsinnigen mental völlig austherapiert, werde ich endlich an eine Rehaklinik überwiesen. Nach wenigen Tagen schon fühle ich mich nicht mehr fremd. Mein neues Heim, hier gehöre ich hin. Überall Rollstuhlfahrer, eine Welt, dominiert von Kranken und Behinderten. Alles Gesunde und Normale gehört ab sofort der Minderheit an. Wir versammeln uns abends im Außenbereich der Klinik, trinken Bier und geschmuggelten Schnaps. Wir rauchen, machen Witze, leben ziellos und ungewiss herum, es ist wie gemacht für mich. Etwas Fantasie nur und die Tatsache gelähmt zu sein, lässt sich erstaunlich leicht übersehen.

Allein die Nächte sind real und stellen mich vor vollendete Tatsachen. Wenn ich wach werde, schweißgebadet, der Alkohol auf meine Blase drückt und ich hilflos im Bett nach der Notruftaste suche, nicht im Stande im Stande, einfach aufs Klo zu gehen, dann hat mich die deprimierende Wahrheit wieder.

Ein kleiner Kalender soll mir dabei helfen, mich selbst zu katheterisieren. Ich führe ihn aber zu schlampig und durch mehrere Flaschen Bier gerät der ganze Plan durcheinander. Das komme mit der Zeit, sagen sie. Doch wie soll man sich daran gewöhnen, per Handywecker ans Pinkeln erinnert zu werden, an diesen irre langen Schlauch, den man sich durch den Harnkanal bis in die Blase zu stopfen hat? Auch was die Entleerung des Darms angeht, bin ich weiterhin auf Hilfe angewiesen. Jeden Tag ein demütigendes Ritual. Auch wenn die Pfleger dienstwillig versuchen, mir den Eindruck zu vermitteln, es sei das Natürlichste auf der ganzen Welt, weder erniedrigend noch ekelhaft, Scheiße hätten sie schon überall gehabt: an den Fingern, den Händen, an den Klamotten, sogar im Gesicht. Alles ganz natürlich. Völlig normal. Dann lächeln sie immer. Und mir wird auf ganz natürliche und völlig normale Weise schlecht. Licht an, Licht aus, Licht an, Licht aus, Licht an, Licht aus, Licht...

...an! Gewicht habe ich verloren, bringe nur noch die Hälfte von mir auf die Waage, so fühle ich mich. Doch das Essen hier ist scheußlich und ich nehme es nur noch aus reiner Gewohnheit zu mir. Die Tage immer gleich, bis in die letzte Minute durchstrukturiert: Physio, Muskelaufbau, Reizstrom, Bogenschießen, Schwimmen, Massage, Fitnessstudio, Psycho-Gequatsche. Wie soll man das alles nur aushalten? Oder viel schwieriger die Frage: Wie soll man es sonst aushalten?

Oberhalb der Gürtellinie wirke ich nun beinahe athletisch. Um alles, was darunter ist, steht es schlecht. Als würde er nicht mehr zu mir gehören, hängt mein Schwanz wie ein schlaffer Blutegel nur noch störend an mir herunter, taub und nutzlos zwischen meinen Beinen. Neunzehn Jahre alt und impotent, als wäre das mit dem Laufen nicht schon schlimm genug. Nicht laufen können ist das eine, aber nicht ficken? Ich versuche mir also mein zukünftiges Leben bei meinen Eltern zu Hause vorzustellen, eine Frau würde ich ja nun nicht mehr finden.

Die Sonne geht unter, die Sonne geht auf und auch ich mache die ersten Gehversuche. Fortschritte, ich kann es kaum glauben. Der Gedanke, vielleicht doch wieder auf den eigenen Beinen stehen zu können, verleiht mir in den nächsten Tagen eine ungeahnte Hoffnung. Bis zur völligen Erschöpfung spaziere ich am Rollator auf dem Reha-Gelände umher. Lächerliche Strecken zwar, aber jeden Tag schaffe ich es ein bisschen weiter. Mein Bestreben wächst über die Klinik hinaus. Familie, Freunde, ich vermisse sie, und der immer stärker werdende Wunsch nach Privatsphäre ist mir Beweis genug, dass ich auch ein bisschen meiner Würde wiedererhalten habe. Licht aus. Licht an.

Mit dem aufrechten Gang am Rollator erlange ich das Privileg zur Diskriminierung von Rollstuhlfahrern, diesem nörgelnden Pack. Ständig müssen sie sich mitteilen und mich in meiner Selbstherrlichkeit beirren. Ihre Wehwehchen, dies und das, pausenlos. Macht mich krank, sowas. Wie Geister auf Rädern schweben sie lautlos durch die Gänge der Klinik, mit gesenktem Blick oder starrem Lächeln. Sie warten vergeblich auf Heilung, sind weder tot noch lebendig. Und tief in ihnen nagt der Zweifel, ob ihr Leben tatsächlich noch lebenswert ist. Diese ganze krankhafte Atmosphäre droht mich zu verschlingen. Ich muss mich ihr entziehen. Ich weigere mich strikt, an Rollstuhlübungen teilzunehmen, ich distanziere mich von Rollstuhlfahrern. Ich bin ein Läufer, ein Rollator-Läufer. Auch die Gruppentherapien sind ein Graus, die gemeinsamen Übungen im Schwimmbad besonders verhasst. Ich fühle mich dabei wie ein kranker Fisch in einem Becken mit epileptischen Karpfen.

Manchmal will mich mein Zimmergenosse zum Rollstuhlbillard oder zum Tanzabend überreden, weil wir ja alles, was Gesunde machen, auch können. Was für ein Spinner das ist. Wir laufen auf Rädern, tanzen auf Rädern. Wir spielen Tennis auf Rädern. Versuch‘s mal mit Fußball oder Stabhochsprung, du Spast! Mach das Licht aus. Morgen geht es wieder an.

Komplizierte Sache, das mit dem Gleichgewicht. Vor allem, wenn die Beine auf Lebenszeit eingeschlafen sind. Mit zwei zusätzlichen Krücken lässt sich der Weg zum Speisesaal aber weitestgehend unfallfrei bewältigen. Zwar muss man morgens loslaufen, um mittags da zu sein, und wenn man angekommen ist, hat man keinen Hunger mehr, sondern möchte nur noch vor Erschöpfung einschlafen, aber man demonstriert Willenskraft. Das ist wichtig für die Psychotherapeuten, die geraten sonst in Panik. Ein Rollstuhl allerdings ergibt zumindest für längere Strecken mehr und mehr Sinn. Ich höre es nicht gern, aber ich werde mich wohl damit arrangieren müssen, ihn als einen Teil von mir anzunehmen, den ich brauche, um mobil zu bleiben. Licht. Aus. Licht. An. Licht. Aus. Licht. An. Licht. An. Licht. An. Licht. An!

Heute habe ich in den Spiegel gesehen und mich ganz seltsam gefühlt. Die Spiegel hier hängen tiefer und sind leicht zum Boden hin geneigt, damit man sich im Rollstuhl sitzend besser darin sehen kann. Seit Monaten schon habe ich eine Rasur nötig. Meine Augen sehen müde aus, wie die eines alten Mannes. Ein merkwürdiger Kontrast zu meinem sonst eher kindlichen Gesicht. Ich meine, mich nicht richtig erkennen zu können. Alles ist wie in einem Traum, irgendwie undeutlich.

Das also bin jetzt ich. So werden mich die Menschen in Zukunft kennenlernen: an Krücken, im Rollstuhl. Sie werden mich bemerken, mich bemitleiden, manchmal nicht wissen, was sie sagen sollen. Sie werden fragen, was genau mir denn passiert sei. Und ich, ich werde ihnen direkt ins Gesicht lügen.

Heimkehren

Die Strahlen der Maisonne, die verhalten durch das getönte Autofenster schienen, weckten mich mit ihrer sanften und wärmenden Berührung, gerade als wir zum Stehen kamen. Ich kann die Erleichterung kaum beschreiben, die ich empfand, als ich meine Augen öffnete und mich in gewohnter Umgebung, auf dem Hof vor meinem Elternhaus, wiederentdeckte. Aber es war, als wäre ein lange verloren geglaubter Schatz aus Kindertagen plötzlich wieder aufgetaucht, oder als würde man aus einer Laune heraus ein beinahe in Vergessenheit geratenes Buch noch einmal lesen, von dem man nur noch wusste, dass es einem einstmals gefiel, nicht aber wovon genau es handelte.

Als mein Vater die Autotür öffnete, kam mir bereits meine Mutter entgegengestürzt, um mir das Gepäck abzunehmen und mich auf dem Weg zur Haustür zu stützen. Ich begrüßte sie mit einer zaghaften Umarmung. Ach, sie meinte es ja nur gut. Immer wieder fragte sie mich, ob mir das Laufen schwerfiele und dass ich es ruhig zugeben könnte. An der ersten Stufe nach drinnen sah ich meinen Bruder stehen. Er lächelte zurückhaltend.

Das Haus meiner Eltern, welches ich immer als das perfekte Heim empfunden hatte, stellte sich nun von A bis Z als unvorteilhaft heraus. Bis zur Haustür schon sechs Stufen und von da an noch zwei Treppen, jeweils mit dreizehn Stufen, bis zu meinem Zimmer im Dachgeschoss. Eine heikle Angelegenheit für einen Gelähmten.

Jeder meiner Schritte wurde von meiner Familie nervös überwacht. Als ich auf halber Treppe um ein Haar eine der Krücken verlor, zuckten alle vor Schreck zusammen. Wie in einem Horrorfilm. Meine Mutter schnellte mir panisch zur Seite und bot ihre Hilfe an. Um weitere Ausbrüche dieser Art zu vermeiden, setzte ich mich bei der nächsten Treppe auf die erste Stufe und drückte mich mit den Armen und dem bisschen Kraft in meinen Beinen rückwärts die Stufen empor. Es war nicht leicht, die besorgten Blicke zu ignorieren. Scheiße, ich nahm ja nur eine Treppe! Was gab es da schon zu sehen? Sollte das von jetzt an immer unter Beobachtung ablaufen?

»Was machen wir mit dem Rollstuhl?«, fragte mein Vater, dem wohl auch dämmerte, dass er hier wenig Nutzen haben würde. »Soll der in dein Zimmer oder was hast du dir gedacht?«

Ich hatte gar nichts gedacht. Es war kompliziert. Auf keinen Fall wollte ich immer jemanden rufen müssen, der mir den Rollstuhl ständig hoch und runter schleppen würde.

»Stell ihn doch in den Fahrradschuppen«, antwortete ich. »Im Haus nehme ich die Krücken und im Zimmer ist der Drehstuhl.«

»Wir tragen ihn dir auch nach oben«, schaltete sich meine Mutter dazu. »So fällst du noch hin.«

»Ach du Scheiße, Mama! Und wenn ich falle, steh ich eben wieder auf. Ich hab ja keine Glasknochen. Ab in den Schuppen damit«, erwiderte ich gereizt und setzte meinen Weg Stufe für Stufe fort.

Es war schon ein bisschen eigenartig, als ich wieder mein eigenes Zimmer betrat. Lange unbewohnt, das merkte man. Keine Spur Leben. Monotone Stille, erzeugt durch routinierte Instandhaltung ohne Nutzen. Meine Mutter verstand es, so lange aufzuräumen bis es ungemütlich wurde. Überall polierte und staubfreie Oberflächen, die sich nach einer Aufgabe sehnten, nach aufgeschlagenen Büchern, vollen Aschenbechern und leeren Flaschen.

Das Bett war gemacht. Zeitschriften und Notizzettel lagen in Stapeln sortiert auf dem Schreibtisch. Die Vorhänge wurden zurechtgerückt. Ich bewunderte ihren gleichmäßigen Faltenwurf. Meine Bücher standen in Bücherregalen.

What does this button do‹ von Bruce Dickinson, welches ich zu lesen vor Monaten begonnen hatte, lag peinlich akkurat auf meinem Nachttisch platziert. Meine Gitarren, alle der Reihe nach in ihrem Ständer. Vier an der Zahl. Die dazugehörigen Kabel ordentlich aufgewickelt. Ein seit Jahren ungenutztes Gästezimmer.

Die Minuten zogen sich in äonengleiche Längen, bis ich endlich verstand, dass hier mein Zuhause war. Erleichtert ließ ich mich in meinen Drehstuhl sinken und bewegte mich auf dem glatten Laminat im Zimmer hin und her. Ich schwang mich hinüber zu meiner Plattensammlung, glücklich darüber, endlich wieder das vertraute Geräusch der Nadel auf Vinyl zu vernehmen. Und wie selbstverständlich griff ich nach ›Wish you were here‹ von Pink Floyd.

Als die ersten Klänge aus den Boxen meines Plattenspielers ertönten, konnte ich für eine kurze, mit Träumen gefüllte Zeitspanne vergessen, dass ich krank war, dass etwas nicht stimmte und es mit der Entlassung aus der Rehaklinik noch nicht vorbei sein und ich noch eine Menge Kraft brauchen würde.

Auch während noch die traumhaften Melodiebögen von ›Shine on you crazy diamond‹ den Raum erfüllten, waren all diese Sorgen weit weg. Ich drehte die Anlage lauter, wollte den eigentlichen Zauber meines Zimmers genießen und die Dachterrasse betreten. Einen Ort, der mit so vielen schönen Erinnerungen behaftet war. Momente der Einsamkeit, des Nachts mit einer Flasche Wein dort draußen, nur ein paar Sterne und Musik, die von drinnen erklang. Mit Freunden habe ich dagesessen, ausgerüstet mit Konzertgitarren und Dosenbier. Lachend. Musizierend. Jeder Abend unvergesslich und doch kein einziger noch deutlich im Gedächtnis vorhanden. Unzählige Gespräche wurden hier geführt. Hier wurde gestritten, gescherzt und besoffen herumphilosophiert. In einer lange schon vergangenen Silvesternacht hatte ich hier zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. In einer anderen hatte eines hier mit mir Schluss gemacht. Wieso brauchten Menschen einen solchen Anlass, um eine mögliche Zukunft zu begehen oder zu zerstören? Und wie viele Chancen auf Konstruktion oder Dekonstruktion verpassten wir, während wir auf diesen Anlass warteten?

Ich unterbrach meine Gedanken, als ich unterdessen feststellte, dass die Tür nach draußen abgeschlossen und der Schlüssel verschwunden war. Ich griff in meine linke Hosentasche und zückte mein Mobiltelefon, einen uralten Apparat. An Kommunikation über Satelliten mit Leuten, die ein Gespräch mit Spam verwechselten, hatte ich wenig Interesse.

»Ja, hallo?«, ging meine Mutter ans Telefon.

»Hi Mama, sag mal, hast du den Schlüssel zur Terrasse abgenommen? Bring mir den mal bitte.«

»Ja... Wieso? Willst du raus?«

Sie schien nicht begeistert von meinem Vorhaben.

»Ja, na klar will ich raus. Ich bin doch immer hier draußen. Was war das für eine bescheuerte Frage?«

»Hm... na warte, ich bring ihn dir.«

»Gut. Danke.«

Ich legte etwas ungläubig wieder auf und wartete, bis meine Mutter zögerlich durch meine Zimmertür trat.

»Pass aber auf«, warnte sie mich, als sie mir widerwillig den Schlüssel überantwortete.

»Mama, was soll denn das jetzt? Meinst du ich verliere am Geländer das Gleichgewicht, oder was?«

»Nein, das nicht, aber... «, sie zögerte und lächelte gezwungen. »Ist ja gut. Geh nur.«

Nicht immer so empfindlich reagieren, ermahnte ich mich. Das hatte meine Mutter nicht verdient. Klar machte sie sich Sorgen, nach allem was passiert ist...

»Wir könnten ja gemeinsam hier oben Kaffee trinken«, rief ich ihr versöhnlich nach, bevor sie mein Zimmer verließ. »Alle zusammen, dann müsste ich nicht erst nach unten kommen. Es ist ja schön draußen und Platz ist auch.«

Dieser Vorschlag schien meine Mutter dann überglücklich zu machen und sie willigte freudestrahlend ein.

»Wirklich?«, fragte sie mich, als könne sie nicht glauben, welch traumhaftes Angebot ich ihr gerade unterbreitet hatte. »Es ist aber kein Kuchen mehr da, aber ich könnte uns ein paar Marmeladen-Toasts schmieren.«

»Wirklich jetzt, Mama? Ich komme nach Hause und ihr habt nicht einmal ein Stück Kuchen für mich? Schon gut, jetzt guck nicht gleich wieder so. Das war ein Witz! Toast ist wunderbar. Machen wir so.«

Der erste Tag zu Hause kam mir ziemlich lang vor, länger als sonst. Das gemeinsame Kaffeetrinken musste schon Stunden beansprucht haben. Bisher war es unser längstes und seltsamstes. Wie ein Theaterstück mit dem Titel ›Katastrophale Harmonie‹. Als hätte David Lynch einen Familienfilm gedreht oder so. Wir könnten mal wieder einen Ausflug machen, meinten meine Eltern, vielleicht auch mal etwas weiter weg. Aber schon noch Europa. Finnland kam mir dann in den Sinn, Helsinki. Die Gestade von Lethe mochte ich lieber nicht wieder anführen.

Ja, Skandinavien wäre schön. Nur nicht gerade jetzt. Sehr weitläufig da im Norden. Mit dem Rollstuhl ein bisschen anstrengend, nicht wahr? Vielleicht wenn ich etwas mehr bei Kräften wäre. Meinen Geburtstag könnte man aber mal wieder etwas größer feiern. Warum? Na, warum nicht? Was ich mir denn wünschen würde, wollten die Eltern wissen. Mein Geburtstag wäre noch sieben Monate hin, entgegnete ich verblüfft.

Ach ja, das Wetter! Und der Kaffee sei neu, schwärmte Mama, zwar etwas teurer als der alte, aber seit Kurzem kaufe sie nur noch diesen. Ich müsste mich irgendwo zur Physiotherapie anmelden, erinnerte mich Papa, der seiner Gewohnheit nach ein weniger banales und zweckmäßiges Thema anstoßen wollte. Mein Bruder Hagen war unterdessen total abwesend und hatte nichts weiter zu sagen. Tatsächlich sah er mich nicht einmal an. Auch nach dem Kaffee - ich fragte, ob er auf ein Bier noch bleiben wolle, bisschen zocken oder sowas - sparte er geizig mit Worten.

»Bandprobe«, war seine Antwort.

Ein wenig war ich schon enttäuscht, aber Lust mitzukommen hatte ich auch keine. Hagen spielte Schlagzeug in einer Death-Metal-Band und sein Musikgeschmack ließ nur wenig Kontrastprogramm zu. Einmal hatte ich schon das fragwürdige Vergnügen, live, allerdings nicht nüchtern. Ich wäre andernfalls auch der einzige bei klarem Verstand gewesen. Hagens Musik aus dem Nebenzimmer übertönte meine zumeist mühelos und oft verstand ich nicht, wie es ihm gelang, dieses grauenhafte Geballer überhaupt nur zu ertragen. High-Speed-Gewummer. Dauerrauschen. Gitarrengeschrammel. So reizvoll wie Baulärm oder wie der Sound dieser uralten Staubsauger, die auf schrullige Art und Weise an R2-D2 aus Star Wars erinnerten. Gesang war als solcher gar nicht auszumachen. Geräusche. Als müsste jemand bestialisch leiden. Die reinste Folter im doppelten Sinne. Der Sound wie ein Brodeln im Inneren eines Vulkans. Was hatten wir uns schon gestritten deswegen. Von wegen Geschmackssache.

Ich selbst spielte nämlich auch in einer Band. Woher diese musikalische Ader kam, war nicht nachvollziehbar. In unserer Familie hatte sonst niemand auch nur im Entferntesten etwas mit Musik zu schaffen. Außer vielleicht unser Vater, der gerne mal Rock Antenne hörte. Sport war da schon eher was, doch Hagen und ich hegten dem gegenüber eine entschiedene Feindseligkeit. Wir waren ganz normale Kinder und entwickelten uns daher naturgemäß in eine Richtung, ganz anders, als unsere Eltern es gerne gesehen hätten. Wurde Musik gar als zukünftiger Berufswunsch angeführt, war die mit heftigen Klischees angereicherte Argumentationswucht der Eltern in vollem Gange. Das sei doch kein richtiger Beruf: ein bisschen auf der Gitarre herumklimpern und saufen! Das würde uns beiden so passen. Drogen nehmen, sich die Nächte um die Ohren schlagen, Frauen schwängern und Gräber schänden. Für einen Diplom-Ingenieur und eine Professorin war der Beruf des Musikers gewiss ebenso bedeutsam, wie der am Burgergrill bei McDonald‘s.

Nun saß ich da, allein in meinem Zimmer, schob mich mit dem Drehstuhl zu meinen Gitarren. Ich griff zu meiner blauen Stagg, eigentlich nur eine Fender-Kopie. Meine allererste Gitarre. Für mich als Gitarristen nichts Besonderes. Für mich als Mensch etwas mit einer ganzen Serie von Emotionen Behaftetes. Wie es mit meiner Band nun weitergehen würde, wusste ich nicht. Die Bühnen der Welt waren wohl kaum barrierefrei und im Sitzen wurden sie wohl eher nicht gerockt. Wie sollte das auch aussehen? Resignierend seufzte ich und begann gedankenverloren und standardmäßig ›Stairway to heaven‹ auf meiner Gitarre zu zupfen. Selbst der Proberaum wartete mit einigen Treppenaufgängen auf mich. Und überhaupt der Weg zum Proberaum: Normalerweise nahm ich den mit dem Bus. Aber jetzt? Ginge das denn mit Rollstuhl? Gab es da nicht diese ausklappbaren Rampen?

Vater sah mir die ersten Schritte aus dem Auto nach.

»Kommst du zurecht?«, rief er bei heruntergelassenem Fenster.

»Es geht schon. Und du willst mich auch wirklich wieder abholen?«

Im Auto führte ich einen Showkampf darum, wieder mit dem Bus zurückfahren zu dürfen. Mein Gegner: Vater, der Widerspruch leistete und gerne bereit war, meine fehlende Selbstständigkeit zu unterstützen. Es sei nicht nötig, protestierte ich immer wieder, obwohl es mir doch sehr recht war. Ein Taxi kostete Geld und um in einen Bus zu steigen, fehlte es mir eigentlich weniger an Selbstständigkeit, das Problem war Selbstsicherheit.

Papa nickte.

»Ruf einfach auf dem Handy an.«

Dann verschwand der Wagen meines Vaters hinter der ersten Biegung. Ab hier ging es für mich alleine weiter. Mission: Zutritt zum Proberaum erlangen.

Ich betrat das schäbige Treppenhaus des halb verfallenen Gebäudes, das nur noch von Dorfkapellen und deren zweifelhaften Supportern belebt wurde. Mühsam bezwang ich die Stufen nach oben. Eine Hand am Geländer, die andere so fest an der Krücke, dass meine Knochen hindurchschimmerten. Da war sie, die eine schwarz gestrichene Tür unter noch sechs anderen weißen auf dieser Etage. Ich ging hindurch und was ich fand: nichts als gähnende Leere.

Andächtig und gleichzeitig angewidert betrat ich das hohle Innere, das sich vor mir beinahe unendlich lang erstreckte. Am Ende des Raumes befand sich das Fenster. Der entsetzliche Abgrund nach draußen. Der Weg in die knallharte Wirklichkeit.

In jeden Winkel des Raumes schleuderte sie ihr widerliches Licht. Ich konnte es nicht ertragen und doch bewegte ich mich darauf zu. Wehmütig durchschritt ich den Raum, einstmals Zufluchtsort, magische Festung, Quell der Ideen, Ritualplatz, wo man sich der Musik verschrieben hatte. Jetzt bot er mir keine Sicherheit mehr. Hilflos stand ich da, ausgeliefert. Am Fenster angekommen, riskierte ich einen Blick nach draußen. Das Licht war grell und die Sonne fiel mir wie ein Faustschlag ins Gesicht. Sie war warm, unangenehm warm. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich kniff die Augen zusammen, öffnete das Fenster, legte meine Hand auf das Fensterbrett, schaute nach unten, als mich plötzlich der Klingelton meines Handys aufschrecken ließ.

11,33 ₼
Janr və etiketlər
Yaş həddi:
0+
Həcm:
221 səh. 3 illustrasiyalar
ISBN:
9783969171455
Müəllif hüququ sahibi:
Bookwire
Yükləmə formatı:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip