Du weißt doch, Frauen taugen nichts

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Am frühen Nachmittag in Stockholm angekommen, packte ich meinen Rucksack im Bahnhofsgebäude in ein Schließfach, und genoss in dem Bahnhofscafé ein kurzes Fast-Food-Mittagessen, bevor ich mich in das Stockholmer Straßenleben stürzte. Wie nicht anders erwartet, war auch hier herrliches Wetter, sodass ich in aller Ruhe, die Klarabergsgatan zur Fußgängerzone hoch schlenderte. Dort bummelte ich langsam in Richtung „Gamla Staden.“ Die ganze Zeit stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn Carola neben mir gehen würde. Wie es wäre mit ihr durch die Fußgängerzone und der Stockholmer Altstadt, Hände haltend zu bummeln. So gerne ich in Stockholm war, sie fehlte mir, und ich genoss es, sie in meiner Fantasie neben mich zu haben. So sehr ich meine Anwesenheit in dieser Stadt viele Jahre vermisst hatte, fehlte diesmal etwas hier. Etwas, was ich in früheren Jahren hier nie vermisst habe.



Spät nachmittags ging ich zum Bahnhof zurück, setzte mich wieder in das Bahnhofsrestaurant, das offen, nur durch eine, ein Meter hohe Glas-Stellwand von der Wartehalle abgetrennt war, und beobachtete das Treiben in der großen Wartehalle. Ob es nun am Bahnhof lag, oder an Stockholm, war mir nicht klar, aber dieser Bahnhof bereitete mir immer ein gewisses Kribbeln im Körper, wenn ich hier auf einen Zug wartete. Es gibt Orte, die liebt man einfach. Da kann man sich stundenlang aufhalten, ohne dass es langweilig wird. Der Stockholmer Bahnhof gehört für mich zu solchen Orten.



Hier zu sitzen war immer etwas Besonderes. Wäre jetzt noch Carola hier, wäre das Glück vollkommen.



Im Nachtzug ging es dann Richtung Norden. Hin zu einer wunderbaren Landschaft, mit sehr wenig Menschen und viel Natur, allerdings leider immer weiter weg von Carola. Während die Landschaft am Zugfenster vorbeizog, dachte ich an sie.



Auch in Boden, dort musste ich vom Nachtzug in den Regionalzug, der bis nach Narvik in Norwegen fuhr, umsteigen, schien die Sonne vom blauen Himmel, allerdings mit inzwischen doch angenehmer Lufttemperatur. Hier war es nur noch knapp über 20°C, was allerdings für diese Ecke auch schon über durchschnittlich war. Endlich stieg ich gegen Mittag in Gällivare aus dem Zug und war somit fast da, wo ich hinwollte. Für mich war hier die Zugfahrt zu Ende. Ungefähr eine Stunde nach meiner Ankunft hier, würde vom Bahnhofsvorplatz der Bus nach Ritsem starten, von wo aus ich mit der Wanderung auf dem Padjelantaleden beginnen wollte, und die Zivilisation endlich, nach noch einer kleinen Bootsfahrt über den dortigen See, hinter mir lassen würde.



Der Bahnhof von Gällivare war ein schönes altes Gebäude aus massivem Holz. Auch so ein Ort, wo ich mich wohl fühle. Ich setzte mich am Bahnhof auf eine Bank und schaute von dort auf die Berge, die in der Ferne zu sehen waren. Die Luft war frisch. Es roch nach Fjäll.



Es war herrlich hier zu sein. Nur wo war die Sonne, die doch selbst noch in Boden geschienen hatte, geblieben? Der Himmel war grau von Wolken, und es gab einen leichten Nieselregen. So etwas hatte ich schon seit Monaten nicht mehr erlebt. Ich war doch nicht nach Nordschweden gefahren, um dort norddeutsches Schmuddelwetter, das es in Norddeutschland allerdings schon seit Monaten nicht mehr gegeben hat, zu erleben.



Aber egal. Es war Urlaub. Nachdem ich meinen ersten Hunger nach „Landschaft“ befriedigt hatte, schloss ich die Augen und träumte von Carola, die leider ganz schön weit weg war.



Eine Viertelstunde, bevor der Bus fahren sollte, hielt ich es nicht mehr aus, öffnete meinen Rucksack und suchte in dessen Tiefen mein Handy, das dort, in einer Plastiktüte geschützt, irgendwo lag. Noch war ich in der Zivilisation, noch gab es Funkkontakt. Nach etwas blindem Wühlen fand ich mein Handy. Den Rucksack schnell wieder zugemacht, und Carolas Nummer gewählt. Dabei sah ich schon den Bus um die Ecke kommen. Nummer gedrückt, und das Handy ans Ohr gehalten. Ein Freizeichen hatte ich schon mal. Dann hörte ich eine erstaunte Stimme am Telefon. Carola hatte meine Nummer erkannt:



„Hallo, was ist denn mit dir los? Ich denk du bist in Schweden.“



„Bin ich auch. Ich bin gerade in Gällivare aus dem Zug gestiegen. Mein Bus kommt gerade, der mich nach Ritsem bringen soll. Hier ist wohl das letzte Mal, dass ich Funkkontakt habe. Ich vermisse dich. Ich wäre viel lieber in Hannover bei dir.“



„Ich vermisse dich auch wahnsinnig. Und wie geht es dir sonst?“



„Oh wunder, hier regnet es.“



„Nein.“



„Doch wirklich. Ich wusste gar nicht mehr, wie ein grauer Himmel aussieht. Mein Bus ist gekommen. Ich muss Schluss machen. Wir sehen uns am Lübecker Bahnhof.“



„Ich bin mit Sicherheit da.“



„Ich vermisse dich.“



„Ich dich auch. Wehe du kommst nicht zurück. Und räume nicht meine Schublade aus.“



„Nein, keine Angst. Den Schlüssel hab ich schon in Lübeck weggeworfen. So ich muss zum Bus. Küsschen.“



„Auch. Viel Spaß beim Wandern. Und komm auf jeden Fall wieder.“



Das war’ s. Ich musste in den Bus, sonst wäre dieser noch ohne mich losgefahren. Aber es war mir klar, dass ich mich auch durchaus schon darauf freute, in ungefähr zwei Wochen, hier von Gällivare aus, wieder in den Zug nach Süden zu steigen.



In Ritsem angekommen, der Bus hielt direkt an dem Bootsanleger, ging es dann noch mit einem kleinen Schiff über den Akkajaure, an dessen Südufer ich erstmalig seit Jahren wieder meinen Rucksack, richtig für eine Wanderung, mir auf den Rücken schnallte.



Es war Sommer 2006. Genau vor dreißig Jahren, im Jahr 1976 hatte ich meine erste Wanderung, damals in den schottischen Highlands erlebt, fiel mir so bei den ersten Schritten ein. Meine Gedanken wanderten also schon, so ganz alleine vor sich hin.



Und nun stapfte ich, Richtung Süden laufend, hier in Nordschweden in das Fjäll. Von dem Regen, den es noch in Gällivare gegeben hatte, war hier nichts zu sehen. Der Himmel war wieder so blau, wie ich ihn die letzten Monate ständig in Lübeck erlebt hatte. Es war warm. Mindestens 20°C im Schatten, gute 5-10°C wärmer als es in dieser Ecke normal war.



Die Kunst beim Wandern den Kopf freizubekommen, liegt darin, einfach zu laufen, sich an der Gegend zu erfreuen, und an nichts Bestimmtes zu denken. Irgendwann wandern die Gedanken von ganz alleine in irgendeine Richtung. Der Trick ist, dieses nicht bewusst beeinflussen zu wollen, sondern die Gedanken einfach treiben zu lassen.



Automatisch landeten meine Gedanken immer wieder bei Carola. In meinen Gedanken ging sie oft neben, vor oder hinter mir. Ich zeigte ihr die Landschaft, Lemminge, Rentiere, Vögel, halb verfallene Samenkoten, deren Gerippe aus Baumästen von Erdsoden bedeckt waren. Wir durchwateten zusammen Bäche und überquerten Flüsse über Holzhängebrücken.



Wie sollte das bloß erst werden, wenn ich in ein paar Monaten in Schweden arbeiten und wohnen würde? Ich konnte dann ja wohl schlecht den halben Tag träumend aus dem Fenster starren und an Carola denken.



Ab und zu schweiften meine Gedanken auch zu meiner Firmenpleite und zu den Folgen, die mir dadurch entstanden waren. Einige Gläubiger, die versuchten das Geld, das meine ehemalige Firma ihnen schuldete, von mir zu bekommen, setzten mir zu. Ich dachte auch an Osmar, einem ehemaligen Geschäftspartner, aus der Zeit, als ich meine Installationsfirma gehabt habe, der mir, nach meiner Pleite, auf gut Glauben einen Computer bezahlt hat, und ich nicht wusste, wie ich ihm das Geld zurückzahlen sollte. Die Hälfte hätte ich ihm zurückzahlen können, wenn ich auf meine Schwedenreise verzichtet hätte. Ich hatte deshalb schon ein schlechtes Gewissen, aber ich brauchte diese Auszeit hier. Noch mehr als in Lübeck merkte ich jetzt hier, durch das Fjäll laufend, wie sehr ich das hier vermisst hatte.



Aber ständig wanderten meine Gedanken wieder zurück zu Carola. Obwohl sie in Hannover war, war sie bei mir. Was hatte sie mir noch per E-Mail geschrieben, kurz bevor ich zum Bahnhof gegangen war?



„….. ich küsse und knuddel dich, und halte mich an deiner Hand fest, auch wenn du gerade durch ferne Gegenden läufst …“



Ich spürte ihre Hand. Und das war ein schönes Gefühl.



An diesem ersten Wandertag ging ich vom Bootsanleger nur noch ca. 5 km in Richtung Süden. Ich kannte dort eine Stelle an einem Bach, schön versteckt. Da hatte ich schon einmal vor Jahren gezeltet.



Es war herrlichstes Wetter. Ganz schön warm fürs Wandern, und es gab so gut wie keinen Schatten. In kurzen Hosen und T-Shirt, an so manchem Bach eine kleine Trinkpause einlegend, ging es zu dem, von mir ausgesuchten Übernachtungsplatz. Ich fand die Stelle wieder, die eine genügend ebene Fläche für mein Zelt und einen Vorplatz zum Kochen hatte, von drei Seiten von Gebüsch umgeben war, und an der vierten Seite frei herunter zum Bach ging, der ungefähr fünf Meter entfernt vorbeilief.



Nachdem ich das Zelt aufgebaut hatte, ging es erst einmal für eine gründliche Wäsche zum Bach. Das Wasser war a… kalt. Also wurde die Körperreinigung schnell durchgezogen, und dann sich in die Sonne gestellt, um wieder warm zu werden. Dann gab es das wohlverdiente „Corned Beef“ mit Reis, in meinem Spiritus-Trangia-Kocher zubereitet.



Nach diesem exquisiten Essen, mit gefühlten zwei Sternen, stellte ich das Geschirr zum Einweichen mit Wasser gefüllt an den Bach, und legte mich vor dem Zelt, gegen den Rucksack gelehnt, in die Sonne. Ich schaute mich um. Mein Blick schweifte über den Ahkka, dem höchsten Berg hier in der Gegend, der östlich von mir lag und von der Abendsonne angestrahlt wurde. Ich ließ die Seele baumeln. Meine Gedanken wanderten wieder Richtung Carola. Schade, dass sie nicht hier war. So blieb mir nur an sie zu denken, während die Sonne langsam im Westen unterging.



Mit dem Sonnenuntergang wurde es schnell kühl. Ich packte den Rucksack unter das Außenzelt, kroch ins Zelt und legte mich in meinen Schlafsack. Die erste Nacht seit Langem, die ich in einem Zelt verbrachte. Herrlich. Ich schlafe auf so einer Wanderung im Zelt nie tief, aber trotzdem gut und lange, sodass ich mich am nächsten Morgen richtig gut und ausgeschlafen fühlte, als ich wach wurde. Als ich den Reißverschluss vom Schlafsack öffnete, merkte ich allerdings, dass es während der Nacht saukalt geworden war. Mein Waschlappen, den ich draußen an einer Zeltleine zum trocknen aufgehängt hatte, war sogar steif gefroren. Den Temperaturen angepasst, gab nur eine Katzenwäsche, und dann ging es schnell in die warmen Klamotten. Aber die Sonne strahlte schon wieder vom blauen Himmel. Die Luft wurde schnell wärmer.

 



Ich backte mir in der Pfanne meines Kochers, für das Frühstück kleine Brotfladen und schmierte darauf Kaviar bzw. Käse mit Krabbenfleisch, beides typisch schwedischer Brotaufstrich aus der Tube, den ich in Stockholm eingekauft hatte. Dazu trank ich noch eine kleine Kanne heißen Tee und fing danach an, nach einem kurzen Abwasch, meine Sachen zusammenzupacken, und die erste richtige Tagesetappe zu starten.



Das Wetter blieb so, wie ich es schon die letzten Monate aus Lübeck kannte. Woher das kurze und anscheinend kleine Schlechtwettergebiet hergekommen war, das ich einen Tag vorher, mittags in Gällivare angetroffen hatte, wusste ich nicht. Es schien auch nur ein Ausrutscher gewesen zu sein. Vielleicht wollte Petrus auch nur einmal kurz daran erinnern, dass er durchaus auch anders konnte, wenn er denn wollte.



Bei mir blieb das Wetter auf jeden Fall auch weiter richtig heiß, sodass ich froh war, wenn ich etwas tiefer, unterhalb der Baumgrenze gehen konnte, um durch die Bäume vor den Sonnenstrahlen geschützt zu werden. Meistens ging der Weg aber oberhalb der Baumgrenze, wo es keinen Schatten gab. Dafür hatte ich dann eine herrliche Aussicht über die Landschaft. Südlich von Staloluokta, einer bewirtschafteten Schutzhütte auf meinem Weg, konnte ich ein Hochtal bewundern, das ich zwar ein paar Jahre vorher schon einmal durchwandert war, allerdings damals in strömendem Regen, von Wolken umgeben, und mit einer Sichtweite, die unter zehn Meter gelegen hatte. Jetzt bei herrlichem Wetter war der Blick fantastisch. Carola wäre sicher beeindruckt gewesen, wenn sie das hätte sehen können.



Eigentlich wollte ich die Strecke bis zur Fjällstation Kvikkjokk in acht Wandertagen schaffen, den Tag an dem ich mit dem Boot über den Akkajaure gekommen war, nicht mit eingerechnet. Von Kvikkjokk sollte es dann, in weiteren vier Tagen bis Saltoluokta gehen, der Fjällstation, von der ich in den Bus zurück nach Gällivare steigen wollte. Aber irgendwie verlor ich unterwegs einen Tag. Ob ich nun langsamer ging, weil es so warm war, oder die Aussicht so umwerfend, weiß ich nicht. Vielleicht auch beides.



Da durch den Zeitverlust ein Durchmarsch bis nach Saltoluokta nur Stress bedeuten würde, und dafür war die Wanderung nicht gedacht, beschloss ich in Kvikkjokk die Wanderung zu beenden. Die drei Tage, die ich die Wanderung dadurch früher beenden würde, konnte ich ja versuchen, früher nach Lübeck zu kommen.



Carola hatte mir, an einem der Tage vor meiner Abfahrt, am Telefon erzählt, dass sie das erste Wochenende im September auf der Insel Rügen verbringen wollte, um dann zum Sonntagabend rechtzeitig in Lübeck einzutreffen, um mich dort vom Bahnhof abzuholen.



Wenn ich statt am Sonntagabend schon am Donnerstag in Lübeck eintreffen würde, könnte ich ja vielleicht noch bis Rügen weiterfahren, und sie dort treffen. Ich fand die Idee toll, bevor ich in Kvikkjokk zwei Tage herumgammeln würde, könnten wir doch noch auf Rügen anderthalb Tage gemeinsam Urlaub machen.



Leider verlor ich dann einen weiteren Tag auf meiner Wanderung. In der Fjällhütte Såmmarlappa kaufte ich mir als Wegzehrung zwei Snickers. Ich weiß nicht, ob es an denen lag oder am Wasser, auf jeden Fall, nachdem ich in einer Wanderpause an einem Bach diese beiden Snickers, zusammen mit einem kräftigen Schluck aus dem Bach, als Wegzehrung gegessen hatte, fing mein Magen an zu knurren und regelrechte Knoten zu bilden. Ich kam mit Müh und Not bis zur Fjällhütte Njunjes, wo ich mich, zu schlapp um mein Zelt aufzubauen, einquartierte, und da es mir am nächsten Morgen nicht besser ging, ich den ganzen Tag und noch eine weitere Nacht dort verbrachte. Die Hüttenwirtin, eine alte Frau, sie hieß netterweise Carola

(das ist kein Scherz)

, machte sich richtig Sorgen um mich. Aber nach einem Tag Pause konnte ich mich auf den Weg nach Kvikkjokk aufmachen. Dieser letzte Tag meiner Wanderung war der erste Tag, an dem die Sonne nicht schien, und ich unter Wolken, durch den Regen meinen Weg ging.



Durch diesen weiteren verlorenen Tag war jede Hoffnung vorbei, früher nach Lübeck zu kommen, und Carola noch auf Rügen zu besuchen.



Schade.



Nach einer Übernachtung in der Fjällstation von Kvikkjokk, in dessen Shop ich von meinem letzten überflüssigem Geld einen Knuddelelch kaufte, der einen gestrickten blauen Schwedenpullover trug, und für Carola als kleines Mitbringsel gedacht war, ging es am nächsten Tag mit dem Bus nach Jokkmokk. Die Hauptsaison war schon vorbei, der Busfahrplan schon entsprechend für die Nebensaison ausgedünnt, sodass ich diesen Tag nicht mehr bis Gällivare kam, sondern in Jokkmokk noch eine Übernachtung einlegen musste.



Somit war noch ein Tag verloren.



Während der Busfahrt zog die wahnsinnig schöne Landschaft an mir vorbei. Hier zu arbeiten und zu leben musste toll sein. Selbst wenn man hier sicher auch als Physiotherapeutin einen Job finden würde, hatte Carola sich mit ihrer Praxis auf Hannover eingestellt, dort investiert und war Britta gegenüber in die Pflicht gegangen. Sie konnte, selbst wenn sie wollte, dort nicht einfach alles hinschmeißen.



Nicht sie, sondern ich war derjenige, der, zumindest zurzeit noch, relativ flexibel in Sachen Arbeits- und Wohnort war. – Noch.



Wie erhofft hatte ich das Gefühl, dass der Müll, der sich in den letzten Jahren in meinem Kopf angesammelt hatte, während der Wanderung in die richtigen Schubladen gelegt, wieder sortiert war. Allerdings gab es jetzt eine Schublade zu viel. Für die beiden Schubladen Schweden und Carola gab es nur ein Schubladenfach. Eine von den beiden Schubladen musste entsorgt werden. Die Frage war nur welche.



In Jokkmokk angekommen, eilte ich gleich zum Vandrarhem. Das erste Mal seit zwei Wochen, dass ich wieder wegen der Uhrzeit hetzen musste. Der Bus hatte Verspätung gehabt, und die Rezeption im Vandrarhem würde bald schließen. An der Rezeption lagen mehrere Zeitungen, die man kostenlos mitnehmen konnte. Eine Zeitung hieß „Framtid i Jokkmokk“. Übersetzt: „Zukunft in Jokkmokk.



Während ich in der Küche mein Abendessen verputzte, blätterte ich in der Zeitung. Jokkmokk ist berühmt für sein Samenmuseum und für seinen Wintermarkt, den es seit 1605 gibt, und zu dem die Samen aus ganz Lappland hinkommen, um ihre Waren dort zu verkaufen bzw. die Dinge, die sie fürs Leben im folgenden Jahr benötigen, einzukaufen. Außerdem ist Jokkmokk ein bekannter Touristenort. Im Winter gibt es Möglichkeiten für Ski-Langlauf und für den Sommer ausgewiesene Wanderwege. Gerade im Tourismusbereich wurden Mitarbeiter gesucht. Besonders mit Englischkenntnissen wurden Mitarbeiter benötigt. Das war bei mir mau, müsste also ausgebaut werden. Aber sie suchten auch hier im Ort Mitarbeiter mit Deutschkenntnissen. Und Deutsch geht bei mir ja ganz gut.



Hier arbeiten, in der Touristenbranche oder in einem Outdoor-Shop, das wäre schon was. Herrliche Gegend, man wäre schnell im Fjäll, um dort die Natur beim Wandern, und im Winter beim Langlaufski zu erleben. Auf Skiern stand ich zwar noch nie, aber wenn ich hier wohnen würde, hätte ich sicher Zeit und Gelegenheit es zu lernen. Und mit dreitausend Einwohnern, Touristen nicht eingerechnet, war der Ort auch übersichtlich. Trotz der geringen Einwohnerzahl war Jokkmokk mit Einrichtungen gesegnet, wie sie ein Ort dieser Größe in Deutschland nicht hat. In Lappland gehört Jokkmokk zu den „großen“ Orten. Jokkmokk ist sozusagen ein Schwerpunktort.



Am nächsten Morgen fuhr der Bus so früh in Richtung Gällivare, dass ich nicht mehr die Zeit hatte, auf gut Glück einfach mal bei der örtlichen „Arbetsförmedling“ vorbei zu schauen, um mich schon einmal unverbindlich nach Arbeitsmöglichkeiten zu erkundigen. Aber ich packte die Zeitung „Framtid i Jokkmokk“ ein. Mal sehen, was die Mitarbeiter des Projektes „Profil 300“ dazu sagen würden.



Aber wie wird das dann mit Carola? Jokkmokk lag in Nordschweden, da war es schon von vornherein klar, dass die Beziehung nicht halten würde. Bei dem Gedanken wurde mir mulmig im Magen. Egal wie ich mich entscheiden würde, ich würde etwas verlieren. Entschied ich mich für Schweden, wenn es denn überhaupt klappen würde, würde ich Carola verlieren.



Entschied ich mich für Carola, müsste ich die Aktion bei der ARGE abblasen. Mit welchen rechtlichen Konsequenzen, sollte ich mich auf einmal quer stellen, gerade nachdem ich auch noch so gedrängt hatte, um in das Projekt hereinzukommen, war mir auch nicht klar.



Durfte ich überhaupt wegen einer Beziehung, die gerade einmal, wenn man die Urlaubsreise nicht mit rechnete, drei Wochen existierte, meine berufliche Zukunft infrage stellen?



Das hier war Jokkmokk, und nicht Seattle. Ich war auch nicht Tom Hanks, der seinem leicht überaktiven kleinen Sohn nach New York hinterher flog, um eine durchgeknallte Reporterin auf dem Empire State Building in die Arme zu schließen.



Und ich war auch nicht Harrison Ford als abgehalfterter Pilot, der nur noch Interesse an Alkohol und eine schnelle Nummer hatte, und dann mit einer überkandidelten Modedesignerin eine Bruchlandung auf einer einsamen Insel hinlegt, sechs Tage und sieben Nächte sich gegen die Frau und gegen Piraten wehren muss, und danach, schlabberig, wie er war, auf dem Flugplatz die durchgestylte Tussi in die Arme nimmt, und erklärt, sein ganzes Leben für sie ändern zu wollen.



In Hollywood wurde dann immer mit einem großen „Ende“ abgeblendet. Und niemand erfuhr, ob die Sache, trotz der verschiedenen Welten in der die Teilnehmer lebten, wirklich gut ging.



Und das hier war nicht Hollywood. Hier wurde nicht nach einer tollen Urlaubsreise, die Frau auf dem Bahnhof in die Arme genommen, die Drehbuchautoren von „Schlaflos in Seattle“ und „Sechs Tage sieben Nächte“, wären von der Szene begeistert gewesen, beide schworen, sich niemals mehr zu trennen, nicht einmal getrennt in den Urlaub zu fahren, um sich dann dort auf dem Bahnsteig, eng umschlungen ab zu knutschen, während die Kamera langsam zurück, über den Bahnsteig aus dem Bahnhof fährt, und dann in einen blauen Himmel schwenkt, wo, in Form eines weißen Wolkengebildes, ein großes „Ende“ erscheint.



Anderseits stellte sich aber auch die Frage genau in die andere Richtung. Konnte ich mich von Carola ganz bewusst trennen, und mit Liebeskummer in Jokkmokk eine neue Zukunft aufbauen? Könnte ich mich dort vernünftig auf einen neuen Arbeitsplatz konzentrieren, mich in die Umgebung einleben, wenn mir Carola fehlen würde.



Wie dachte eigentlich Carola darüber? Sie hatte mir E-Mails geschickt, die ganz klar zeigten, dass sie mich haben wollte. Anderseits war sie begeistert, dass die ARGE mir die Möglichkeit einräumte, mit ihrer Unterstützung mich in Schweden zu bewerben. War Carola nicht bewusst, dass beides, Schweden für mich, und für sie eine Beziehung mit mir, nicht machbar ist? Oder hatte sie das Problem, genauso wie ich bis jetzt, einfach verdrängt?






Wie schon geschrieben. Ich war weder Tom Hanks noch Harrison Ford, und niemand schrie „Schnitt“. Aber die wahre Bahnhofszene hätten wir sowieso noch einmal wiederholen müssen. Carola hat sie nämlich versaut. Aus dem gleichen Grund, der sie dazu veranlasste, in der Öffentlichkeit nie ihre Gefühle zu zeigen. Aber noch war es nicht so weit, da der Bahnhof von Lübeck noch fern war. Noch saß ich in Jokkmokk in dem Bus, um nach Gällivare zu fahren.






Auch in Gällivare musste ich noch einmal im örtlichen „Vandrarhem“ übernachten. Die Reiseplanung litt eindeutig dadurch, dass ich mir die Zugverbindung nicht selbst aus dem Internet zusammengesucht hatte, sondern beim Kauf der Tickets es dem Mann am Schalter überlassen habe die Züge auszusuchen. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern.



Zumindest war ich wieder zurück in der Zivilisation. Also holte ich mein Handy aus dem Rucksack, setzte mich in der Nähe des Vandrarhem ins Grüne und versuchte Carola zu erreichen, ihr mitzuteilen, dass ich noch lebe, nicht in einem Fluss ertrunken, von keinem Berg gestürzt, und auch nicht von Lemmingen zerfleischt worden bin. Ich schnupperte schon wieder Zivilisation und war auf dem Weg zu ihr. Leider erzählte mir mein Handy, dass ich nicht mehr genug Guthaben auf meiner Handykarte, für einen Anruf nach Deutschland hatte. Ich hatte versäumt, mir vor der Fahrt noch genügend Nachschlag zu kaufen. Also musste ich mit einem Lebenszeichen warten, bis ich sie in die Arme nehmen konnte. Das würde noch ungefähr achtundvierzig Stunden dauern.

 



Gällivare, Boden, Stockholm, Malmö, Kopenhagen, die Sundfähre von Rödby nach Puttgarden. Alles klappte, obwohl der Zug von Boden nach Stockholm fast eine viertel Stunde Verspätung hatte, und mein planmäßiger Aufenthalt in Stockholm daher von fünfundzwanzig Minuten, auf gerade einmal zehn Minuten schrumpfte, und ich, auf dem Stockholmer Bahnhof ankommend, noch nicht einmal wusste, auf welchem Gleis, in diesem weitverzweigten Bahnhof, mein Zug nach Malmö abfahren sollte.



Endlich näherte ich mich Lübeck. Am Bahnhof eingetroffen, nahm ich meinen Rucksack, der Knuddelelch schaute aus der oberen Rucksacktasche hervor, nur halb auf den Rücken, eilte aus dem Zug, schmiss den Rucksack auf den Bahnsteig, und schaute mich sehnsuchtsvoll, in Erwartung, dass man mich gleich stürmisch umarmen und abknutschen würde, um.



Aber es war niemand Bekanntes zu sehen, niemand stürmte auf mich zu.



Puh. Damit hatte ich nicht gerechnet. So stand das nicht in meinem persönlichen Drehbuch. Sie wollte mich hier doch empfangen. War etwas dazwischen gekommen? Wo war sie?



Enttäuscht schulterte ich meinen Rucksack, ging zur Treppe, die nach oben zu der Bahnsteigüberquerung führte, und schaute mich weiter nach Carola um. Endlich sah ich sie. Sie stand auf dem oberen Treppenabsatz und lachte mir zu. Mit einem breiten Grinsen stürzte ich auf sie zu, umarmte und küsste sie.



„Da bist du ja. Und ich dachte schon, du hättest mich versetzt“, grinste ich sie an.



„Wieso?“



„Na ja, eigentlich hatte ich mir vorgestellt, dass du gleich auf mich zu stürmst, sobald ich aus dem Zug gestiegen bin, und mich ordentlich abknutscht.“



„So was mach ich in der Öffentlichkeit nicht.“



„Schade. Hast du mich wenigstens vermisst?“



„Ganz doll.“



Na das war doch wenigstens etwas. Ich nahm sie bei der Hand, schlenkerte ihren und meine Arm voller Übermut nach vorne und hinten, während wir zum Ausgang gingen.



Zum Glück war Carola mit ihrem Wagen zum Bahnhof gekommen. Mit dem Rucksack und mit meinem, sicher nicht ganz zivilisierten Aussehen, wollte ich nicht unbedingt durch die Lübecker Altstadt laufen. Ich war nicht mehr in Jokkmokk, Gällivare oder auf dem Bahnhof von Stockholm, wo man am Anblick von leicht verschmutzten Wanderern, die gerade aus der Wildnis kamen, gewöhnt war. Und außerdem hatte ich inzwischen das dringende Bedürfnis schnell unter meine Dusche zu springen.



Wir fuhren in meinen Stadtteil. Die paar Meter, vom Parkplatz zu meiner Wohnung, wollte Carola unbedingt meinen Rucksack tragen. Obwohl kaum noch Lebensmittel in ihm steckten, wog er sicherlich noch so seine zwanzig Kilo, also ein ganz anderes Kaliber, als ihr Rucksack, der nur Klamotten enthielt, wenn sie aus Hannover zu kommen pflegte. Aber ihr Wunsch war mir Befehl, und zu gehen, ohne das Gewicht des Gepäcks auf den Rücken zu spüren, hatte ich in den letzten Wochen nur sehr selten genießen können.



Zu Hause angekommen gab es noch einmal, ohne Zuschauer, eine kräftige Begrüßung unter uns. Dann stopfte ich schnell die erste Runde dreckiger und stinkiger Wäsche in die Waschmaschine, damit deren Duft sich nicht erst noch, trotz Plastiktüten, in der Wohnung verbreitete, und flüchtete danach selbst, obwohl ich schon in Kvikkjokk meinen Wandergeruch ausgiebig herunter gerubbelt hatte, schnell unter die Dusche, da auch meine Klamotten, wenn auch in Kvikkjokk sauber angezogen, doch nicht mehr die frischesten gewesen waren, und auch meine letzte Körperreinigung zwei Tage zurück lag.



Nachdem ich nicht nur sauber, sondern rein war, ein leichter Duft von Kräutershampoo umwehte mich, was mir wohl nur durch dreiwöchige Abstinenz auffiel, machten wir beide uns es auf dem Sofa gemütlich. Carola hatte drei Flaschen Dunkelbier mitgebracht, und so erzählte ich, bei dem ersten vernünftigen Bier seit drei Wochen, von meiner Schwedenwanderung. Ich schwärmte von der herrlichen Landschaft, von der Stimmung, die ich dort erlebt hatte, z.B. als ich vor dem Zelt gegen den Rucksack gelehnt, auf den Silbersee, damit war der Vastenjaure gemeint, schauen konnte, dessen Oberfläche durch die Abendsonne eben total wie Silber geglänzt hatte.



Und ich erzählte, wie ich sie