Kitabı oxu: «Auf Gottes Wegen», səhifə 21

Şrift:

An einem Fußweg bog sie nach der Kirche ab; dabei dachte sie an Oles letzte Predigt. Wenn ihr Zusammenleben von Anfang an so freie Wahl, auf solche Ziele eingestellt gewesen wäre! Sie weinte und lief auf das fürchterliche Haus zu. Links hinter dem Laub erblickte sie auch die weiße Hauswand des andern, in dem Kule wohnte – das Mordinstrument! Nein, nein, nein! Sie hatte ihn nicht kommen heißen; sie hatte keinen Teil daran! Doch – sie hatte gehört, wie man davon sprach, und es für ganz gerecht gehalten. Einige hatten es als guten Witz aufgefaßt, andere wieder ernst, ja, religiös. Josefine erinnerte sich jedes Wortes, zu dem sie geschwiegen, jedes Gedankens, den sie im Stillen gehabt hatte.

Mord, Mord! Da gab es keine Vergebung, das wußte sie. Was wollte sie bei dem Bruder? Er hatte ihr Kind gerettet; darüber hinaus wollte er nichts mit ihr zu schaffen haben. Und dennoch – ihr Leben hing von jetzt an diesem Fleck Erde; sie mußte hin, und wenn es ihr Tod war! Und sie hastete weiter.

Ihr Leben war geschändet; sie konnte keinem ehrlichen Menschen mehr ins Auge sehen. Mit Kälte und Bosheit hatte sie ein völlig, völlig unschuldiges Menschenkind getötet – hatte ihres Bruders Heim zerstört! Wie sollte sie darnach noch weiter leben? Was wollte sie jetzt? Ihre gerechte Strafe suchen? Aber die konnte nur sie selbst sich auferlegen. Zuerst mußte sie ihn gesehen, ihn gehört, selber mit ihm gesprochen haben – ja – — denn sie hatte auch etwas zu sagen, – — er wußte ja gar nicht, wie sie ihn liebe, wie sie ihn immer geliebt hatte; – er kannte sie überhaupt nicht. Und sie weinte und hastete weiter.

Sie sah ihn im Garten zwischen dem Haus und den Nebengebäuden stehen, über irgend etwas gebückt, was er eben in der Hand hielt. Sie sah ihn – über die Johannisbeer- und Stachelbeerhecke weg, wo die höheren Obstbäume ein bißchen weiter auseinanderstanden. Ein Frösteln durchrann sie; aber sie schritt weiter. Bald war sie unter den Bäumen des Parks, und bog dann nach dem Hof ab; nur die Mauer der Stallgebäude war noch dazwischen; jetzt trat Josefine hervor.

In einem hellgelben, rohseidenen Rock, demselben vielleicht, in dem er vor zwei Jahren gekommen war, stand er da – die Ärmel aufgestreift, die Manschetten abgelegt – und wusch unter der Pumpe einen Reisekoffer; die vielen Zettel, die die verschiedenen Eisenbahnen übereinander daraufgeklebt hatten, mußten aufgeweicht werden. Wollte er verreisen? Er war sonnverbrannt und mager; im Profil erschien sein Gesicht noch schärfer. Jetzt hörte er ihre Schritte und blickte auf.

Blickte ihr in das verweinte, flehende Gesicht. Von ihrer einstigen farbenfrohen Kleidung keine Spur mehr; ein dunkles Sommerkleid; um die Taille einen Gürtel; auf dem Kopf ein breitrandiger Strohhut mit braunem Band; über dem Arm lose ein Tuch. Ihre Tränen brachen hervor. "Edvard!" rief sie verzweifelt; weiter kam sie nicht....

… Denn er hatte den Koffer fallen lassen und sich hoch emporgerichtet; eine Stimme, die in zwei Oktaven zu klingen schien, sagte: "Nie verzeihe ich Dir, Josefine!" "Edvard – so laß mich doch erklären … —" Sie wandte sich dem Haus zu, voll Angst und Verzweiflung, so streng sah er aus. Er glaubte, sie wolle hineingehen.

"… Nie kommst Du über diese Schwelle!" Und er stemmte die Hände in die Seiten, als wolle er Wache halten.

13

Tuft ging vom Abendbrot in sein Studierzimmer, sah aber die Briefe nicht liegen, weil er gar nicht auf den Schreibtisch blickte. Wie so häufig abends machte er einen kleinen Spaziergang; wäre Josefine dagewesen, so hätte sie ihn wohl begleitet, dachte er. Wohl eine Stunde ging er auf und ab; es war Sonnabend, und er überdachte seine Predigt für morgen. Als er nach Hause kam, setzte er sich mit einem Buch ans Fenster und las, wanderte dazwischen auf und ab, las wieder, bis es zehn Uhr war.

Er ging nach oben, um sich zu legen; Josefine war nicht da; nicht in ihrem eigenen Zimmer, nicht im ganzen Haus. So stieg er wieder hinunter ins Arbeitszimmer, um auf sie zu warten; wo konnte sie nur sein? Bei einem Kranken? Er wußte von keinem. Gedankenlos griff er nach dem Brief, während er am Schreibtisch vorüberging; sein Name stand darauf – von Josefines Hand! Heiß stieg es in ihm auf; er ging ans Fenster, um besser sehen zu können. Kein Siegel; bloß verschiedene Papiere; und obendrauf ein Zettel mit folgenden, von Josefine geschriebenen Worten: "Ich bin zu ihm gegangen – es gilt mein Leben." Was war das?

Eine Viertelstunde später war auch Tuft auf dem Weg zur Kirche; auch er lief mehr als er ging. Er war der allein Schuldige; er hatte seinerzeit Josefine den Gedanken eingegeben, Ragni sei ihrem ersten Mann untreu gewesen, und damit alles ins Rollen gebracht, was seitdem geschehen war! Und wenn er nicht auf seinen Schwager eifersüchtig gewesen wäre, so hätte er kaum dessen Bruch mit der Kirche, den Verkehr mit Spöttern zum Vorwand genommen, sich von den beiden zurückzuziehen. Und wenn der Schwager antworten würde: Josefine sei ja überhaupt gar nicht Christin genug, um aus diesem Grund Ragni zu verdammen, oder darum gleich das Schlimmste von einem Freidenker anzunehmen – er, Tuft, würde antworten, daß solche, die so etwas tun, eben keine Christen sind, sondern Halbchristen. Der, dem die Liebe zu Gott Lebensgesetz geworden ist, urteilt überhaupt nicht; aber die anderen tun das um so eifriger. Josefine hatte nach ihrem ganzen Lebensgang eine Halbchristin werden müssen, und das war wiederum seine Schuld. Das theologische Studium unterbindet alles Wachstum des Mannes.

Wie klar er das alles jetzt überschaute! Und darum war es ihm auch so unerträglich, sie in dieser Seelennot zu wissen. Er rannte so, daß er ganz außer Atem in den Park, ans Tor, über den Hof und auf die Treppe kam. Die Haustür war verschlossen, – es war doch kaum über zehn! Er klingelte wieder und wieder, und bald hörte er im Korridor Schritte, Männerschritte. Kallem war es, der öffnete.

"Ist Josefine nicht hier?" – "Nein." – "Ist sie nicht hier gewesen?" – "Doch, vor anderthalb Stunden." – "Und – —?" – "Ich habe ihr mein Haus verboten." – "Du hast nicht mit ihr gesprochen?" – "Nein." – Da streckte Tuft die rechte Hand aus: "Jetzt bist auch Du dogmenbesessen!" wandte ihm den Rücken und stürzte fort. Sein breiter Hut über den breiten Schultern war wie ein vierkantiger Nachdruck auf seine letzten Worte.

Es war schon über elf Uhr – da klingelte es wieder. Genau auf dieselbe Art. Kallem erschien sofort. Er war also nicht zu Bett gewesen.

Wieder war es Tuft, der dastand; aber, soweit Kallem zu unterscheiden vermochte, noch ehe er ihn näher sah, ein ganz anderer, ein verstörter, verzweifelter Mann. "Wo, denkst Du, könnte sie hingegangen sein, Edvard?" – "Ich denke, zu Ragnis Grab wird sie gegangen sein!"

Ein wunder Laut aus der Kehle, ein fast sichtbares Aufwallen von Schmerz. Und wieder war er auf und davon. Seine schweren Schritte klangen noch lange herauf durch die Stille der Nacht.

Gegen ein Uhr wieder das Klingeln; aber nur einmal, zaghaft – angstvoll. Kallem kam sofort aus dem Wohnzimmer; er war also noch immer auf.

Eine Frau stand vor der Tür. Der kurzsichtige Kallem ging hastig auf sie zu und erkannte Sissel Aunes Stimme. "Liebster, bester Herr Doktor, seien Sie doch gut und barmherzig!" fing sie an zu jammern. "Liebster, bester Herr Doktor!" – Kallem glaubte, sie komme seiner Schwester wegen; ihr sei etwas geschehen. Es überlief ihn kalt. Aber Sissel fuhr fort: "Niemand kann ihn mehr bändigen; jede Nacht ist er wie verrückt." – "Aune?" fragte Kallem. "Ja. Er glaubt, Kristen Larssen sei hinter ihm her, und da rennt er davon, immerzu, wer weiß, wie weit, in den Wald und auf die Landstraße; heut ist's die dritte Nacht; und ich kann nicht mehr! Liebster, bester Herr Doktor – ich hab' ja sonst niemand, zu dem ich gehen könnte!" – sie fing zu weinen an – "und niemand kann ihn ja bändigen, außer Ihnen!"

Der muntere Buchbinder und Spielmann verrückt geworden? Also hatte er sich seiner Macht entzogen? Oder trank er wieder? War es Delirium? Nein, es war einfache "Verrücktheit" aus Angst vor Kristen Larssens Geist. Kallem ging sofort mit.

Der Himmel war bewölkt; eine dunkle Nacht. Aber ein frischer Nordwind begann die Wolken auseinanderzufegen. Er rüttelte auch die Bäume am Weg; das laubdichte Rauschen fragte und spürte so manches auf, während sie vorübergingen. War es nicht auch seltsam und wunderlich, daß Aune, der unter den Leuten den Glauben an Kristen Larssens Spukerei aufgebracht hatte, jetzt selber davonrannte, in sinnlosem Entsetzen – vor seiner eigenen Luggeschichte? Jeden Abend, sobald es dunkel würde, versicherte Sissel, erschiene ihm Kristen Larssen und wolle ihn in die Hölle mit sich nehmen! – "Aber liebe Sissel, es gibt ja gar keine Hölle!" – Im selben Augenblick hörten sie aus weiter Ferne einen Schrei, einen einzigen, endlosen, schneidenden Hilferuf. Wie ein Gespenst stieg er auf durch die Nacht – man sah ihn beinahe. "Das ist er!" rief Sissel und faltete die Hände. "Jesus Christus! Hilf!" schrie sie und fing zu laufen an. Kallem eilte ihr nach. "Ruhig, Sissel! So kommst Du bloß langsamer vorwärts. Ruhig gehen, ruhig! Hörst Du?" Sie gehorchte sofort, wandte sich aber leidenschaftlich zu ihm: "Wer anders als der Satan kann einen Menschen so hetzen?" fragte sie schweratmend. Da schlug in der Nähe ein Hofhund an; der Schrei hatte ihn aufgeschreckt; er kläffte unaufhörlich. Kallems Stimme überschrie den Hund: "Aune ist so wenig vom Satan besessen als der wütige Köter dort! Weißt Du, wie überhaupt die Leute den Satan erfunden haben? Sie glaubten, alles sei vollkommen erschaffen auf Erden; und da hatten sie niemand, dem sie Schuld dafür geben konnten, daß die Sünde in die Welt gekommen war."

Im selben Augenblick fiel der rasende Hund sie an. Sissel flüchtete zu Kallem. "So ein wütiger Pfaff!" rief der und bückte sich nach einem Stein. Da wich der Köter ein Stück zurück. Ein neuer Schrei – näher als der erste – ein Notschrei aus der letzten Kraft eines Menschen. Ein Schauder überlief sie; sogar der Hund stutzte. Aber dann setzte er, an ihnen vorbei, in einem großen Bogen auf den Spuk los. "Gott steh uns bei – jetzt hat er ihn!" weinte Sissel auf und stürzte vorwärts; dem Hund durfte der Besessene auf keinen Fall zwischen die Zähne laufen! Und dabei hörten sie den Köter bellen, bellen, als ob er eine wilde Bestie vor sich habe, die er im nächsten Augenblick zerreißen wollte. Jetzt liefen sie beide, so schnell sie konnten; Kallem war Sissel bald weit voraus. Aune konnte es kaum sein, der da in Gefahr war, aus solcher Nähe hatte der letzte Schrei nicht geklungen. Das rasende Tier war über den ersten besten hergefallen. Wer aber war das? Seit seiner Kindheit war Kallem nicht so gelaufen; er hörte am Bellen des Hundes, daß der Gegner sich wehrte, und lief mit erneuter Kraft. Bald sah er am Wegrand vor einem Gehölz etwas Großes, Schwarzes, und davor den Hund. Noch einmal durchschnitt ein Schrei die Nacht; ja, er kam von dort her! Was war das für ein großer, schwarzer Klumpen? Doch kein Tier?

Nein, ein Mann war es, ein großer Mann, der mit einem kleineren rang, und auf beide ging der Hund los. Der Große schlug nach ihm, sie drehten sich umeinander; und zugleich hielt der Große mit der Linken einen andern gepackt. Und nun erkannte Kallem den breiten Hut über den breiten Schultern; Tuft war es, der Aune festhielt, mit Riesenkraft; der Hund wollte auf Aune los, und Tuft stieß ihn jedesmal mit einem Fußtritt weg. Wer weiß – Aune mochte glauben, der Hund sei der Teufel und Kristen Larssens Gespenst halte ihn gepackt; denn der Unglückliche schlug um sich mit Händen und Füßen, sperrte sich, biß um sich, zerrte und riß, um loszukommen; jetzt warf er sich hintenüber und mit dem letzten heiseren Rest seiner Stimme kreischte er: "Hilfe! Hilfe!" War seine Angst vorher schon groß gewesen, so wurde sie erst recht groß, als er Kallem aus dem Halbdunkel herauswachsen sah: er warf sich zu Boden und brüllte. Der Hund packte ihn sofort am Bein; der Pastor zog beide Beine gleichzeitig in die Höhe; so rasend war die Bestie, daß sie Kallem nicht bemerkte, bis der ihr einen Fußtritt versetzte, der sie ein paar Meter weit wegschleuderte. Ein einziges kurzes Aufheulen, ein Schnappen – ein Arzt versteht zu treffen – und sie sahen und hörten nichts mehr von ihr; vielleicht war sie tot.

Jetzt nahm Kallem Aune beim Arm und der Pastor ließ ihn los. Er war wirklich übel zugerichtet, der Rock schleppte zerrissen hinter ihm her, der Ärmel hing ihm in Fetzen auf die Hand herunter, ebenso sein wollenes Hemd. Das Blut quoll ihm aus Biß- und Kratzwunden; aber er war so angst- und wutentflammt, daß er überhaupt keinen Schmerz fühlte. Kallem packte den armen Narren mit beiden Händen am Kragen, hob ihn zu sich empor und bohrte mit all seiner durch den raschen Lauf und die Gemütserregung noch gesteigerten Energie den Blick in die Augen des andern, bis sie ganz groß und dumm und glasig wurden; mit aufgerissenem Mund und schlaffen Gesichtsmuskeln hing der Kerl da, wie ein ausgenommener Hering. Als endlich Sissel atemlos und weinend anlangte, lag Aune unter den Bäumen im Gras und schlief. Die beiden Männer standen vor ihm. Kallem meinte, Aune könne da liegen bleiben; Tau würde nicht fallen, da es windig sei. Später würde man sie beide abholen. Er denke, er werde schon Herr dieser Verrücktheit werden.

Der Pastor hatte seinen Rock ausgezogen, sich das Blut abgewischt und wurde, so gut es ging, verbunden; dann gingen er und Kallem heimwärts.

Kein Wort mehr von Aune oder wie er auf ihn gestoßen war; aber kaum standen sie auf dem Weg, sagte Tuft klagend: "Da war sie auch nicht, Edvard! Da war sie auch nicht!" Und kurz darauf: "Jetzt weiß ich nichts mehr, nein, jetzt weiß ich nichts mehr! Daß Du sie hast von Dir stoßen können, Edvard!" Das laubschwere Sausen der Bäume wiederholte es, wiederholte unaufhörlich: "Daß Du sie hast von Dir stoßen können, Edvard!"

"Weißt Du, was sie geschrieben und neben die Briefe von Dir hingelegt hatte? Um meines Lebens willen gehe ich zu meinem Bruder!"

Kallem überrieselte es eisig. "Um meines Lebens willen!" sauste es tausendstimmig, und das Sausen umwand ihn, enger und enger, bis er kaum mehr Atem zu holen vermochte.

Der Morgen begann zu dämmern; Tufts heißes, verzweifeltes Antlitz war gen Osten gekehrt, als flehe er unaufhörlich: "Gnade, Gnade für sie!" Er schritt aus, so schnell er konnte; er wußte nicht, wo er sie suchen sollte; aber er mußte gehen, gehen, gehen; – und Kallem mit.

"Ach, die Angst, die Angst!" jammerte er wieder. "Erinnerst Du Dich noch der Sturmnacht in unserer Kindheit, Edvard? Wir glaubten, die Welt würde untergehen. Weißt Du noch, wie Du Dich gefürchtet hast, am Abend darnach auf den Klippen? Diese ganze Nacht haben auch nach mir die 'Meerungeheuer' gezüngelt! Die Angst, die Angst! Die Seelenangst vor der Sündenstrafe! Von Kindheit an peitscht sie alles Verständnis aus uns heraus, gerade wenn wir es am meisten nötig haben! Und wir laufen davon und verzweifeln, oder werfen uns vor Gott in den Staub. Das Angstdogma werden wir später vielleicht los, aber das Anererbte, das Eingeübte! Und eben wie ich darüber nachdachte, stolperte ich über den verrückten Kerl; er sprang auf – die Angst war in ihm – er glaubte, ich sei ein Gespenst und der Hund sei der Teufel! Und Josefine! Auch sie verzweifelt und läuft davon! Und Du, Edvard! Auch Du, auch Du stehst unter dem Eindruck dieser Angst, wenn Du das Herz hast, sie noch mehr zu peinigen, als sie selbst sich schon peinigt! Denn das ist das schlimmste bei dieser Angst – sie macht uns schlecht; wer selber geschreckt worden ist, lernt andere schrecken!" – Die Worte fielen schwer, wie seine Schritte schwer klangen; Kallem redete nicht; wenn er litt, war er stumm.

Der Sohn des Laienpredigers aber hatte von kindauf alles Erleben in Lehren umsetzen hören. Er verblutete in seinem Innern; aber er sprach die ganze Zeit. Kallem dürfe nicht an Josefine zweifeln; sie sei das ehrlichste, wahrhaftigste Geschöpf auf Erden. In dieser Sache sei sie von ihm irregeleitet worden. Voll innigstem Mitgefühl legte er die Geschichte ihrer Seele bloß, so wie er selbst sie sah, und bewies deutlich – wenn ihr Bruder sie jetzt von sich stieße, so könne sie nicht weiterleben.

Kallem warf dann und wann ein "Lieber Ole!" – "Hör' mal, Ole!" dazwischen – aber weiter kam er nicht. Denn selbst, als er den Schwager mit sich nach Hause nahm, um seine Wunden genauer zu untersuchen, redete Tuft unaufhörlich. Es war, als ob das Entsetzen, die Ungewißheit ihn übermannen würden, wenn er schwiege; und dann – Edvard sollte sie so sehen, wie er sie sah, und vor allem, er sollte ihr helfen! "Allen, die gefehlt haben, müssen wir helfen; und vor allem müssen wir denen helfen, die gegen uns gefehlt haben, sobald wir selber ihre Schuld einsehen! Gottes Vergebung besteht darin, daß er uns dann weiter hilft!" – Noch als Kallem ihn zur Tür begleitete, fuhr er in seiner Auseinandersetzung fort; seine Riesenkraft gab auch jetzt noch nicht nach. O Gott! Wenn sie vielleicht doch mittlerweile zu ihrem Kind und zu ihm zurückgekehrt wäre! Seine Hoffnung war freilich nur gering; aber er lief doch, so rasch er konnte.

Es wurde heller und heller. Kallem konnte nicht schlafen. Schließlich hielt er es gar nicht mehr aus. In einer Angst, größer als er seinem Schwager hatte zeigen wollen, wanderte er durch alle Zimmer, wieder und wieder, als müsse er das Haus durchsuchen. Denn es war ja wahr: auch er hatte nur geurteilt und verdammt.

Die Schwester hatte immer mehr an ihm gehangen, als er an ihr. Seitdem sie diesen Winter zusammen getanzt hatten, wußte er, daß ihre Liebe sich nicht verringert hatte. Ja, selbst als er sie geschlagen hatte – war sie da nicht zu ihm gekommen, um ihm Gutes zu erweisen? Ihr Ausfall gegen Ragni damals … natürlich steckte da noch mehr dahinter als Dogmenblindheit, – Eifersucht! Eifersucht war es, weil er alles nur noch Ragni war und ihr nichts mehr. Er hätte die beiden Frauen zusammenführen können; daran war kein Zweifel möglich. Aber hatte er auch nur einen Finger deswegen gerührt?

Je mehr er in die Tiefe stieg, desto mehr schrumpfte sein Recht, streng zu sein, zusammen; er war ja mitschuldig! Die großen Augen der Schwester von gestern Abend, … jetzt schauten sie ihn in der äußersten Not an, jetzt sah er sie! Ihr ganzes Leben lang hatte sie, unklar und scheu, wenn nicht die Leidenschaft einmal die Luft reinigte, eingezwängt in widernatürliche Lehren, trotzig auf ihrer Wahrhaftigkeit beharrend, ausgeschaut nach ihm, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag. Und als er endlich kam, stieß er sie beiseite. Stieß sie beiseite um einer Frau willen, die seiner nicht würdig war – so wie sie die Sache auffassen mußte.

Arme, arme Josefine! Er war ihr tatsächlich nie etwas gewesen, hatte ihr nur wehgetan, und doch hatte sie sich so treulich nach ihm gesehnt!

Es wurde ihm schwül in den Zimmern; und eine Angst überkam ihn. Es trieb ihn hinaus, die Schwester zu suchen. Heller und heller wurde es; im Vorgefühl des Morgens schlug er die Verandatür zurück. Aber er hatte ja da draußen nichts zu schaffen; im Gegenteil, er mußte sie wieder schließen, wenn er ausgehen wollte. Er trat hinaus, um sie wieder zuzumachen, und blickte dabei zufällig zur Seite: von der Veranda gegen den Nordwind geschützt, auf Ragnis Bank unter den Fenstern seines Studierzimmers saß Josefine, ihr Tuch über den Knien. Sie sah ihn und kroch in sich zusammen wie ein flügellahmer Vogel, der sich nicht vom Fleck rühren kann und doch Angst hat, man könne ihn sehen. Und doch saß sie ja bloß dort, damit er sie sehen solle! Nirgends anders konnte sie sein; sie hatte es versucht! Er eilte die Treppe hinunter, auf sie zu. Da zitterte sie. "Ach nein, nein Edvard! Laß mich sitzen!" bat sie und brach in Tränen aus. Und noch als er ihren Arm faßte und sie emporhob, flehte sie, weich wie ein Kind: "Ach nein, Edvard, laß mich!" Weiter aber kam sie nicht. Sie fühlte, daß sie an seiner Brust lag, fühlte die Bewegung, die sein Innerstes erschütterte. Nein, er war nicht böse! Er würde sie doch vielleicht anhören! Und sie schlang ihre Arme um ihn, und ihre Tränen mischten sich mit seinen. So standen die beiden Geschwister, Kopf an Kopf, Wange an Wange; und alles Verwandte in ihren Nerven und ihrem Blut, das älteste und ursprünglichste in ihrem Fühlen, das heimisch-vertraute in ihrem Erinnern, bis auf den leisen Geruch ihrer Kleidungsstücke draußen im Flur bei Vater und Mutter, all das strömte jetzt zusammen im Verlangen, nimmermehr voneinander zu lassen.

Und dennoch – als er mit ihr der Veranda zuschritt, zögerte sie; sie wagte nicht, ihm dahinein zu folgen. Durch Tränen sah sie zu ihm auf; er zwang sie vorwärts, Schritt für Schritt; noch auf der Treppe zögerte sie. Aber er zog sie weiter, bis sie in der Wohnstube standen; hier schlang sie wieder die Arme um ihn, sank dann auf einen Stuhl und barg das Gesicht in den Händen; das ganze Zimmer lauschte lange ihrem Weinen; und er mit.

Endlich ging er zu ihr hin und strich ihr übers Haar; aber er wußte, nicht er war es, der das tat; sondern Ragni.

Dann schritten sie in der Sommernacht Arm in Arm durch eine morgenwache Stadt, wo die Menschen noch schliefen. Der edle Gang der beiden hohen Geschwistergestalten hallte im Takt der alten Tage. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, gingen sie, um Ole zu suchen, verpaßten aber den Richtweg und kamen hinunter auf die Strandstraße. Bald bogen sie ab, hinauf nach dem Pfarrhaus; sie waren schon ein paar Schritte auf diesem Weg gegangen, als Josefine, wie aus einem Zwang heraus, den Kopf nach dem Strand zurückwandte. Sofort hielt sie Edvard an. "Da ist er!" flüsterte sie. Von dort her kam Tuft. Er ging schnell, schnell, hielt aber den Kopf so tief gesenkt, als vermöge er dessen Last nicht mehr zu tragen. Vergebens hatte er den ganzen Strand abgesucht nach ihr; nun wollte er weiter suchen, in südlicher Richtung – ebenso vergeblich, aber ebenso schnell. Beide verstanden; ihr Arm zitterte im Arm des Bruders. Fest schmiegte sie sich an ihn; denn vor wenigen Augenblicken noch hatte sie ihm gesagt: hätte der Bruder sie aus seinem Garten verjagt, dann —! Still! Sie wandten um und gingen Ole entgegen. Hellhörig, wie er war, vernahm er sofort die Schritte – er blickte auf, erkannte sie, breitete die Arme aus; weitergehen konnte er nicht mehr, auch nicht sprechen. Josefine aber machte sich los vom Arm des Bruders und eilte zu ihm.

Langsam gingen alle drei nach Hause; der Pastor, Josefine am Arm, – auf der andern Seite Kallem. Immer wieder sagte er: "Auf Gottes Wegen! Auf Gottes Wegen!"

"Aber ich bin nicht Deines Glaubens!" versuchte Kallem einzuwenden. "Nein, nein, nein!" rief der Pastor eifrig. "Wo gute Menschen gehen, da sind Gottes Wege!"

Yaş həddi:
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Litresdə buraxılış tarixi:
09 aprel 2019
Həcm:
380 səh. 1 illustrasiya
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