Wie sich die kleine lustige Emly darüber lustig machte! Mit einer Miene, als sei sie unendlich viel gescheiter und älter als ich! Sie sagte, die kleine Hexe, ich sei ein kindischer Junge, und lachte dann so entzückend, dass ich den Schmerz über die demütigende Benennung über der bloßen Freude, sie ansehen zu dürfen, vergaß.
Mr. Barkis und Peggotty blieben ziemlich lang in der Kirche, kamen aber endlich wieder heraus. Dann fuhren wir hinaus aufs Land. Unterwegs wendete sich Mr. Barkis nach mir um und sagte, indem er listig ein Auge zukniff:
»Was fürn Namen hab ich in den Wagen geschrieben?«
»Klara Peggotty«, antwortete ich.
»Was fürn Namen müsst ich jetzt anschreiben, wenn ein Dach da wäre?«
»Nicht wieder Klara Peggotty?« fragte ich.
»Klara Peggotty-Barkis!« erwiderte er und brach in ein Gelächter aus, dass die ganze Chaise wackelte.
Kurz, sie waren verheiratet und waren zu keinem anderen Zweck in die Kirche gegangen. Peggotty hatte gewünscht, dass es in aller Stille geschähe, und hatte keine Zeugen zu der Feierlichkeit eingeladen. Sie wurde etwas verlegen, als Mr. Barkis mit dieser Mitteilung herausplatzte, und konnte mich nicht genug umarmen, um mir ihre unveränderte Liebe zu zeigen. Bald beruhigte sie sich wieder und sagte, sie sei froh, dass alles vorbei wäre.
Wir hielten dann an einem kleinen Wirtshaus, wo wir erwartet wurden und ein sehr gutes Mittagessen einnahmen und den Tag sehr angenehm zubrachten. Wenn Peggotty täglich einmal in den letzten zehn Jahren geheiratet haben würde, hätte sie nicht unbefangener sein können. Sie war ganz wie sonst und machte mit der kleinen Emly und mir vor dem Tee einen kleinen Spaziergang, während Mr. Barkis philosophisch seine Pfeife rauchte, offenbar damit beschäftigt, sich sein künftiges Glück auszumalen. Das schien seinen Appetit anzuregen, denn ich erinnere mich genau, dass er zum Tee noch eine ziemliche Menge kalten Schinken zu sich nahm, trotzdem er schon zu Mittag ziemlich viel Schweinebraten und Gemüse gegessen und dann mit ein oder zwei jungen Hühnern noch nachgeholfen hatte.
Ich habe seitdem oft daran denken müssen, was für eine seltsame unschuldige und ungebräuchliche Hochzeit das damals war.
Bald nach Dunkelwerden stiegen wir wieder in den Wagen und fuhren gemütlich zurück und betrachteten die Sterne und sprachen über sie. Ich führte hauptsächlich die Konversation und klärte Mr. Barkis’ Geist in ganz erstaunlicherweise auf. Er hätte wahrscheinlich alles geglaubt, was ihm zu erzählen mir eingefallen wäre, denn er empfand die größte Hochachtung vor meiner Gescheitheit und sagte seiner Frau, ich sei der reinste »Roeshus«. Damit meinte er ein Wunderkind.
Als wir das Thema Sterne erschöpft hatten, oder besser gesagt, als ich die geistigen Fähigkeiten Mr. Barkis’ erschöpft hatte, nahmen die kleine Emly und ich ein altes Umschlagtuch als gemeinsamen Mantel um und blieben so während der ganzen Rückfahrt sitzen. Ach, wie sehr ich sie liebte! Welche Seligkeit, dachte ich, wenn wir verheiratet wären und hinaus in die weite Welt gehen könnten, um unter den Bäumen und in den Feldern zu leben, – wenn wir niemals älter und klüger zu werden brauchten, immer Kinder Hand in Hand im Sonnenschein über blumige Wiesen wandeln und abends im Schlummer der Unschuld und des Friedens das Haupt aufs weiche Moos legen dürften; welche Seligkeit, dereinst von den Vögeln des Himmels begraben zu werden, wenn wir stürben. Solche Traumbilder, lichtstrahlend wie unsere Unschuld, unerreichbar wie die Sterne über unsern Häuptern, gaukelte mir mein Geist vor den ganzen Weg. Es freut mich, dass zwei so unschuldvolle Herzen wie Emly und ich Peggottys Hochzeit verschönten.
Wir kamen noch beizeiten zu dem alten Boot; dort nahmen Mr. und Mrs. Barkis Abschied von uns und fuhren gemächlich nach Hause in ihr eignes Heim. Da fühlte ich das erste Mal, dass ich Peggotty verloren hatte. Unter jedem anderen Dache als hier, wo ich die kleine Emly bei mir wusste, wäre ich mit blutendem Herzen zu Bett gegangen.
Mr. Peggotty und Ham sahen mir an, worunter ich litt, hielten ein Abendessen bereit und setzten ihre gastlichsten Gesichter auf, um mir meine traurigen Gedanken zu vertreiben. Die kleine Emly saß neben mir auf dem Koffer – das erste Mal, seit ich hier weilte, und es war ein wundervoller Schluss für einen herrlichen Tag.
Diese Nacht war Flut. Und bald, nachdem wir uns schlafen gelegt, fuhren Mr. Peggotty und Ham zum Fischen aus. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, in dem einsamen Haus als Beschützer Emlys und Mrs. Gummidges zurückgelassen zu sein, und wünschte mir nur, dass ein Löwe oder eine Schlange oder ein anderes bösartiges Ungeheuer uns überfallen möchte, damit ich es vernichten und mich mit Ruhm bedecken könnte. Aber da nichts dieser Art auf den Dünen von Yarmouth herumstreifte, ließ ich mir, um diesem Mangel abzuhelfen, bis zum Morgen von Drachen träumen.
Am Morgen kam Peggotty und rief mich wie gewöhnlich ans Fenster, als ob Mr. Barkis, der Fuhrmann, von Anbeginn an nur ein Traum gewesen wäre. Nach dem Frühstück nahm sie mich mit sich nach Hause. Sie bewohnten ein wunderschönes kleines Heim. Von allen Möbeln darin machte mir ein alter Schreibtisch aus dunklem Holz im Empfangszimmer, dessen Deckel aufgeschlagen ein Pult bildete, worauf eine große Quartausgabe von Fox’ »Buch der Märtyrer« lag, den tiefsten Eindruck. Als Wohnstube diente eine mit Ziegelsteinen gepflasterte Küche. Das kostbare Buch, von dem ich keine Silbe mehr weiß, entdeckte und studierte ich sogleich; nie wieder später besuchte ich das Haus, ohne auf das Pult zu klettern und es zu verschlingen. Am meisten erbauten mich die vielen Bilder, die alle Arten von Martern darstellten; die Märtyrer und Peggottys Haus sind seitdem in meiner Seele unzertrennlich miteinander verknüpft.
Ich nahm an diesem Tage von Mr. Peggotty und Ham und der kleinen Emly Abschied und schlief in der Nacht bei Peggotty in einem Dachstübchen, – das Krokodilbuch lag in einem Fach zuhaupten des Bettes – das immer mein Zimmer sein und immer für mich hergerichtet bleiben sollte.
»Solange ich lebe, lieber Davy, und unter diesem Dache wohne«, sagte Peggotty, »sollst du dieses Zimmer vorfinden, als ob ich dich jede Minute erwartete. Ich will es jeden Tag bereit halten, wie dein früheres altes kleines Zimmer, und wenn du selbst nach China gingst, soll es die ganze Zeit, wo du abwesend bist, auf dich warten.«
Ich fühlte von ganzem Herzen die Wahrheit aus diesen Worten meiner lieben alten Kindsfrau heraus und dankte ihr, so gut ich vermochte. Es fiel nicht sehr überschwenglich aus, denn sie gab mir ihre Versicherung, die Hände um meinen Hals gelegt, erst an dem Morgen, als ich mit ihr und Mr. Barkis nach Hause fuhr. Sie verließ mich am Gartentor in Blunderstone.
Es war ein bedrückender Anblick für mich, den Wagen mit Peggotty fortfahren zu sehen, während ich unter den alten Ulmen vor dem Hause stand, in dem kein Blick von Liebe oder Zuneigung mehr auf mir ruhen sollte.
Von diesem Zeitpunkt an verfiel ich in einen Zustand des Verlassenseins, auf den ich ohne Ergriffenheit nicht zurückblicken kann. Gänzlich vernachlässigt, ohne Gesellschaft von Knaben meines Alters, war ich ohne jede Aufgabe, allein gelassen mit meinen eignen trüben Gedanken, die selbst jetzt noch, wo ich dies schreibe, ihren Schatten auf das Papier zu werfen scheinen.
Was würde ich darum gegeben haben, wenn man mich wieder in eine Schule geschickt hätte – und wäre sie noch so streng gewesen –, mich auch nur das Geringste gelehrt hätte. Keine Hoffnung lag vor mir. Man konnte mich nicht leiden, sah hartnäckig und mürrisch an mir vorbei. Ich glaube, Mr. Murdstone besaß damals wenig Mittel, aber das tut wenig zur Sache. Er konnte mich nicht ausstehen, und ich glaube, er wollte meine Ansprüche an ihn vergessen, indem er mich vernachlässigte.
Ich wurde nicht tätlich misshandelt. Man schlug mich nicht und tadelte mich nicht. Aber das Unrecht, das ich litt, war ohne Unterbrechung und wurde mir in systematischer leidenschaftsloser Weise zugefügt. Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat wurde ich kalt vernachlässigt. Was sie wohl mit mir angefangen hätten, wenn ich krank geworden wäre? Ob mich jemand gepflegte hätte oder ob sie mich in meinem einsamen Zimmer einfach hätten verschmachten lassen!?
Wenn Mr. und Miss Murdstone zu Hause waren, nahm ich meine Mahlzeit mit ihnen ein. In ihrer Abwesenheit aß und trank ich allein. Zu allen Zeiten trieb ich mich unbeachtet im Hause und in der Nähe herum. Sie gaben nur eifersüchtig acht, dass ich mit niemand Freundschaft schlösse, wahrscheinlich, damit ich mich nicht beklagen könnte.
Wohl aus demselben Grunde war es mir fast nie erlaubt, mit Mr. Chillip einen Nachmittag zu verleben, trotzdem er mich sehr oft einlud. Nur selten durfte ich ihn besuchen. Ebenso selten die ihnen so verhasste Peggotty. Ihrem Versprechen getreu kam die gute Seele einmal in der Woche zu mir, oder wir trafen uns in der Nähe, und nie kam sie mit leeren Händen. Aber wie viele, viele Male täuschte ich mich bitter in der Hoffnung, Erlaubnis zu bekommen, sie in ihrer Wohnung besuchen zu dürfen. Hie und da wurde es mir gestattet, und bei einer solchen Gelegenheit brachte ich heraus, dass Mr. Barkis eigentlich ein Geizhals, oder wie sie es nannte, ein bisschen knickerig war, und viel Geld in einem Koffer unter seinem Bette versteckt hielt, der angeblich voll Kleider und Hosen sein sollte. Mit solcher Zähigkeit verbarg Barkis seine Schätze, dass auch die kleinste Summe nur durch List aus ihm herausgelockt werden konnte. Peggotty musste jedes Mal eine wahre Pulververschwörung anzetteln, um samstags ihr Haushaltungsgeld zu bekommen.
Während dieser langen Zeit fühlte ich allmählich jede Hoffnung schwinden und empfand die vollständige Vernachlässigung so tief, dass ich ohne meine alten Bücher ganz und gar elend gewesen wäre. Sie bildeten meinen einzigen Trost, und ich war ihnen so treu, wie sie mir, und ich las sie, ich weiß nicht mehr, wie viele Male durch.
Ich komme jetzt zu einem Zeitabschnitt meines Lebens, den ich nie vergessen kann und dessen Erinnerung mir oft ungerufen wie ein Gespenst erschienen ist und glückliche Zeiten getrübt hat.
Ich schlenderte wie gewöhnlich eines Tags zwecklos und träumerisch wie immer umher, da stieß ich, um eine Ecke biegend, unvermutet auf Mr. Murdstone, der sich in Begleitung eines Herrn befand. Ich wollte mich verlegen vorbeidrücken, als der Herr rief: »Hallo, Brooks.«
»Nein, Sir, David Copperfield«, sagte ich.
»Sei still, du bist Brooks von Sheffield«, sagte der Herr, »das ist dein Name.«
Bei diesen Worten sah ich mir den Gentleman genauer an und erkannte in ihm Mr. Quinion, der damals bei meinem und Mr. Murdstones Besuch in Lowestoft so gelacht hatte.
»Und was machst du und wo gehst du in die Schule, Brooks?« fragte Mr. Quinion. Er legte mir die Hand auf die Schulter und zog mich mit. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und blickte fragend auf Mr. Murdstone.
»Er ist jetzt zu Hause«, sagte Mr. Murdstone. »Er geht überhaupt nicht in die Schule. Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll. Es ist ein schwieriger Fall.«
Sein alter falscher Blick ruhte eine Weile auf mir, dann runzelte er die Brauen und wandte sich mit Widerwillen von mir ab.
»Hum«, sagte Mr. Quinion und sah uns beide an. »Schönes Wetter.«
Eine Pause trat ein, und ich überlegte, wie ich mich am besten von ihm losmachen könnte und meines Weges gehen, als er sagte:
»Ich glaube, du bist doch ein ziemlich flinker Bursche, was, Brooks?«
»Ja, er ist flink genug«, sagte Mr. Murdstone ungeduldig. »Lass ihn doch gehen, er wird dirs nicht Dank wissen, dass du ihn festhältst.« Auf seinen Wink ließ mich Mr. Quinion los, und ich beeilte mich, wegzukommen. Als ich mich im Garten umdrehte, sah ich, dass Mr. Murdstone, am Kirchhof stehengeblieben, mit Mr. Quinion unterhandelte. Sie sahen mir beide nach, und ich merkte, dass sie von mir sprachen.
Mr. Quinion blieb die Nacht über bei uns. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen wollte ich eben das Zimmer verlassen, als mich Mr. Murdstone zurückrief. Er ging dann feierlich an den Schreibtisch seiner Schwester; Mr. Quinion schaute, die Hände in den Taschen, zum Fenster hinaus, und ich stand da und sah von einem zum anderen.
»David«, begann Mr. Murdstone, »für die Jugend ist dies eine Welt der Tat, aber keine zum Brüten und Faulenzen.«
»Wie du es machst«, fügte seine Schwester hinzu.
»Jane Murdstone, überlasse das gefälligst mir! – Also ich sage dir, David, für die Jugend ist dies eine Welt der Tat und nicht ein Feld zum Brüten und Faulenzen, ganz besonders nicht für einen Jungen von deinem Charakter, der der Zucht bedarf und dem man den größten Dienst leistet, wenn man ihn zwingt, die Wege der arbeitenden Welt zu betreten, um ihn zu ducken und zu brechen.«
»Mit Trotz ist hier nichts auszurichten«, warf seine Schwester dazwischen, »dein Trotz muss gebrochen werden. Er soll und muss gebrochen werden.« Mr. Murdstone warf ihr einen halb abweisenden, halb billigenden Blick zu und fuhr fort:
»Ich glaube, du weißt, David, dass ich nicht reich bin. Jedenfalls weißt dus jetzt. Du hast eine beachtenswerte Erziehung genossen. Erziehung kostet Geld. Aber selbst, wenn das nicht der Fall wäre, würde ich es doch für vorteilhaft halten, dich nicht mehr in die Schule zu schicken. Was vor dir liegt, ist der Kampf mit der Welt, und je eher du damit anfängst, umso besser!«
Ich glaube, dass ich ihn in meiner eignen armseligen Art wohl schon lange begonnen hatte.
»Du hast wohl schon von dem Comptoir gehört?« fuhr Mr. Murdstone fort.
»Vom Comptoir, Sir?«
»Von Murdstone & Grinbys Weinhandlung.«
Ich muss vermutlich ein verwirrtes Gesicht gemacht haben, denn er sagte ungeduldig: »Das Comptoir, das Geschäft, der Keller, das Lager, kurz und gut.«
»Ich glaube, ich habe davon gehört, Sir, aber ich weiß nicht mehr wann.«
»Das ist schließlich gleichgültig«, antwortete er. »Mr. Quinion führt das Geschäft.«
Ich blickte den Gentleman, der immer noch aus dem Fenster schaute, ehrerbietig an.
»Mr. Quinion meint, dass er noch ein paar Jungen beschäftigen kann und keinen Grund sieht, warum er dich nicht auch unter denselben Bedingungen anstellen sollte.«
»Wenn Brooks schon sonst keine anderen Aussichten hat, Murdstone«, ließ Mr. Quinion halblaut fallen und sah sich nach uns um.
Ohne zu beachten, was er sagte, fuhr Mr. Murdstone ungeduldig, fast ärgerlich fort:
»Die Bedingungen sind, dass du so viel verdienst, dass du Essen, Trinken und Taschengeld hast. Deine Wohnung, die ich dir aussuchen werde, bezahle ich, ebenso deine Wäsche.«
»Die ich aussuchen werde«, sagte Miss Murdstone.
»Für deine Kleider wird auch gesorgt werden, da du für die erste Zeit sie dir nicht selbst wirst beschaffen können. Du gehst also jetzt mit Mr. Quinion nach London, David, um ein Leben auf eigne Rechnung zu beginnen.«
»Kurz, du bist versorgt«, bemerkte Miss Murdstone »und wirst gefälligst deine Pflicht tun.«
Ich verstand ganz gut, dass man mich nur loswerden wollte, weiß aber nicht mehr recht, ob ich mich darüber freute oder traurig war. Ich glaube, ich fühlte mich so verwirrt, dass ich zwischen beiden Empfindungen hin und her schwankte. Es blieb auch nicht viel Zeit, mir darüber klarzuwerden, da Mr. Quinion am nächsten Morgen abreisen sollte.
Ich sehe mich an jenem Morgen in einem alten abgetragnen weißen Hut mit einem schwarzen Trauerflor, in einer schwarzen Jacke und ein paar harten steifen Manchesterhosen, die Miss Murdstone vermutlich als die beste Rüstung im Kampfe mit der Welt, den ich jetzt beginnen sollte, ausgesucht hatte. In diesem Aufzug, alle meine Habseligkeiten in einem kleinen Koffer, ganz allein, »einsam und verlassen«, wie Mrs. Gummidge gesagt hätte, saß ich auf dem Wagen, der Mr. Quinion zur Londoner Post nach Yarmouth brachte.
Kleiner und kleiner wurden das Haus und die Kirche in der Ferne, das Grab unter dem Baum verschwand hinter den Häusern. Dann sehe ich den Kirchturm nicht über meinem alten Spielplatz mehr ragen, und der Himmel ist öde und leer.
Ich kenne die Welt jetzt gut genug, um mich fast über nichts mehr zu wundern, aber dennoch muss ich selbst heute noch staunen, wie man mich damals in einem solchen Alter derartig leichtfertig hinausstoßen konnte. Dass sich niemand eines Kindes von so vortrefflichen Fähigkeiten und mit so großer Beobachtungsgabe, so schnell von Begriffen, lernbegierig, körperlich und geistig so leicht verletzbar wie ich, annahm, klingt fast wunderbar. Aber niemand tat es, und so wurde ich in meinem zehnten Jahr ein kleiner Laufbursche bei Murdstone & Grinby.
Murdstone & Grinbys Magazin lag am Wasser unten in Blackfriars. Neubauten haben die Gegend verändert, aber damals war es das letzte Haus in einer engen Straße, die sich zum Fluss hinschlängelte; am Ende mit ein paar Stufen, wo ein Boot anlegte. Es war ein baufälliges altes Haus mit einem eignen Ladeplatz, der während der Flut im Wasser und während der Ebbe im Schlamm stand und von Ratten wimmelte. Die getäfelten Zimmer, schwarz von Schmutz und Rauch von hundert Jahren wohl, die verfaulten Fußböden und Stiegen, das Quieken und Pfeifen der alten Ratten im Keller, der Schmutz und die Fäulnis des Ortes, alles das steht jetzt noch so deutlich vor meinen Augen, wie beim ersten Mal, als ich an Mr. Quinions Hand zitternd eintrat.
Murdstone & Grinby hatten mit allen möglichen Bevölkerungsschichten zu tun. Das Hauptgeschäft bestand darin, gewisse Lastschiffe mit Wein und Branntwein zu versorgen. Ich weiß nicht mehr, was es für Lastschiffe waren, aber einige derselben fuhren nach Ost- und Westindien. Eine große Menge leerer Flaschen bildete eine Begleiterscheinung dieser Geschäftstätigkeit, und eine Anzahl Männer und Knaben mussten diese Flaschen gegen das Licht halten, die beschädigten weglegen und die übrigen ausspülen. Wenn die leeren Flaschen zu Ende gingen, mussten die gefüllten mit Zetteln beklebt, zugekorkt, versiegelt und in Kisten gepackt werden. Das war auch meine Beschäftigung.
Wir waren unser drei oder vier Knaben. Mein Platz befand sich in einer Ecke des Lagerhauses, wo Mr. Quinion mich sehen konnte, wenn er sich auf das unterste Querholz seines Stuhls im Comptoir aufstellte und über das Pult hinweg zum Fenster hinausblickte.
Am ersten Morgen meiner so aussichtsvoll anhebenden Lebensbahn wurde der älteste der angestellten Knaben herbeigerufen, um mir meine Arbeit zu zeigen. Er hieß Mick Walker und trug eine zerrissene Schürze und eine Mütze aus Papier. Sein Vater war, wie er mir sagte, Schutenführer und ging mit schwarzem Samtbarett im jährlichen Festzuge des Lord-Mayor. Unser Vorarbeiter, ebenfalls ein Knabe, wurde mir unter dem sonderbaren Namen Mehlkartoffel vorgestellt. Wie ich später herausfand, war der Jüngling nicht auf diesen Namen getauft, sondern hatte ihn wegen seiner blassen mehligen Gesichtsfarbe bekommen. Er hieß auch kurz Mehlig, und sein Vater war Themseschiffer und außerdem Feuerwehrmann in einem großen Theater, wo Mehligs kleine Schwester Kobolde in Pantomimen spielte.
Worte können meine geheime Seelenqual nicht beschreiben, als ich zu dieser Gesellschaft herabsank, diese jetzt tägliche Umgebung mit meiner glücklichen Kindheit verglich, – nicht zu reden von dem Umgang mit Steerforth, Traddles und den anderen Knaben, – und alle meine Hoffnungen, zu einem angesehenen gebildeten Menschen heranzuwachsen, vernichtet fand. Unbeschreiblich war meine Hoffnungslosigkeit, die Scham über meine Lage, das Elend in meinem jungen Herzen, von Tag zu Tag mehr und mehr vergessen zu müssen, was ich gelernt, gedacht und mir ausgemalt hatte. Sooft Mick Walker an diesem Vormittag fortging, mischten sich meine Tränen mit dem Wasser, in dem ich die Flaschen spülte, und ich schluchzte, als ob mir das Herz brechen wollte.
Die Comptoirglocke zeigte halb eins, und alles machte sich zum Mittagessen bereit, als Mr. Quinion ans Fenster klopfte und mich hereinrief. Ich gehorchte und fand drinnen einen starken Mann von mittlern Jahren in einem braunen Überzieher, mit schwarzen Hosen und Schuhen, mit einem Kahlkopf, der so glatt war wie ein Ei, und einem vollen breiten Gesicht. Seine Kleider waren schäbig, dafür hatte er einen ungeheuren Hemdkragen. Er trug einen ehemals glänzend gewesenen Stock mit ein paar großen, abgegriffnen, schwarzen Quasten und an der Brust eine Lorgnette. Diese, wie ich später herausfand, bloß als Schmuck, denn er sah selten hindurch und konnte nichts erkennen, wenn er sie vors Auge hielt.
»Das ist er«, sagte Mr. Quinion und deutete auf mich.
»Also das ist Master Copperfield«, sagte der Fremde mit einer gewissen affektierten Herablassung in Stimme und Benehmen und einer Vornehmtuerei, die mir außerordentlich imponierte.
»Sie befinden sich doch wohl, Sir?«
Ich sagte: »Außerordentlich«, und hoffte das gleiche von ihm. Mir war entsetzlich zumute, weiß der Himmel, aber es lag nicht in meiner Natur zu klagen.
»Dem Himmel sei Dank«, sagte der Fremde, »mir geht es recht gut. Ich habe einen Brief von Mr. Murdstone empfangen, in dem ich ersucht werde, in einem Zimmer im Hintertrakte meines Hauses, das augenblicklich leer steht und – und –« platzte er plötzlich in einem Anfall von Vertraulichkeit lächelnd heraus – »als Schlafstube vermietet werden soll, den jungen Anfänger aufzunehmen, den ich jetzt das Vergnügen habe zu –« er schwenkte die Hand und steckte das Kinn in den Hemdkragen.
»Das ist Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion zu mir.
»Ahem«, sagte der Fremde, »das ist mein Name.«
»Mr. Micawber«, sagte Mr. Quinion, »ist Mr. Murdstone bekannt. Er sammelt Aufträge für uns, das heißt, wenn er welche bekommen kann. Er erhielt von Mr. Murdstone wegen deiner Wohnung einen Brief und wird dich zu sich nehmen.«
»Meine Adresse ist Windsor Terrasse, City Road – kurz«, sagte Mr. Micawber in derselben vornehmen Miene wie bei Beginn und dann plötzlich in vertraulichen Ton umschlagend, »kurz, ich wohne dort.«
»Ich stehe unter dem Eindruck«, fuhr er fort, »dass Ihre Wanderungen in dieser Metropole bisher wohl noch nicht so ausgedehnt gewesen sein können, dass es Ihnen nicht einigermaßen Schwierigkeiten bereiten dürfte, in die Verborgenheiten des modernen Babylon bis in die Richtung der City Road vorzudringen, – kurz –«, er verfiel wieder in plötzliche Vertraulichkeit, »dass Sie sich verlaufen könnten. Ich werde so frei sein, Sie diesen Abend abzuholen und in die Kenntnis des kürzesten Weges einzuweihen.«
Ich dankte von ganzem Herzen, denn es war freundlich von Mr. Micawber, dass er sich erbot, so viel Mühe auf sich zu nehmen.
»Zu welcher Stunde soll ich?« fragte Mr. Micawber.
»Gegen acht«, sagte Mr. Quinion.
»Gegen acht«, wiederholte Mr. Micawber. »Ich erlaube mir, Ihnen einen guten Tag zu wünschen, Mr. Quinion, ich will nicht länger stören.«
Damit setzte er seinen Hut auf und ging hinaus, den Stock unter dem Arm, kerzengerade, und begann ein Liedchen zu pfeifen, als er das Comptoir hinter sich hatte.
Mr. Quinion engagierte mich sodann in aller Form für das Lagerhaus von Murdstone & Grinby als »Bursche für alles« mit einem Salär von, ich weiß nicht mehr, sechs oder sieben Schillingen wöchentlich. Er bezahlte mir eine Woche voraus – aus seiner Tasche, glaube ich, und ich gab davon Mehlig sechs Pence, damit er abends meinen Koffer nach der Windsor Terrasse bringe, der, wenn auch noch so klein, dennoch für meine Kraft zu schwer war. Weitere sechs Pence zahlte ich für mein Mittagessen, das aus einer Fleischpastete und einem Schluck Brunnenwasser bestand, und verbrachte die freie Mittagsstunde auf der Straße herumschlendernd.
Abends zur festgesetzten Zeit erschien Mr. Micawber wieder. Ich wusch mir seinetwegen Hände und Gesicht, und wir gingen nach unsrer Wohnung. Mr. Micawber machte mich auf die Straßennamen und die Merkmale der Eckhäuser aufmerksam, damit ich am anderen Morgen den Weg wieder zurückfinden könnte.
In seinem Hause in der Windsor Terrasse, das auch so auf äußern Schein hielt und dabei ebenso schäbig war wie er selbst, stellte er mich Mrs. Micawber vor, einer magern verwelkten Dame, die, nicht mehr jung, mit einem Kind an der Brust in der Wohnung im Parterre saß. Der erste Stock war überhaupt nicht möbliert und die Rouleaux waren herabgelassen, um die Nachbarn zu täuschen. Der Säugling gehörte zu einem Zwillingspaar und während meiner ganzen Bekanntschaft mit der Familie sah ich niemals die Mutter ohne einen der beiden an der Brust. Einer von beiden hatte immer Hunger.
Noch zwei andere Kinder waren da. Master Micawber, ungefähr vier Jahre, und Miss Micawber, etwa drei alt. Dazu kam noch ein junges, dunkelhäutiges Dienstmädchen, das beständig schnaufte und, wie sie es nannte, ein »Waisling«, aus dem benachbarten St.-Lukas-Armenhause stammte. Mein Zimmer sah unter dem Dache nach dem Hof hinaus, war klein, mit einem weißblauen Semmelmuster bemalt und sehr dürftig möbliert.
»Ich hätte nie gedacht«, sagte Mrs. Micawber, als sie mit den beiden Zwillingen hinaufging, um mir das Zimmer zu zeigen, und sich niedersetzte, um Atem zu schöpfen, »ich hätte nie geglaubt, ehe ich heiratete und noch bei Papa und Mama lebte, dass ich noch einmal an fremde Leute würde vermieten müssen. Aber da Mr. Micawber momentan in Verlegenheiten ist, müssen alle selbstsüchtigen Bedenken fallen.«
Ich sagte: »Jawohl, Madame.«
»Mr. Micawbers Bedrängnisse sind augenblicklich fast erdrückender Art«, fuhr Mrs. Micawber fort, »und ob es möglich sein wird, ihn hindurchzubringen, weiß ich nicht. Als ich noch zu Hause bei Papa und Mama lebte, hätte ich Papas Lieblingsausdruck Experientia docet kaum so verstanden, wie ich es jetzt tue.«
Ich weiß nicht recht, ob sie mir sagte, dass Mr. Micawber Marinebeamter gewesen war, oder ob ich es mir bloß einbildete. Augenblicklich war er eine Art Platzreisender für verschiedene Häuser, machte aber wenig oder gar keine Geschäfte.
»Wenn Mr. Micawbers Gläubiger nicht warten wollen«, sagte Mr. Micawber, »müssen sie selbst die Folgen tragen. Je eher sies zu einem Ende bringen, desto besser. Blut lässt sich aus keinem Stein pressen, und noch weniger kann Mr. Micawber jetzt etwas auf Abschlag zahlen, – die Gerichtskosten gar nicht zu erwähnen.«
Ich weiß nicht, ob sie meine frühreife Selbstständigkeit über mein Alter irre machte oder ob die Angelegenheit sie derart erfüllte, dass sie sie sogar den beiden Zwillingen erzählt haben würde, wenn niemand anders dagewesen wäre. Jedenfalls schlug sie diese Tonart an und redete darin weiter, solange ich sie kannte.
Die arme Mrs. Micawber! Sie habe sich keine Mühe verdrießen lassen, sagte sie; und daran zweifle ich nicht. Die Haustüre war halb verdeckt von einer großen Messingplatte mit der Aufschrift: »Mrs. Micawbers Erziehungsheim für junge Damen.« Aber ich erfuhr nie, dass eine junge Dame Unterricht genommen hätte oder angemeldet worden wäre. Die einzigen Besucher, die ich sah, waren Gläubiger. Sie pflegten den ganzen Tag zu kommen und einige von ihnen benahmen sich furchtbar wild. Ein Mann mit einem schmutzigen Gesichte, ich glaube, er war Schuster, klemmte sich jeden Morgen schon um sieben Uhr früh zur Haustüre herein und rief die Treppe hinauf Mr. Micawber zu: »No, Sie sind noch nicht fort, weiß schon. Werden Sie endlich zahlen? Verstecken Sie sich nicht. Das ist gemein! Ich möchte nicht so gemein sein, wenn ich Sie wäre. Zahlen Sie endlich, ja? Werden Sie nicht endlich zahlen, was! No?« Da er nie eine Antwort bekam, pflegte er sich in seiner Wut zu Worten wie Schwindler und Räuber zu versteigen, und als auch das nie half, lief er zuweilen sogar auf die Straße hinaus und brüllte zu den Fenstern des zweiten Stocks hinauf, wo sich Mr. Micawber aufhielt, wie er wusste.