Qumran

Mesaj mə
0
Rəylər
Fraqment oxumaq
Oxunmuşu qeyd etmək
Şrift:Daha az АаDaha çox Аа

|17|1.5 Die „Scrollery“ (1952–1960)

Mit der Entdeckung von Höhle 4 wird es klar, dass viel Zeit, Geduld und große Geldmengen für den Ankauf der im Besitz der Beduinen befindlichen tausenden von Fragmenten sowie ein größeres Editorenteam notwendig werden. Verschiedene westliche Institutionen (die Universitäten McGill, Oxford, Manchester, Heidelberg und McCormick, daneben auch die Biblioteca Vaticana, und All Souls Church) stellen größere Beträge zur Verfügung, erhalten im Gegenzug das Recht auf Fragmente (nach der Veröffentlichung) und dürfen Gelehrte für das Editorenteam benennen: das Team der „ScrolleryScrollery“.

Das gesuchte Profil schränkt den möglichen Bewerberkreis stark ein: Die Arbeit verlangt langjährige Präsenz in (Ost‑)Jerusalem. Zusätzlich zu exzellenten wissenschaftlichen Qualitäten sind gute Gesundheit und Unabhängigkeit von bestehenden familiären und beruflichen Pflichten unumgänglich. Dies schließt den Großteil der etablierten Wissenschaftler aus. Dazu ist ausgerechnet jüdischen Wissenschaftlern, von denen einige durchaus Wesentliches hätten beitragen können, die Einreise nach Jordanien untersagt. Zu de Vaux als Chefeditor und fähigem Administrator und den ohnehin schon an der École Biblique arbeitenden katholischen Priestern Józef Milik, Pierre Benoit (1906–1987) und Maurice Baillet (1923–1988) – Dominique Barthélemy muss wegen Krankheit Jerusalem verlassen – stoßen 1953–1954 sechs weitere junge Doktoranden und Postdoktoranden und bilden das EditionsteamEditionsteam: Aus den USA der Presbyterianer Frank Moore Cross (1921–2012) und der katholische Priester Patrick Skehan (1909–1980); aus England der Anglikaner John Strugnell (1930–2007) und der Agnostiker John Allegro (1923–1988); aus Frankreich der katholische Priester Jean Starcky (1909–1988). Das einzige deutsche Mitglied, Claus-Hunno Hunzinger (1929–), wurde später durch Maurice Baillet ersetzt. Von den Mitarbeitern in der Scrollery sind Strugnell und Milik zweifellos die begabtesten Editoren. Milik, „der schnellste Mann mit einer Rolle“, entziffert nicht nur die äußerst schwierige Kursivschrift der Texte aus der Bar Kosba Revolte, sondern – während seine Kollegen Mittag essen – auch die wichtigste der drei kryptischen Schriftarten. Seine linguistischen Fähigkeiten, seine Beobachtungsgabe und sein Gedächtnis für die kleinsten Details der Unterschiede in Schrift, Papyrus und Leder sind phänomenal. Strugnell steht ihm in nichts nach. Finanziert wird das kostspielige Projekt durch ein sechsjähriges Mäzenat des amerikanischen Millionärs John D. Rockefeller. Dazu gehören auch die sogenannten „PAM FotosPAM Fotos“ (Palestine Archaeological Museum, heute Rockefeller Museum) |18|des Fotografen Najib Anton Albinas. Diese Infrarotfotos sind in vielen Fällen die besten Zeugen für den ursprünglichen Zustand vieler Fragmente (s.u. S. 58–60), die nachdunkeln, an den Rändern Buchstaben verlieren und zu Gelatine werden. Kaffee, Zigaretten und direktes Sonnenlicht, auf Rückseiten geklebter Tesafilm sowie das für die kurzzeitige Kontrastverstärkung aufgetragene Rizinusöl tun das Ihrige dazu.

Ein ausgeklügeltes AnkaufssystemAnkaufssystem sorgt dafür, dass fast alle Rollen schließlich auf den Tischen der Scrollery landen und nicht in den Safes privater Sammler, was die Editionsarbeit enorm erschwert oder gar unmöglich gemacht hätte. Beduinen werden pro beschriebenen Quadratzentimeter bezahlt (was allerdings leere Ränder für den Verkauf uninteressant macht), mit Zulagen für große Fragmente, damit sie möglichst ganz übergeben werden.

In der vierten Ausgrabungskampagne vom Februar–April 1955 werden innerhalb der Umschließungsmauer Qumrans vier Höhlen (Höhlen 7, 8, 9 und 10Höhlen 7, 8, 9 und 10) mit wenigen Fragmenten entdeckt. Im Sommer 1955 erscheinen der erste Band der neuen Editionsserie Discoveries in the Judaean Desert (DJD)Discoveries in the Judaean Desert (DJD) (anfänglich Discoveries in the Judaean Desert of Jordan [DJDJ]) mit den archäologischen Funden und Fragmenten aus Höhle 1 und quasi zeitgleich – allerdings posthum – Sukeniks Edition der Rollen im Besitz der Hebräischen Universität: die Hymnenrolle (1QHa), Kriegsregel (1QM) und die „kleine“ Jesajarolle (1QIsab).

Wie üblich sind es die scharfäugigen Beduinen, die im Februar 1956 die letzte größere Entdeckung einer Höhle mit Schriftrollen bei Qumran machen, Höhle 11Höhle 11. Wissend, dass jeder Schnipsel Gold wert ist, räumen sie sie vollständig aus und machen so leider jede genaue archäologische Untersuchung zunichte. Man kann nicht genug betonen, dass der Schwarzmarkt um antike Texte und Objekte zwar oftmals dafür sorgt, dass Objekte größten öffentlichen Interesses gesucht und gefunden werden, doch durch ihre Dekontextualisierung gleichzeitig unersetzliches Wissen für immer zerstört (s.u. Archäologie, S. 91). Anders als die Höhlen 2 bis 10 enthält Höhle 11 neben Fragmenten auch ganze Rollen, u.a. die Psalmenrolle mit vorher unbekannten Psalmen, eine bis heute verschlossene Ezechielrolle, eine Levitikusrolle in paläohebräischer Schrift und die Tempelrolle, die bis 1967 bei Kando bleiben sollte und dabei zur Hälfte zerfällt.

An anderen Orten gehen die Entdeckungen von Schriftrollen durch Beduinen oder Archäologen bis in die jüngsten Jahre weiter. Die meisten dieser Funde stammen aus der zweiten Revolte unter Bar Kosba (132–135 n. Chr.): 1952 Wadi Murabbaat und Nahal Hever, 1960–1961 Wadi Seiyal, Nahal Mishmar und wiederum |19|Nahal Hever, 1986 und 1993 Ketef Jericho, 2002 Ein Gedi und 2004 Nahal Arugot. 1962–1963 entdecken Beduinen Dokumente aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. in Wadi Daliyeh. 1963–1965 findet Yadins Team in der Festung Masada Texte aus der Zeit des Zweiten Tempels und aus der folgenden römischen Besetzung (s.u. S. 129–132).

Ingenieure in Manchester schaffen es 1956, die Kupferrolle auseinander zu sägen, so dass man endlich die einzelnen Stücke lesen kann. Eine Liste mit unglaublichen Schätzen! John Allegro macht sich auf die Suche, findet aber nichts, abgesehen von Hohn und wachsender Verachtung seiner Kollegen. Im Sommer 1956 veröffentlicht Allegro die erste Synthese eines Scrollery-Mitarbeiters über die Qumranrollen: Ein die kühnsten Erwartungen übertreffender absoluter Bestseller, von dem in drei Wochen 40000 Exemplare verkauft werden. Dazu tragen allerdings auch seine Überinterpretationen bei, die in unzähligen Texten christianisierende Hinweise finden. Unter anderem behauptet er, der Lehrer der Gerechtigkeit sei gekreuzigt worden.

Kurz darauf veröffentlichen Vermes, Milik (1957 frz., 1959 engl.), Cross (1958) und de Vaux (1959) ihre klassischen Synthesen und etablieren den bis in die neunziger Jahre gültigen KonsensKonsens: Die Schriftrollen gehörten Essenern, die von 130 v. Chr. bis 68 n. Chr. in der Siedlung wohnten. Die apokalyptische Gruppe hatte sich wegen Streitigkeiten um die Legitimität der Hasmonäer als Hohepriester in Jerusalem in die Wüste zurückgezogen und erwartete in größtmöglicher Isolation das nahe Ende der Zeit. Abgesehen von den Rollen mit biblischen Texten oder bekannten Apokryphen geht man davon aus, dass die große Mehrheit der Texte von ihren essenischen Besitzern auch verfasst wurden. Die meisten Gegenvorschläge – z.B. von del Medico und Rengstorff, die vorschlagen, die Texte seien eine Geniza von Bibliotheken aus Jerusalem – perlen an diesem Konsens ab. Das wird so bleiben bis zum lautstarken Auftreten Norman Golbs und den archäologischen Neuinterpretationen der Donceels in den 90er Jahren. In Deutschland wird der Konsens durch Hartmut Stegemann nuanciert, der in den Essenern keine isolierte Sekte, sondern eine breite Bewegung sieht.

Anlässlich der Suezkanalkrise im Oktober 1956 werden die Fragmente aus Angst vor einem Krieg von Jerusalem in einen Banksafe in Amman gebracht. Das Team zerstreut sich in alle vier Winde. Die Editionsarbeit an den Fragmenten kommt zu völligem Stillstand. Die politische Situation ist unklar. Erst im März 1957 kehren die Fragmente nach Jerusalem zurück – teilweise von Schimmel befallen. Man beschließt, eine Konkordanz zu erstellen, um die Arbeit an den nicht-biblischen Fragmenten zu erleichtern. Die KonkordanzKonkordanz |20|für die Mitglieder der Scrollery wird schließlich 1960 fertiggestellt, allerdings nicht über das Team hinaus verbreitet. 1990 wird sie eine entscheidende Rolle bei der inoffiziellen Veröffentlichung der Texte aus Höhle 4 spielen.

Die ganze Zeit über publizieren die Mitglieder des Editionsteams in den unterschiedlichsten Zeitschriften und Sammelbänden vorläufige, nicht offizielle Editionen. 1960 beendet Rockefeller sein finanzielles Engagement – in weiser Voraussicht: Dreißig Jahre später wartet ein Großteil der Texte aus Höhle 4 immer noch auf die Veröffentlichung!

1.6 Der akademische Skandal par excellence (1960–1990)

Mit der Auflösung der Scrollery kommt auch die intensive Arbeitsphase der Mitglieder der Scrollery zu ihrem Ende. Jordanien hat nicht die für die weitere Arbeit notwendigen finanziellen Mittel. Ist bis 1960 die Hauptarbeit erledigt worden (Konkordanz!), wird die Editionsarbeit von 1960 bis 1990 nun nur im Schneckentempo vorangehen. In DJD erscheinen bis 1990 nur sechs weitere Bände, vier davon vor 1970. Die Gründe für die Verschleppung der HerausgabeVerschleppung der Herausgabe sind vielfältig: einige Editoren bearbeiten ein zu großes Quantum an Texten (Milik ca. 200 Rollen mit tausenden von Fragmenten!). Die Alkoholabhängigkeit der zwei produktivsten und begabtesten Mitarbeiter fördert nicht die Effizienz. Mehrere Mitarbeiter treten schon früh sehr verantwortungsvolle Posten an, die ihnen nur noch kurze Forschungsaufenthalte in den Semesterferien erlauben (Cross schon seit 1954). Später werden Jordaniens Verstaatlichung des Rockefeller Museums und Israels Eroberung des Ostteils Jerusalems mit dem Rockefeller Museum und der École Biblique et Archéologique ein politisches Umdenken erfordern, das nicht allen leicht fallen wird. Die meisten Mitarbeiter haben eine stark antiisraelische Haltung, die bei einigen auch die Schwelle zum Antisemitismus überschreitet.

 

Doch der Hauptgrund ist wohl der Perfektionismus fast aller Teammitglieder. John Strugnell publiziert in der Revue de Qumrân 1970 eine vernichtende, doch wegweisende Rezension in Buchlänge zu Allegros mangelhafter Edition seiner Fragmente aus Höhle 4. Welche Arbeit und welcher Druck hinter der Editionsarbeit stehen, kommt im Vorwort des von Maurice Baillet edierten DJD-Bands (1982) auf erschütternde Weise zutage:

In Anbetracht seiner Unvollkommenheiten wird dieses Werk vielleicht strenge Rezensenten finden. Wenigstens werde ich die Genugtuung haben, mein Bestes gegeben zu haben. Geliebter Leser, vergesse nie, dass es unter |21|Qualen, manchmal gar unter Tränen geschrieben worden ist. Du magst erahnen, dass sein Autor, durch das Hintertürchen dem Höhle 4 Team beigetreten, froh ist, heute durch das Haupttor davonzukommen. (Baillet, DJD 7, xiv).

Bei der Eroberung des Westjordanlandes 1967 fällt Israel nicht nur das Rockefeller Museum mit den Fragmenten und den Fotos, sondern auch Bethlehem und damit der Antiquitätenladen Kandos in die Hände. Der bestens informierte Yadin entsendet ein Kommando, das die Tempelrolle konfisziert (Kando wird später mit 108000 Dollar „entschädigt“). Sie war in einem Schuhkarton unter den Bodenplanken von Kandos Haus versteckt. Leider hat das in der Zwischenzeit durchgesickerte Putzwasser die Hälfte der Rolle unwiederbringlich zerstört.

1977 veröffentlicht Yadin die Tempelrolle. Es ist die erste wichtige Qumranrolle, deren Analyse zunächst nur Forschern zugänglich ist, die Ivrit lesen. Die Publikation der Tempelrolle als WasserscheidePublikation der Tempelrolle wird sich als Wasserscheide für die Deutung der Gesamtbibliothek erweisen. Bis dato drehen sich die meisten Veröffentlichungen um die Theologie und Exegese der Besitzer der Rollen. Nun steht plötzlich die Halakha im Zentrum. Plakativ gesagt folgt dreißig Jahren christianisierender Lektüre der Rollen nun eine Epoche der „Rejudaisierung“, einer Heimholung Qumrans in die jüdischen Studien (vgl. den Titel von Schiffmans einflussreicher Einleitung).

Noch auf einer anderen Ebene läutet die Publikation der Tempelrolle eine Wende ein. Während Yadin die essenische Autorschaft der Tempelrolle befürwortet, mehren sich die Stimmen dagegen. Dies ist die erste große vorher unbekannte hebräische Rolle, die die pan-essenische Deutung in Frage stellt.

Im Jahr 1977 ertönt auch der erste wirklich laute Aufschrei über die Verschleppung der Veröffentlichung der Qumrantexte. Kein Geringerer als Géza Vermes (1924–2013), Professor in Oxford, spricht vom „akademischer Skandal par excellenceakademischen Skandal par excellence des 20. Jahrhunderts“, wenn nicht drastische Schritte zu ihrer schleunigen Herausgabe unternommen würden. Es sollte noch dreizehn Jahre dauern. In der Zwischenzeit geben die an großen Universitäten beschäftigten Mitglieder der Scrollery die Texte an ihre Doktoranden weiter. Anderen Wissenschaftlern hingegen wird Zugang zu Rollen und Fotos verwehrt. So haben Doktoranden Macht, Thesen anderer, und seien es noch so hochangesehene Experten, mit dem kurzen Hinweis auf unveröffentlichte Qumrantexte umzukippen. Diese Situation verschärft den Verdruss der außenstehenden Wissenschaftler. Immerhin wird Ende der 80er Jahre das Editionsteam hier und da um Außenstehende erweitert.

|22|Strugnell hat für die Analyse eines weiteren halakhischen, aber im Gegensatz zur Tempelrolle äußerst fragmentarischen Texts in seiner Verantwortung, 4QMMT4QMMT (Miqsat Maase Hatora = „einige Werke der Tora“), schon 1979 den jungen israelischen Linguisten Elisha Qimron als Experten für das „mischnische“ Hebräisch gewonnen. 1984 stellt Qimron auf einer Konferenz in Jerusalem erstmals den Text vor: es handle sich um einen frühen Brief des „Lehrers der Gerechtigkeit“ an seinen Kontrahenten, den „gottlosen Priester“, bevor sich beide Parteien auseinander entwickelt haben. Der Text enthält halakhische Diskussionen zu ca. zwanzig Punkten, in denen den Schreibern und Adressaten Positionen beigemessen werden, wie sie die Sadduzäer vertraten, während parallel gegen eine dritte Gruppe, die pharisäische Positionen vertritt, polemisiert wird. Dass ein so zentrales Dokument 35 Jahre lang unveröffentlicht bleiben konnte, erregt erhebliches Aufsehen, und lässt verwundert fragen, welche anderen zentralen Texte gleichfalls unveröffentlicht geblieben seien.

1.7 Die Veröffentlichung (1990–2010)

Sechs Jahre später ist der Text immer noch nicht publiziert, nicht einmal in einer vorläufigen Edition. Der Druck in akademischen Kreisen und der interessierten Weltöffentlichkeit, vor allem auch durch die Zeitschrift Biblical Archaeology Review wird immer größer. Und dann überschlagen sich die Ereignisse. Die Welt wird Zeuge einer Kriminalgeschichte der Wissenschaft, die schließlich zur schnellen Veröffentlichung aller Rollen führt.

Zunächst veröffentlicht die maßgebliche israelische Tageszeitung Haaretz ein Interview mit dem schwer alkoholkranken John StrugnellStrugnell, inzwischen Chefeditor von DJD, in dem er das Judentum als „horrible religion“ bezeichnete, welche „zu existieren aufhören sollte“. Im Sturm der Entrüstung muss Strugnell seinen Posten als verantwortlicher Herausgeber von DJD und auch seinen Posten in Harvard „aus Krankheitsgründen“ verlassen. Angesichts seiner engen freundschaftlichen Beziehungen und Zusammenarbeit mit vielen jüdischen Wissenschaftlern ist die Schärfe dieser Aussagen vielleicht wirklich seiner Krankheit zuzuschreiben und war nicht Strugnells Grundhaltung.

Strugnells Nachfolger wird Emanuel TovEmanuel Tov (*1941), ein Schüler von Frank Cross und Shemaryahu Talmon, Professor an der Hebräischen Universität und Editor der griechischen Zwölfprophetenrolle von Nahal Hever (8HevXIIgr). Tov wird sich als äußerst effizienter Chefadministrator erweisen, doch wird er schon |23|kurz nach seiner Ernennung vor neue Tatsachen gestellt: Die Huntington Library will allen Interessierten Zugang zu Fotos der Qumranrollen, auch der unveröffentlichten, gewähren. Erst jetzt wird öffentlich bekannt, dass aus Vorsorge vor möglichen Kriegen insgeheim mehrere Kopien der PAM-Fotoserien angefertigt und verteilt worden waren: seit 1972 am Hebrew Union College in Cincinnati, und seit den 80er Jahren auch im Oxforder Center for Postgraduate Hebrew Studies, im Ancient Biblical Manuscripts Center in Claremont, Kalifornien und in der Huntington Library in Kalifornien.

Alle Bibliotheken haben Verträge unterschreiben müssen, die den Zugang zu den Fotos verhindern, mit Ausnahme der Huntington Library, die eigentlich Daten zu ganz anderen Themen und Zeiten sammelt als die anderen Zentren und mehr oder minder zufällig die Qumran-Negative erhalten hat. Sie stammen aus der Stiftung einer wohlhabenden Dame, die einen Teil der Sicherheitskopien finanziert hat, sich dann mit dem Zentrum in Claremont überwirft und ihr privates Double Huntington überlässt. 1991 veröffentlichen Robert Eisenman und James Robinson die Mehrzahl der PAM Fotos in A Facsimile EditionFacsimile Edition of the Dead Sea Scrolls (1991). Nun hat alle Welt Zugang zu fast allen bislang unveröffentlichten Fotos, wenn auch nicht immer in guter Abbildungsqualität.

Diese Edition enthält im Vorwort von Hershel Shanks auch eine unautorisierte Transkription von 4QMMT. Qimron verklagt Shanks auf Schadenersatz und gewinnt. Da es sich um einen antiken Text handelt und nicht um einen modernen, war dieser Ausgang nicht ohne weiteres vorauszusehen. Qimron und Strugnell wird das Copyright für ihre Rekonstruktion eines von einem antiken Autor verfassten Textes zugesprochen.

Ein in jenem Band veröffentlichtes Fragment, das angeblich einen vorchristlichen Messias erwähnt, der eines gewaltsamen Todes starb (4Q285 frg. 7), lässt die Wogen in der Presse hoch schlagen. Die wissenschaftliche Debatte hingegen stellt schnell klar, dass es im Gegenteil der Messias ist, der (einen Gegner) tötet. Diese Episode illustriert den Sensationshunger der Presse und völlig unbegründete Theorien, dass sich die Veröffentlichung verzögere, weil der Vatikan das Christentum relativierende Handschriften verborgen halten möchte (z.B. Verschlußsache Jesus).

Ebenfalls 1991 bringen Ben Zion Wacholder und AbeggWacholder (1924–2011) und sein Doktorand Martin Abegg den ersten Band mit Transkriptionen der unveröffentlichten Texte heraus A Preliminary EditionPreliminary Edition of the Unpublished Dead Sea Scrolls: The Hebrew and Aramaic Texts from Cave Four. Sie hatten von Strugnell eine der wenigen per Hand kopierten Konkordanzen des Editorenteams erhalten. Abegg |24|gibt für seinen (blinden) Lehrer Wacholder, der zeitlebens auf die Herausgabe dieser Texte wartete, Zeile für Zeile der Konkordanz für jedes Wort in seinem Kontext in einen Computer ein. Daraus rekonstruiert er dann in „Reverse Engineering“ die vollständigen Transkriptionen der späten fünfziger Jahre, die der Konkordanz als Grundlage gedient hatten. (Das ist so, als würde man mit Google books den Text eines Buches rekonstruieren, obgleich man immer nur auf Abschnitte von 2–3 Zeilen Zugriff hat).

Tov agiert sehr schnell. Ohnehin ist er damit beschäftigt, das Team auf über 80 Mitarbeiter zu erweitern, die entweder mit den bisherigen Editoren zusammenarbeiten oder von ihnen ihre vorläufigen Niederschriften „ererben“. Viele der neuen Mitarbeiter sind Israelis. Einige decken wichtige Gebiete wie Halakhageschichte ab, für die vorher kein Teammitglied Experte war. 1993 veröffentlicht Tov eine hervorragende Mikrofiche-EditionMikrofiche-Edition aller Fotos und schließt so die Lücke zwischen offiziellen und inoffiziellen Mitteln, an die unveröffentlichten Texte zu gelangen. Sein Organisationstalent und seine effiziente Genauigkeit machen es möglich, dass in den darauffolgenden achtzehn Jahren jedes Jahr ein bis zwei Bände erscheinen können, bis zum Abschluss von Discoveries in the Judaean DesertAbschluss von Discoveries in the Judaean Desert im Jahre 2008.

Jean-Baptiste Humbert, der Nachfolger von de Vaux als Chefarchäologe, engagiert für die Veröffentlichung der endgültigen Ausgrabungsberichte das belgische Ehepaar Robert Donceel und Pauline DonceelDonceel-Voute, Spezialisten für frühchristliche Mosaike. Diese überraschen die Forscherwelt mit einer de Vaux Interpretation auf den Kopf stellenden These: Qumran wäre eine Villa, wie man aus unveröffentlichten Funden schließen könne, die zahlreiche Luxusgüter wie Glas und hochwertige Keramik enthalten. Ein von de Vaux als Schreibsaal identifizierter Raum sei ein Triklinium (Speisezimmer). Die Schriftrollen hätten mit der Siedlung und ihren Bewohnern nichts zu tun. Kurze Zeit später publiziert der Genizaspezialist Norman GolbNorman Golb sein Buch Who wrote the Dead Sea Scrolls?. Auch er trennt die Rollen von der Siedlung, seiner Ansicht nach ein Fort. Seine Bewohner halfen im jüdischen Aufstand Flüchtlingen aus Jerusalem, die ihre Schriftrollen nach Qumran gebracht hatten. Die Schriftrollen stellen also einen Querschnitt durch Jerusalemer Bibliotheken dar.

Wirklichen Zugang zu (fast) allen nicht-biblischen Rollen erhält die spanische Weltöffentlichkeit 1992 durch Florentino García-Martínez (1942–) GesamtübersetzungGesamtübersetzung Textos de Qumran, 1994 ins Englische übersetzt. 1995 erscheint die erste deutsche Komplettübersetzung durch Johann Maier. Eine neue Etappe beginnt mit der Publikation von elektronische Datenbankenelektronischen Datenbanken der Texte und |25|Fotos, zuerst 1997 von Alexander und Lim, dann bei Brill und bei Accordance (s.u. S. 61). Seit 2012 sind alle historischen und viele neue Fotos auch über die Internetseiten der Israelischen Antiquitätenbehörde frei zugänglich, allerdings (noch) ohne Transkriptionen (s.u. S. 60). Dies wird sich mit dem neuen Scripta Qumranica Electronica Projekt in den nächsten Jahren ändern. Mehr und mehr eröffnen chemisch-physikalische Untersuchungen der Schriftrollen neue Einsichten in ihre Geschichte. Vor allem aber kann, seitdem die Allgemeinheit Zugriff auf alle Texte hat, die Gesamtsammlung in ganz anderer Weise verstanden werden. Nun ist es klar, dass die als essenisch definierten Texte, die bis 1977 die Diskussion bestimmten, nämlich die großen Texte aus Höhle 1 und die Texte Allegros, nicht die Mehrheit unter den nicht-biblischen Texten darstellen. Jetzt wird aus der Bibliothek einer marginalen Sekte wirklich das, was Hartmut Stegemanns und Norman Golbs ursprünglich diametral entgegengesetzte Sichtweisen schließlich vereint: eine essenische Auswahl aus der breiten Masse der hebräischen und aramäischen Literatur unterschiedlicher Gruppen des Judentums des Zweiten Tempels.