Kitabı oxu: «Im Strudel des Schicksals»

Şrift:

Dietmar Schenk

Im Strudel des Schicksals

Der Emotionen Booster aus Cornwall

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel - Good Bye, Germany

2. Kapitel – Hello England

3. Kapitel – Bei den Großeltern

4. Kapitel – Stonehenge

5. Kapitel – Der Entschluss

6. Kapitel – Putzfrau gesucht

7. Kapitel – Rückblicke

8. Kapitel – Veränderungen, und auch wieder nicht

9. Kapitel - Malcolm

10. Kapitel – Post für Sandra

11. Kapitel – Der Highway Star

12. Kapitel – Eine schreckliche Begegnung

13. Kapitel – David

14. Kapitel – Überraschungen

15. Kapitel – Abschiede

16. Kapitel – Willkommen auf der Unicorn Farm

17. Kapitel – Einhörner

18. Kapitel – Bettgeflüster

19. Kapitel – Ein Tag auf der Plantage

20. Kapitel – Kevin

21. Kapitel – Ein fast normaler Farmertag

22. Kapitel – Heilende Hände

23. Kapitel – Pfeffer und Orange

24. Kapitel – Glückliche Menschen

25. Kapitel – Der Ausflug

26. Kapitel – Schockmomente

27. Kapitel – Im Auftrieb

28. Kapitel – Lauter Fragezeichen

29. Kapitel – Der Geburtstag

30. Kapitel – Morganas Großvater

31. Kapitel – Gemeinsames Frühstück

32. Kapitel – Ein Traum!

33. Kapitel – Ein Tag mit John

34. Kapitel – Erkenntnisse

35. Kapitel – Männerabend

36. Kapitel – Eine neue Entscheidung

37. Kapitel – Mit Blitz und Donner

38. Kapitel – Der Tag danach

39. Kapitel – Fynns Angebot

40. Kapitel – Freiheit

41. Kapitel – Gespräche

42. Kapitel – Die Session

43. Kapitel – Lebewohl

44. Kapitel – Neu ist nicht immer leicht

45. Kapitel – Neuigkeiten

46. Kapitel – Noch mehr Neuigkeiten

47. Kapitel – Fynns Besuch

48. Kapitel – Cochalan der Weise

Impressum neobooks

1. Kapitel - Good Bye, Germany

„Sie haben Krebs!“

Sandra sitzt auf ihrem zerwühlten Bett neben einem geöffneten schäbigen Lederkoffer. Um sie herum liegen Klamotten. Zwei verwaschene Jeans, mehrere graue T-Shirts, Slips, BHs und Socken. In den Händen hält sie ein gerahmtes Foto von sich als 18-Jährige. Das ist nun 12 Jahre her. Es ist das einzige Bild, das sie von sich besitzt. Aber auch, wenn sie es in den Händen hält, schaut sie es nicht an. Ihr Blick richtet sich geistesabwesend zum Fenster.

„Sie haben Krebs!“

„Ja, ich habe Krebs“, erwidert sie leise auf die Stimme im Kopf. Seit sie es erfahren hat, hallt sie immer wieder mal auf. Auch mitten in der Nacht, wenn Sandra meint, zu schlafen.

Das triste Grau da draußen macht dem fiktiven Bild einer Arztpraxis Platz. Vor ihr sitzt an einem ungewöhnlich aufgeräumten Schreibtisch mit PC ein Arzt wie aus dem Bilderbuch: Um die 60, die vollen Haare graumeliert, mit Stethoskop um den Hals und zwei Kugelschreibern in der Brusttasche des weißen Kittels. Er sitzt ihr gegenüber und dirigiert mit gepflegten Händen per Maus den Cursor über den Monitor. Langsam und lange. Dann schaut er über den Rand seiner Lesebrille Sandra an, und sein Blick bekommt einen Hauch von Mitgefühl, als er sagt: „Frau Pearson, es tut mir unendlich leid, Ihnen sagen zu müssen, dass sie Bauchspeicheldrüsenkrebs haben.“

Sandra hört sich selbst unfassbar gefasst antworten: „Aha. Und wie lange hab ich noch?“

Der Arzt schaut wieder auf den Monitor, als könnte er dort die Antwort ablesen, und antwortet nach einer gefühlten Ewigkeit: „Maximal sechs Monate.“

„Sechs Monate“, wiederholt Sandra. „Dann kann ich den Winter noch durchleben und dann gehen.“

Nun nimmt wieder die lichtlose Suppe ihren Platz in Sandras Realität ein. Sie wird sich auch wieder des Bildes in ihren Händen gewahr, hebt es ein wenig an und senkt ihren Blick darauf. „Da war noch alles in Ordnung“, flüstert sie. „Wo ist mein Leben nur hingegangen?“ Tränen quellen aus den Augen und rollen die blassen Wangen hinab. Sie legt das Bild in den Koffer und wischt sie mit dem Handrücken weg, während in ihrem Bewusstsein wie aus dem Nichts das bärtige Gesicht eines über sie gebeugten Mannes aufpoppt.

„Mama, du weinst?“

Sandra schreit laut auf und reißt die Hände vors Herz. „O mein Gott, Kleines, was hast du mich erschrocken.“

Das Kind ist ganz verdattert. „Was ist denn mit dir?“ Jessica steht im Türrahmen. Ihre kindliche Hand hält krampfhaft drei Finger der anderen umklammert. Zu dem sorgenvollen Gesichtsausdruck, umrahmt von blondem Engelshaar, sieht das herzzerreißend aus. Das Lächeln, das Sandra von ihrer Tochter gewohnt ist, fehlt gänzlich. Sie fingert ein zerknülltes Papiertaschentuch aus der Jeans, schnäuzt sich und tupft sich noch eine Träne ab, bevor sie es wieder einsteckt. Dann klopft sie mit der Hand neben sich aufs Bett und sagt: „Alles gut, meine Kleine. Komm, setz dich.“ Sandra hat Jessicas Schritte nicht gehört. Zu sehr hat der Arztbesuch von letzter Woche wieder von ihr Besitz genommen. Dabei hüpft Jessica doch meistens durch die Wohnung. Sie ist ja auch erst acht.

Jessica lässt sich aufs Bett fallen und schlingt ihre Arme um den Leib der Mutter. Diese zieht das Mädchen an sich und drückt seinen Kopf an ihre Brust. „Bald sind wir bei Oma und Opa“, sagt sie. „Da geht es uns bestimmt besser als hier.“

„Aber ich kenne sie doch gar nicht.“

Sandra versucht, ihre Bedenken zu zerstreuen. „Mach dir keine Sorgen. Die sind ganz lieb und werden dich mögen.“

„Wo liegt denn England?“, fragt Jessica, nun in Englisch. Bisher haben sie sich in Deutsch unterhalten. Jessica berlinert sogar ein wenig. Aber Sandra hat immer darauf geachtet, dass Jessica auch ihre Muttersprache erlernt, damit das Mädchen Englisch kann, sollten sie einmal in die alte Heimat zurückkehren. Und das ist nun der Fall.

Sandra deutet auf das Fenster. „Weißt du noch“, fragt sie in Englisch, „wie da abends die Sonne reinscheint, wenn das Wetter schön ist?“

„Jaaa, wenn du mich ins Bett bringst, dann scheint manchmal die Sonne herein.“ Jessicas Stimme nimmt einen schwärmerischen Tonfall an, den Sandra nur zu gerne wahrnimmt. Offenbar hat sie schon wieder vergessen, dass ihre Mom geweint hat.

Sandra drückt das Mädchen noch fester an sich. „Und manchmal scheint sie auch noch, wenn ich etwas später zu dir ins Bett komme. Dann schläfst du schon und schnarchst leise.“

Jessica erbost sich. „Tu ich nicht. Ich schnarche nicht.“

„Ein bisschen.“

„Gar nicht.“

„Nur manchmal, und nur ein bisschen.“ Als Jessica sich von ihr löst und sie verschämt anschaut, muss Sandra lachen.

Nun lacht auch Jessica und schmiegt sich wieder an ihre Mama. Sie ist froh darüber, dass es nur ein Witz war. Es würde ihr leidtun, die Mama beim Schlafen zu stören. Dazu liebt sie sie zu sehr.

„Nein, du schnarchst nicht“, bestätigt Sandra dann auch. „Und da, wo die Sonne am Abend steht, da ungefähr ist England“, erklärt sie.

Jessica gönnt sich einen tiefen Atemzug, bevor sie fragt: „Ist es schön da?“

Sandra nickt eifrig. „England ist umgeben von Meer, mein Schatz. Es ist eine riesige Insel. Da gibt es große Städte, wie zum Beispiel London, und es gibt ganz-ganz kleine Dörfer, wie Combe Manor, wo Oma und Opa leben. Aber da ist auch eine große schöne Stadt in der Nähe. Das ist Bristol. Und die Dörfer sind mit engen Straßen verbunden, die sich durch wunderschöne Landschaften schlängeln. Combe Manor ist das schönste Dorf der Welt. Dort sieht es noch genauso aus wie vor ganz-ganz-ganz-ganz langer Zeit.“ Bei jedem ‚ganz‘ sticht Sandra sie mit dem Zeigefinger auf die kurzen Rippen, eine Stelle, wo Jessica besonders kitzelig ist. Sie möchte sich aufbäumen vor Lachen, aber Sandra hat sie fest im Arm, und so lacht das Mädchen hell und schrill.

Als es sich erholt hat, bittet es: „Mach’s noch mal, Mom.“

Sandra lächelt, streckt langsam den Zeigefinger aus, zieht den Start qualvoll in die Länge, während Jessica bereits vor gierigem Verlangen kichert und sich krümmt. Dann endlich kommt die Erlösung: „Da sieht es aus wie vor ganz-ganz-ganz-ganz langer Zeit.“

Wieder bäumt Jessica sich unter dem Piksen mit dem Finger auf und ist dabei so gut gelaunt, wie lange nicht mehr.

Sandra lacht herzhaft mit. Als die beiden sich erholt haben, fährt sie weiter fort: „Da stehen lauter alte Häuser, eine wuchtige alte Kirche mit Friedhof, und es darf dort nichts verändert werden, damit alles so bleibt, wie es ist.“

Jessica legt einen schwärmerischen Blick auf. „Wie schön.“

„Und weißt du was?“ Sandra hebt die Augenbrauen.

Jessica weiß, wenn Mom so schaut, dann macht sie es spannend. „Nein, was denn? Komm, sag schon.“

„Och, ich sag’s doch nicht. Vielleicht später.“

„Nein, jetzt, Mom. Bitte.“

„Na gut. Aber nur, weil du mein lieber Schatz bist. England ist sehr mystisch!“

„Was bedeutet mystisch?“, will Jessica wissen.

„Das bedeutet ein bisschen so viel wie märchenhaft.“

„Und was gibt es da aus dem Märchen?“, bohrt sie weiter.

Sandra schmunzelt. „Feen, Elfen, Einhörner, Zwerge, Drachen…“

Jessica klatscht in die Hände und hüpft auf dem Bett herum. „Wow wie schön. Werden wir die dort auch sehen?“

„Vielleicht?“

„O jaaa.“ Jessica strahlt über das ganze Gesicht.

„Dann freust du dich, dass wir zu Oma und Opa fahren?“

„Ja, ich freue mich.“

Sandra fällt ein Stein vom Herzen. „Dann lass mich jetzt weiter packen, ja?“

Jessica springt vom Bett auf. „Ja“, ruft sie aus. „Ich decke schon mal den Tisch. Ich habe Hunger.“

„In Ordnung“, sagt Sandra, und während sie sich den Klamotten auf dem Bett widmet, hört sie Jessica fragen: „Warum fahren wir denn eigentlich nach England?“

Die rege Unterhaltung mit dem Mädchen hatte Sandra von ihrer Krankheit abgelenkt, ja, sie hatte sie für ein paar Minuten vollkommen vergessen. Doch nun kracht sie wieder mit voller Wucht in ihr Gedächtnis wie eine Kanonenkugel in eine Kiste. Wie aus dem Nichts treten Magenschmerzen auf. Sandra legt sich ihre zitternden Hände auf den oberen Bauch. Jeder Atemzug, der etwas mehr ist als ein flaches Pumpen, drangsaliert den Magen, als lägen Steine drauf. Sie krümmt sich und liegt wie ein Häufchen Elend auf dem Bett, als Jessica wieder ins Zimmer stürmt.

„Mom! Mama“, ruft sie. „Was ist los? Was ist mit dir? Es ist nicht alles gut. Sag, was ist mit dir?“ Sie beginnt zu weinen. Ihre Lippen zittern. Hilflos steht das Kind im Raum und blickt auf seine Mutter.

Sandra versucht, sich hochzudrücken, schafft es aber nicht. Zu groß ist der Schmerz im mittleren Oberbauch. Sie würde gerne antworten. Stattdessen kann sie nur die Hand heben. Sie tastet nach Jessica und erreicht ihre Wange nur, weil das Kind sich vorbeugt. Plötzlich verspürt sie den Drang, zur Toilette zu eilen. Mit letzter Kraft rafft sie sich auf, verlässt das Bett und stolpert ins Bad, wo sie den Klodeckel hochreißt und sich unter dramatischen Geräuschen übergibt. Immer wieder kommt galliger Magensaft hoch.

Jessica eilt hinzu, kniet sich neben Sandra und legt ihr eine Hand auf den Rücken. „Mama, was muss ich tun?“, fleht sie. „Ich hab solche Angst um dich.“

Sandra reagiert nicht. Zu sehr plagen sie die bitteren Schübe aus dem Körperinneren.

Jessica weint ärger als zuvor. „Ich rufe einen Arzt“, stammelt sie. Planlos läuft sie durch die kleine Wohnung. In der Küche findet sie ihr Handy. Sie ergreift es, erinnert sich aber im gleichen Augenblick, dass sie kein Guthaben mehr hat. Sie sucht Sandras Handy. Als sie es auf dem Nachttisch entdeckt und an sich nimmt, ertönt ein Glockenton. Auf dem Display steht zu lesen: ‚Ladegerät anschließen‘. Sie läuft kreuz und quer durch die Wohnung, sucht das Ladegerät, während sie weiterhin das Leiden ihrer Mama aus dem Bad wahrnimmt. Sie stürzt zurück in die Küche, findet nichts, ins kleine Wohnzimmer, durchwühlt jede Schublade – nichts. Zurück ins Schlafzimmer. Da, die Handtasche auf dem Bett. Jessica reißt sie auf. Ein schwarzes Kabel mit Stecker dran bietet sich ihr an. Sie fingert es heraus – Gott sei Dank: Das Ladegerät. Sie und Mom haben nur dieses eine gemeinsame, so, wie sie sich auch diese Wohnung und das Bett teilen. Hastig fingert sie das Kabel in den schmalen Slot an der Seite des Handys, doch bevor sie den Stecker in eine Steckdose stecken kann, erlischt es. Derweil werden Sandras Würggeräusche intensiver. Es scheint, dass ihre Innereien mit hochkommen, und zwischen zwei Schüben hört es sich an, als ob sie laut weint. Derweil presst Jessica ihren Daumen auf den Schaltknopf. Es dauert lange. Endlos lange. Das Handy reagiert: ‚Geben Sie ihre PIN ein – noch 3 Versuch(e)‘. Die PIN! Jessica eilt ins Bad, wo ihre Mutter schlaff und kraftlos vor der Toilette kniet. „Mom, deine PIN“, schluchzt Jessica.

Sandra ereilt ein Würgreflex nach dem andern, der sich mit krampfhaftem Husten abwechselt.

Jessica erkennt, dass sie keine Antwort erhalten wird und stürzt wieder zurück ans Handy. Sie versucht Moms Geburtstag und erhält die Meldung: Sie haben noch 2 Versuch(e). Ihr eigener Geburtstag – noch 1 Versuch(e). „Was mach ich nur?“ Sie weint bitterlich. „Lieber Schutzengel, bitte hilf mir. Wie lautet Mamas PIN? Bitte, ich muss den Arzt rufen!“ Sie schaut auf das Handy, als erwarte sie dort die Antwort. Es ist kein Smartphone und schon gar nicht ein iPhone. Es ist ein 0815-Klotz. So hat Sandra es einmal genannt. Das ist es! Mama ist so kreativ, dass sie 0815 als PIN genommen haben könnte. Aber was, wenn sie nicht stimmt? Jessica kennt sich nicht so gut aus mit Handys. Ob das Teil kaputt ist, wenn man dreimal eine falsche Nummer eingibt?

Im Bad ist es gerade still. Vielleicht geht es Mom ja besser? Vielleicht braucht sie keinen Arzt? Doch gerade, als Jessica das Handy ablegt und nach ihr schauen will, hört sie ihre Mutter erbärmlich weinen. Sie schnappt sich das Handy und tippt mit zittrigen Fingern 0-8-1-5 ein. Als sie den Daumen auf den OK-Knopf legt, pocht ihr kleines Herz zum Zerbersten. Wie von einer fremden Macht gesteuert, drückt sie den Knopf…

Das Display zeigt eine von einem blechern klingenden Sound begleitete Grafik. Das Handy ist wahrhaftig wieder zum Leben erwacht. Hastig blättert sie das Adressbuch durch. Bei Dr. Schröder erlebt sie einen Freudentaumel. Sie wählt diesen Eintrag aus und drückt auf den grünen Hörer. Doch anstatt einer Verbindung, bekommt sie die Nachricht: Kein Netz!

Jessica schreit verzweifelt auf, als Sandra in der Tür erscheint. Kraftlos lehnt sie am Türrahmen. Ihr Kopf ist rot und aufgedunsen, die langen blonden Haare sind strähnig und verklebt, und sie reibt sich die verquollenen Augen. „Was machst du da, meine Kleine?“, fragt sie.

„Ich will einen Arzt anrufen“, antwortet Jessica. „Aber wir haben kein Netz.“

Sandra drückt sich ein Taschentuch vor den Mund und begegnet damit ihrem nun unkontrollierbaren Speichelfluss. Sie tupft sich den Mund trocken und sagt: „Ich weiß. Sie haben das Handy gesperrt, weil ich die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. Aber morgen fliegen wir ja nach England. Dann brauchen wir das Handy nicht mehr.“

„Aber der Flug kostet doch auch Geld“, antwortet Jessica. „Wie sollen wir den denn bezahlen, wenn wir keines haben?“

Sandra schlurft zum Küchentisch und sinkt auf einen Stuhl nieder. Das Gesicht in die Hände gestützt, murmelt sie: „Unsere Vermieter waren so lieb und haben uns die letzte Miete geschenkt, damit wir nach Hause fliegen können.“

Das ist natürlich eine sehr freie Umschreibung der Tatsachen. Ja, die Vermieter haben ihr die letzte Miete erlassen, mit den Worten: „Die brauchst du nicht mehr zu bezahlen. Verpisst euch einfach und kommt nicht wieder.“ Nicht, dass Sandra nicht hatte bezahlen wollen, nein, sie konnte es nicht, und so war sie in letzter Zeit immer wieder in Rückstand geraten. Als ihre Schmerzen anfingen, wurde das Geld immer knapper. Hatte sie vorher noch in einer Kneipe gejobbt, um sich und Jessica über Wasser halten zu können, so war ihr das immer seltener möglich, sodass sie am Ende fast gar keine Einkünfte mehr erzielte. Zwar könnte sie eine kleine Unterstützung vom Amt erreichen, aber die Bearbeitung des Antrags dauert immer noch an. Bisher kann sie keinen Geldeingang auf dem Konto verzeichnen. Sandra schaut Jessica aus rotgeränderten, wässrigen Augen an. „Wenn wir in England sind, wird alles besser, mein Schatz.“

Jessica stellt sich neben ihre Mutter und streichelt ihr den Rücken. „Ja, in England wird alles besser. Wann geht denn unser Flug?“

„Morgen Nachmittag. Eine Bekannte holt uns um 12 Uhr ab und bringt uns zum Flughafen. Und dann: Good bye, Germany.“ Sandra bringt ein schwaches Lächeln zustande, und Jessica reibt ihr den Rücken etwas schneller. „Geht es dir wieder besser?“, fragt sie.

„Ja, danke. Ich muss mir irgendwie den Magen verdorben haben. Mach dir keine Sorgen, versprochen?“

„Versprochen“, antwortet Jessica. Doch hinter ihrem Rücken kreuzt sie zwei Finger.

2. Kapitel – Hello England

Durch eine große, helle, recht leere Halle wird ein Gepäckwagen geschoben, auf dem ein abgenutzter Koffer sich in Gesellschaft von drei Plastiktüten und einer in die Jahre gekommenen Handtasche befindet. Das Bild, das die beiden Damen damit abgeben, lässt absolut nicht vermuten, dass sie gerade einen One-Way-Flug absolviert und nicht die Absicht haben, wieder dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen sind. Das ratternde Gepäckband haben sie bereits hinter sich gelassen. Eine schallende Stimme ruft zu zwei Flügen auf, für die die Gates nun geöffnet sind. Hoch über den Eingängen, die in die weite Welt führen, zeigen Tafeln die Ankünfte und Abflüge an. Auf der Abflugtafel findet Sandra einen Flug nach Berlin. Er würde in einer Stunde starten. Ein wohliger Seufzer entfährt ihr bei dem Gedanken, dass sie dieses Gate wohl nie mehr benutzen wird. England hat sie wieder – für immer, wenn vielleicht auch nicht für lange.

Die Gepäckstücke befinden sich erst seit ein paar Minuten auf dem Trolley. Ihn durch die Ankunftshalle des Bristoler Airports zu schieben, hat Jessica sich zur Aufgabe gemacht. Sie hat richtig Spaß daran, bringt den Wagen in Fahrt und hängt sich über die Griffstange, sodass sie mit dem Gepäck mühelos schneller ist, als ihre Mutter, die, obwohl nur mit einer Umhängetasche beschwert, kaum folgen kann. Zu sehr hängt ihr noch der gestrige Anfall in den Knochen. Sie ist heilfroh, wenigstens auf dem Flug vor Attacken verschont geblieben zu sein, für die sie immerhin allen Grund gehabt hätte, saß doch dieser krausbärtige Mann in ihrer Nähe. Er hat horrende Erinnerungen in ihr geweckt und schlimme Ängste geschürt. Er sah ihrem Peiniger nicht nur ähnlich, er war es wirklich, da ist Sandra sich sicher. Beim Aussteigen ist er jedoch ihren umsichtigen Blicken entglitten.

Was will der verdammte Kerl hier in England? Seine vermasselte Tötungsabsicht von vor zehn Jahren endlich zum Abschluss bringen? Unwillkürlich reibt sie sich die Stelle am Bauch, in die damals sein Stilett mehrmals eingetaucht war. Er und seine Kumpels hatten ihr auch den Geldbeutel abgenommen, in dem nicht mehr als 20 Euro drin gewesen waren und sie blutend auf dem schmutzigen Berliner Pflaster zurückgelassen. Sie hatte nie viel Geld besessen, und aktuell ist sie blanker, als jemals zuvor.

Was für ein Glück, dass der Flug wahnwitzig billig gewesen war, so billig, dass Sandra sich nun sogar ein Taxi nach Combe Manor leisten kann. Die Bekannte hatte ihr den Flug über ein Vergleichsportal gebucht. Er war so günstig, dass Sandra sich allen Ernstes fragte, wie da noch jemand was dran verdienen konnte, nach Abzug von Gebühren, Treibstoff- und Personalkosten. Aber natürlich war es ihr recht, fast umsonst – selbst für ihre finanziellen Verhältnisse - in die alte Heimat zurückgefunden zu haben.

Obwohl Sandra sich nicht als Spirituelle bezeichnen würde, liebt sie den Gedanken, das Schicksal habe sie zurück nach England gebracht. Fast ist sie geneigt zu denken: ‚Für ein besseres und glücklicheres Leben‘. Doch dann sieht sie ihre Tochter mit dem Gepäckwagen davoneilen, spürt ihre Schwäche und erinnert sich an ihre Krankheit. Wie eine schlechte Nachricht aus einem versiegelten Umschlag taucht sie plötzlich auf und drosselt ihre Atemluft. „Nicht so schnell“, ruft sie Jessica hinterher, die sich immer weiter von ihrer Mutter entfernt und das gar nicht merkt. Erst jetzt, da Mama sie ruft, bremst sie den Trolley ab, schaut sich um und ist erstaunt, wie weit sie noch zurückliegt. Sie hebt die Hand, so hoch sie kann und winkt ihr zu.

Aber Sandra winkt nicht zurück. Es ist ihr deutlich anzusehen, wie schwer ihr das Laufen fällt, das eigentlich gar kein Laufen ist. Es ist ein Sich-dahinschleppen. Waren ihre langen blonden Haare im Flugzeug noch ordentlich und sogar ein wenig glänzend, so wirken sie nun mit einem Mal fahl und zerzaust, als hätte sie jemand mit einem bösen Zauber belegt. Jetzt, wo Jessica auf sie wartet, verlegt Sandra sich aufs Gehen. Sie möchte sich erholen und zu Atem kommen, damit das Mädchen nicht ihre Schwäche bemerkt, aber es gelingt ihr nicht. Sie fühlt sich, als hätte sie einen Sprint hinter sich gebracht, um einem bissigen Hund zu entkommen. Sandra hat keine andere Wahl, als eine Bank anzusteuern, die nur ein paar Meter von ihr entfernt ist und darauf zu warten scheint, ihr Gewicht aufzunehmen. Dort angekommen, stützt sie sich an der Rückenlehne ab, hält sich die Hand vor die Brust, beginnt zu keuchen und sinkt kraftlos auf die Sitzgelegenheit. Ein Hustenanfall schüttelt sie plötzlich, der, gefolgt von einem Würgen, schnell ihren Hals brennen lässt, als habe sie pure Essigessenz getrunken. ‚Nur nicht übergeben‘, schießt es ihr durch den Kopf. Ihre Augen füllen sich mit Wasser und hindern sie daran, etwas zu sehen. Aber spüren kann sie noch. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legt - und hören kann sie, eine Stimme, die „Mama“ sagt. Wie blind, durchwühlt sie ihre Umhängetasche, in der Hoffnung, ein Papiertaschentuch zu ertasten. Und ja, da ist eines. Sie zupft es aus dem Päckchen heraus und wischt sich die Augen frei. Schuldbewusst schaut sie Jessica an. Wie lange kann sie ihr Lügengerüst noch aufrechterhalten, ohne, dass es zusammenbricht und Jessica mit ihr mitleidet? Das Kind ist aufgeweckt und von schneller Auffassungsgabe. Gestern war es der verdorbene Magen, der zur Erklärung herhalten musste, in den drei Tagen davor eine angeblich heranrollende Grippe. Und heute? Soll sie den Anfall auf den Flug schieben? Sie schaut in Jessicas Augen und erkennt darin Offenheit. Nicht für eine weitere Lüge, sondern für die Wahrheit. „Jessi-Schatz, ich…“

In ihrer kindlichen Weisheit unterbricht sie ihre Mom. „Lass uns ein Taxi finden, damit wir schnell zu Oma und Opa kommen und du dich erholen kannst“, sagt sie.

Sandra nickt dankbar.

Diesmal rast Jessica nicht mit dem Trolley davon. Sie bleibt neben ihrer Mutter und hält Ausschau nach einem Zeichen, das ihnen den Weg zu den Taxen zeigt. Enthusiastisch deutet sie darauf. „Da, Mom, schau. Da geht’s zu den Taxis.“

Sandras Anfall ist noch immer nicht vorüber. Sie hält sich das Taschentuch vor den Mund, als könne sie damit das Würgen aufhalten. Das Gesicht ist rot und aufgedunsen, und im Magen scheint wieder dieser Stein zu liegen. Die durch die wässrigen Augen verschwommene Wirklichkeit gibt nur spärlich einen Eindruck von der Umgebung wieder, aber als sie sich erneut die Augen freimacht, erkennt auch Sandra das Zeichen, dem sie folgen müssen.

Als sie endlich in der Droschke sitzen – Sandra hätte sich ein original englisches Taxi gewünscht, doch leider hält das Universum nur eine beige 0815-Karrosse für sie bereit – geht es ihr mit einem Schlag wieder gut. Sie freut sich einfach riesig auf Combe Manor. Ihr plötzliches Wohlgefühl reduziert die Reaktion des Fahrers auf ihre angeschlagene Erscheinung auf ein Stirnrunzeln. Sandra, die mit Jessica im Fond des Wagens sitzt, bekommt das nicht mit.

Der Fahrer schaut in den Rückspiegel. „Soll ich die Autobahn nehmen? Das ist zwar drei Meilen weiter, als über die Landstraße, aber zehn Minuten schneller.“

„Mom, der Mann sitzt ja auf der falschen Seite“, flüstert Jessica.

Sandra legt einen Finger auf die Lippen und macht „Pscht“, bevor sie fragt: „Was ist günstiger?“

„Wir können einen Festpreis vereinbaren. Sagen wir: 50 Pfund?“

Sandra hat mit mehr gerechnet. Und so ist sie sehr zufrieden mit dem Angebot, das der freundliche Fahrer ihr macht. Sie wählen die Landstraße, damit sie sich schon während der Fahrt wunderbar auf ihr Zuhause einstimmen können und genießen das Wetter, das hier um so viel besser ist, als es in Berlin war. So viel besser, dass Jessica fragt: „Gibt es in England keinen Winter?“

Die Fahrt geht über für Berliner Verhältnisse schmale, teilweise von Hecken gesäumte Straßen. Schon, als sie den Airport verlassen, macht Jessica ihre Mutter auf einen Missstand aufmerksam, den diese wohl noch gar nicht bemerkt hat: „Mama, wir fahren auf der falschen Seite. Was, wenn uns einer entgegen kommt?“

Sandra lächelt. „Das ist so hier in England“, erklärt sie. „Deshalb sitzt der Mann ja auch rechts. In England herrscht Linksverkehr. Hier ist alles ein bisschen anders, als in Deutschland.“

Jessica ist begeistert. „Ich find’s cool“, sagt sie. „Linksverkehr ist viel schöner, als anders herum.“

Nach einer entspannten einstündigen Fahrt erreicht das Taxi Combe Manor. Der Fahrer ist im Begriff, in den Ort hineinzufahren, aber Sandra möchte bereits am Ortsrand aussteigen.

„Und Ihr Gepäck?“, gibt der Fahrer zu bedenken.

Sandra und Jessica antworten nicht. Sie öffnen ihre Türen und verlassen das Auto.

Der Fahrer hebt die Schultern, bevor auch er seine Tür öffnet und es ihnen gleichtut. Er gräbt die Taschen aus dem Kofferraum und stellt alles auf die Straße. Derweil stemmt Sandra ihre Hände in den Rücken und streckt sich genüsslich, während Jessica ausgelassen umherhüpft. „Hier ist es schön“, entfährt es ihr.

Sandra kramt eine abgenutzte Geldbörse aus ihrer Umhängetasche und wählt einen von zwei 50-Pfund-Noten aus, die sie herauszieht und dem Fahrer übergibt. „Danke“, sagt sie.

Der Fahrer verbeugt sich ein wenig. „Madam!“

Sandra ist sich nicht so ganz klar darüber, ob er sie gerade hofiert oder verarscht. Sicherheitshalber schenkt sie ihm ein Lächeln, woraufhin der Mann wieder sein Taxi besteigt, auf der engen Straße gekonnt wendet und davonfährt.

Jessica rennt auf ihre Mom zu und schlingt ihr die Arme um die Taille.

Sandra streichelt ihren Kopf. Sie fühlt sich unsagbar wohl. Nach einer Weile löst sie behutsam die Arme des Mädchens, das sie offenbar gar nicht mehr loslassen möchte, und sagt: „Komm!“ Sie beladen sich mit Koffer, Taschen und Tüten wie zwei Packesel und machen sich an einem kleinen, idyllischen Bach entlang auf den Weg zur Dorfmitte. Schon nach wenigen Hundert Metern erreichen sie eine steinerne Brücke, die geradewegs in den Ort hineinmündet. Sandra lässt ihr Gepäck fallen und stemmt sich schwerfällig und unter Aufbieten aller Kräfte auf die Brückenmauer hoch, um sich für ein paar Momente zu setzen. Der Stein ist kälter, als der Sonnenschein vermuten lässt. Immerhin ist es Winter.

Winter!!!

Im November, das war vor drei Monaten, da hatte sie dem Arzt gesagt: ‚Sechs Monate. Dann kann ich den Winter noch durchleben und dann gehen.‘ Nun hat sie die Hälfte bereits rum. Es ist Februar, und wenn der Arzt recht behielte, wäre im Mai ihre Beerdigung. Spätestens! Angesichts dieser Idylle kommt ihr das nun echt wahnwitzig vor. In diesem wunderbaren Moment fühlt sie sich überhaupt nicht so, als müsse sie sterben. Sie blickt zu Jessica, ihrer geliebten Tochter, und schaut ihr zu, wie sie, über die Brückenmauer gebeugt, Kieselsteine in den Bach wirft. ‚Was wird dann wohl aus ihr?‘ Sandra möchte weinen, aber dann verdrängt sie den Gedanken an das nahende Ende wieder und lenkt ihre Wahrnehmung auf diese wunderschöne Umgebung, die sie sehr vermisst hat. Es war ihr gar nicht so bewusst gewesen in all den Jahren in Berlin. Die Sehnsucht tritt erst jetzt heftig zutage, da sie sie gar nicht mehr braucht, weil sie ja wieder zuhause ist.

„Mama, schau mal, ich kann Steine in den Wellenkreis vom anderen Stein werfen!“

Sandra gleitet von der Mauer runter und stützt sich neben Jessica auf die niedrige Brüstung. Sie schaut in das stille Wasser, das gerade mal eine Handbreit tief ist, und schon stürzt ein Kiesel hinab und bildet einen Wellenkreis. Gleich darauf folgt der zweite. „Jaaa!“ Jessica hat getroffen. „Gut gemacht, meine Kleine“, sagt Sandra.

Jessica wirft noch einen weiteren Stein hinterher, aber Sandra sieht es nicht mehr. Ganz plötzlich ist es dunkel geworden. Sie tastet nach dem Grund, die ihr die Sicht nimmt, als sie eine Stimme hört, die zu ein paar wohlig warmen Händen gehört: „Erst raten, wer hier ist.“

Der erste Name, der Sandra einfällt, ist: „Gwynn?“

Die Dunkelheit macht dem Sonnenlicht Platz. „Ja, natürlich Gwynn, deine beste Freundin aus alten Tagen. Wer denn sonst?“

Sandra wirbelt herum und blickt in ein Gesicht, das sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert hat. Es ist immer noch umrahmt von langen, dunkelbraunen Locken, die so wunderbar zu den braunen Augen passen, und auch die Haut ist noch genauso makellos und beneidenswert wie damals, als Sandra zur gleichen Zeit unter grässlicher Akne litt. „Gwynn!“ Sie fällt der Frau um den Hals. „Wieso bist du hier? Wohnst du nicht in Bristol?“

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ISBN:
9783753182889
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