Spiegelverkehrt

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Spiegelverkehrt
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(...) Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe,

Und ringt die Hände vor Schmerzensgewalt,

Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe –

Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt

Du Doppelgänger! Du bleicher Geselle!

Was äffst du nach mein Liebesleid,

Das mich quält auf dieser Stelle,

So mancher Nacht in alter Zeit

Heinrich Heine (1797 – 1856), Christian Johann Heinrich Heine (Harry Heine), deutscher Dichter und Romancier, ein Hauptvertreter des Jungen Deutschland, Begründer des modernen Feuilletons

Vorwort

Obwohl dieser Roman während der Corona-Krise entstanden ist, habe ich mich dazu entschlossen, dieses Thema nicht in die Handlung einfließen zu lassen. Da ich der Meinung bin, dass die Medien schon in ausreichender Form darüber berichten. Wir leiden alle unter den Folgen, doch ein Roman soll in erster Linie unterhalten und vom Alltag ablenken. Handelt es sich, wie in diesem Fall, um einen Krimi, fließt schon zwangsläufig genug grausame Realität ein, denn die Fantasie eines Autors wird mitunter von den realen Ereignissen übertroffen. Ich bin mir bewusst, dass einige Leser mit meiner Entscheidung nicht einverstanden sein werden, aber wie heißt es so schön? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Und eines möchte ich keinesfalls – langweilen. Ich hoffe dennoch, dass die Krise bald überstanden sein wird und in ein paar Jahren nur noch eine schlechte Erinnerung daran zurückbleibt. In diesem Sinne: Bleiben Sie bitte gesund!

Dietrich Novak

im September 2021

Prolog

Im Institut der Rechtsmedizin in der Moabiter Turmstraße lag ein junger Mann auf dem Seziertisch, der ungefähr im gleichen Alter wie der Rechtmediziner Thorben Dahms war. Doch für den Tod spielte das Alter keine Rolle. Und für Mörder auch nicht.

»Was ist, worauf wartest du?«, fragte seine Kollegin, Stella Kern, die gerade dazukam.

»Wie? Ach nichts. Ich dachte nur, er müsste in etwa so alt wie ich sein. Man hat ihn drüben im Kleinen Tiergarten auf einer Bank gefunden. Er ist erstochen worden.«

Stella trat etwas näher heran und sah in das Gesicht des Toten. Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus.

»Um Gottes willen, das ist Ben, der Sohn von Valerie Voss. Weiß sie es schon?«

»Ich glaube nicht. Er ist gerade eben erst hereingekommen und hatte keine Papiere dabei. Du bist die Erste, die ihn zu kennen glaubt.«

Das war weniger verwunderlich, wenn man darüber Kenntnis hatte, dass Stella einmal ein Liebesverhältnis mit der Hauptkommissarin, Valerie Voss, gehabt hatte. Bis Stella eine andere Frau geheiratet hatte.

Stella Kern wählte die Nummer der KTU in Tempelhof. Manfred Hoger war sogleich am Apparat.

»Hallo, Manfred. Hier ist Stella aus der Rechtsmedizin. Sag mal, hatte der Tote aus dem Kleinen Tiergarten irgendwelche persönlichen Dinge wie Schmuck dabei?«

»Kaum, er trug nur eine moderne Armbanduhr. Nichts Wertvolles, aber diese Art ist bei den jungen Leuten sehr beliebt.«

»Ich würde dir gern Valerie vorbeischicken. Das ist besser als wenn sie gleich zu uns kommt. Ich denke nämlich, es könnte ihr Sohn sein.«

»Das wäre ja schrecklich, nachdem sie vor nicht allzu langer Zeit ihren Mann verloren hat.«

»Du sagst es. Also fasse sie bitte mit Glacéhandschuhen an, ja?«

»Was denkst du denn? Dass ich ein Holzklotz bin?«

»Nein, so habe ich es nicht gemeint …«

»Schon gut. Ich tue mein Möglichstes. Vielleicht ist es auch gar nicht Ben. Die Hoffnung besteht ja noch.«

Kapitel 1

Einige Stunden zuvor

Die Grünanlage zwischen Turmstraße und Alt-Moabit lag zu dieser Nachtstunde verlassen da. Alles wirkte friedlich und beschaulich. Tagsüber herrschte dort buntes Treiben. Sportler, die auf dem Rasen ihre Übungen machten oder das Freizeitangebot nutzten. So gab es Tischtennisplatten, Sandkästen, Schaukeln, Rutschen, Klettermöglichkeiten und eine „Rolleracht“ für Kinder. Daneben drehten Radfahrer und Mütter mit Kinderwagen ihre Runden, oder Pärchen sowie Einzelpersonen sonnten sich einfach nur auf der Wiese.

Der Kleine Tiergarten, der kleine Bruder des Großen Tiergartens, war im Laufe der Jahrzehnte mehrmals umgestaltet worden, zuletzt 2016. Ziel sollte die Erweiterung bzw. Anpassung der Nutzungsangebote an die heutigen Bedürfnisse der Bevölkerung sein und ein friedliches und angstfreies Miteinander der unterschiedlichen sozialen Gruppen ermöglichen.

Doch es gab auch Kritik seitens der Bevölkerung und einer Bürgerinitiative. Der Park sei keineswegs wie versprochen ein „Park für Alle“, sondern zum Straßenbegleitgrün degradiert worden und nur noch ein „trauriger Überrest“ der „schönen, sinnreichen“ Parkanlage von Willy Alverdes. Durch die Entfernung der dichten Wallbepflanzung an den vielbefahrenen Straßen Alt-Moabit und Turmstraße gäbe es keinen ausreichenden Schutz mehr vor Verkehrsbelastungen. Es wurden 58 Bäume gefällt, unter ihnen auch viele große gesunde Bäume sowie wertvolle Hecken und Sträucher gerodet. Die 17 sogenannten Sitzkiesel aus Beton, die unter anderem als Maßnahme defensiver Architektur gegen die Trinkerszene im Ottopark gedacht sind, wurden als Verunstaltung kritisiert, da die rund 460.000 Euro teuren Objekte zum Sitzen ungeeignet seien, hieß es.

Beppo Steinberger war etwas unsicher auf den Beinen, denn er hatte reichlich Alkohol genossen. Als ihn ein dringendes Bedürfnis plagte, schlug er sich kurzerhand in die Büsche. Nachdem er sein Wasser abgeschlagen hatte, sah er einen jüngeren Mann auf einer Bank sitzen, der sich nicht bewegte.

»Eye, Kumpel, hast du kein Zuhause? Die Nächte sind mitunter sehr kühl, und so dünn, wie du angezogen bist, kannst du dir leicht den Tod holen.«

Als Beppo keine Antwort bekam, ging er näher heran und entdeckte, dass das Hemd des Mannes blutdurchtränkt war und er nicht mehr atmete.

»Ach so, wie ich sehe, hast du ihn schon gefunden, den Tod.«

Beppo zückte sein Handy und rief die Polizei. Nach einer knappen halben Stunde kam aber kein Funkwagen, sondern es kamen zwei Männer in Zivil, die sich als Kripobeamten herausstellten. Im Schlepptau hatten sie die KTU und die Rechtmedizin, die gleich schräg gegenüber im ehemaligen Krankenhaus Moabit ihr Domizil hatte.

»Ich bin Hauptkommissar Tim Lauber«, stellte sich ein blonder Hüne mit Undercut-Frisur vor, »und das ist mein Kollege, Kommissar Lex Haubold. Sie haben also den Toten gefunden?«

»Ja, ich musste mal pinkeln, und dann sah ich ihn da sitzen.«

»Können Sie sich ausweisen?«

»Natürlich, bitte!«

»Gut, Herr Steinberger. War es nicht so, dass Sie vorher schon gemeinsam gezecht hatten? Ihre Alkoholfahne spricht dafür.«

»Nein, ich kenne den Mann überhaupt nicht und habe ihn nie zuvor gesehen.«

»Man kann auch mit einem Fremden in Streit geraten. Was haben Sie mit der Tatwaffe gemacht? Sie irgendwohin geworfen?«

»Nein, ich habe ihn nicht umgebracht. Er war schon tot, als ich ankam.«

»Dann kommen Sie doch bitte heute Vormittag ins Präsidium in die Keithstraße, um ihre Fingerabdrücke und DNA zu hinterlegen. Wir werden bei der Gelegenheit ein Protokoll Ihrer Aussage aufnehmen.«

»Bitte, wenn Sie Ihre Zeit mit einem unbeteiligten Zeugen verschwenden wollen …«

»Ja, das sehen wir dann. Sollten Sie es sich anders überlegen und nicht erscheinen, werden wir Sie von zwei Polizisten vorführen lassen. Ihre Adresse haben wir ja jetzt.«

»Schon gut, ich komme. Das hat man nun davon. Ich hätte ihn auch da sitzen lassen können und gar nichts tun.«

»Nein, Sie haben ganz richtig gehandelt. Aber es ist leider nun mal so, dass der Erste am Tatort der Hauptverdächtige ist.«

»Schöne Scheiße. Dann bis später!«

Lex Haubold unterhielt sich derweil mit Manfred Hoger von der KTU, der seine Kollegen, Sascha Helm und René Temme dabei hatte.

»Könnt ihr schon sagen, um wen es sich handelt?«

»Nein, der Tote hat keine Papiere dabei, aus denen seine Identität hervorgeht«, sagte Manfred. »Auch kein Handy. Da hat jemand gründliche Arbeit geleistet.«

»Okay. Sobald wir die DNA dieses Steinberger haben, sollten wir dringend einen Abgleich machen.«

»Du glaubst, der Finder ist auch der Täter? Warum hätte er dann die Kripo rufen sollen?«

»Weil vielleicht in seinem besoffenen Kopf einiges durcheinandergeht. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass derjenige, der vorgibt, ihn gefunden zu haben, auch der Täter ist. Wenn ihr die Tatwaffe oder prägnante Fußabdrücke findet, gebt uns bitte gleich Bescheid.«

»Selbstverständlich.«

»Prima, dann mal hören, was die Rechtmedizin meint.«

Lex ging zu Tim Lauber hinüber, der gerade Gunter Rudolph und Thorben Dahms befragte.

»Todeszeitpunkt vor etwa einer Stunde«, sagte Gunter. »Todesursache ein Stich direkt ins Herz mit einer dolchähnlichen Waffe. Der Mann dürfte Anfang bis Mitte zwanzig sein und weist sonst keine sichtbaren Verletzungen auf. Alles Weitere dann in unserem Bericht.«

»Den wir hoffentlich so schnell wie möglich vorliegen haben werden.«

»Ja, ja, Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger.«

Als Haubold und Lauber gegangen waren, sah Thorben Gunter an.

»Das ist ein ganz Scharfer, was?«, fragte er.

»Halb so wild. Die Herren darf man nicht so ernst nehmen. Knud Habich war mir ein guter Lehrmeister.«

 

»Hast du die Armbanduhr am Handgelenk des Toten gesehen? So eine hatte ich auch mal. Nur in einer anderen Farbe. Scheinbar war es kein Raubmord.«

»Über die Brücke gehe ich noch nicht. Immerhin fehlt das Handy. Und die Uhr, entschuldige, wenn ich das sage, ist nur Massenware. Nicht besonders wertvoll.«

»Ich weiß, für eine Rolex hat mein spärliches Gehalt nicht gereicht.«

Hauptkommissarin Valerie Voss saß mit ihrem Kollegen und derzeitigen Liebhaber, Konstantin Bremer, am Frühstückstisch, als das Telefon läutete.

»Hallo, Valerie, hier spricht Manfred.«

»Ja, guten Morgen. So früh schon? Was gibt es denn so Dringendes?«

»Kannst du bei uns mal vorbeikommen? Ich würde dir gern etwas zeigen.«

»Kein Problem. Vor oder nach dem Frühstück?«

»Überschlag dich nicht. Aber vielleicht, bevor du ins Präsidium fährst.«

»Alles klar. Dann bis später!«

Konstantin sah Valerie fragend an.

»Manfred macht es geheimnisvoll«, sagte sie. »So kenne ich ihn gar nicht. Normalerweise ist er immer ziemlich gerade aus.«

»Solange er nicht die Hose vor dir aufmacht …«

»Also, ich muss doch sehr bitten, Herr Bremer. Nicht alle sind so schwanzgesteuert wie du.«

»Apropos. Wollte unsere Heike nicht mit uns frühstücken?«

»Nenn Heiko bitte nicht so. Du weißt, dass er dann gleich hochgeht wie eine Rakete. Aber nein, seitdem sein Arne öfter bei ihm übernachtet, werden sie wohl im Bett frühstücken. Ich bin ganz froh, wenn wir mal für uns sind.«

»Scheint was Ernstes mit den beiden zu sein. Hätte ich nie für möglich gehalten. Aber wo die Liebe hinfällt.«

Heiko Wieland, seines Zeichens Kommissar in derselben Abteilung wie Valerie und Konstantin, wohnte oben im Haus von Valerie. Da hatte er eine ganze Etage für sich, ausgenommen ein Gästezimmer, das Valerie weiter nutzte, wenn ihre Mutter Tyra aus Schweden zu Besuch kam. Heiko war dankbar für Valeries Angebot gewesen, bei ihr zu wohnen, da ihm sein Freund Fabian quasi den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte, um für eine neue Liebe frei zu sein. Und Valerie fühlte sich allein in dem großen Haus nicht wohl, nachdem Hinnerk, ihr Kollege und Ehemann, im Dienst erschossen worden war.* Damals hatte sich Valerie noch dem Werben von Hinnerks Nachfolger, Konstantin, gegenüber sehr zurückhaltend verhalten. Sie hatte sich nicht vorstellen können, jemals wieder einen Mann an sich heranzulassen. Doch Konstantin hatte sie sozusagen im Sturm erobert, und Hinnerk hatte „von oben“ seinen Segen erteilt, weil Valerie noch zu jung war, den Rest ihres Lebens allein zu bleiben. Dabei war sie Mutter eines erwachsenen Sohnes, namens Ben, und fühlte sich mitunter steinalt und ausgelaugt. Doch Konstantins aufrichtige Liebe gab ihr neue Kraft.

* siehe Band 16 „Das letzte Wort hat immer der Tod“

Heiko hatte gegenüber seinem Arne noch immer ein schlechtes Gewissen. Denn er hatte anfangs Arne nur ausspionieren sollen. Arne Holm arbeitete nämlich in einer gemeinnützigen Organisation, die sich um suizidgefährdete Jugendliche kümmerte. Als er selbst in Verdacht geriet, seine Stellung zu missbrauchen und den Jugendlichen Beihilfe bei ihrem Freitod zu leisten, hatte Valerie Heiko gebeten, Arne auf den Zahn zu fühlen.* Denn sie hatte mit Kennermiene erkannt, dass Arne ebenso gleichgeschlechtlich veranlagt war wie Heiko. Dass daraus tatsächlich eine Liebesbeziehung entstehen würde, hatte keiner geahnt.

»Mir wäre es nur recht, wenn die beiden zusammenbleiben«, sagte Konstantin. »Dann suchen sie sich vielleicht woanders eine gemeinsame Wohnung.«

»Nachtigall, ick hör dir trapsen. Willst du oben einziehen? Reicht dir mein Schlafzimmer nicht mehr?«

* siehe Band 20 „Todessehnsucht“

»Schon, aber warum soll ich Miete für eine Wohnung zahlen, in der ich mich so gut wie nie aufhalte?«

»Ach, ich soll dich wohl für umsonst oben wohnen lassen?«

»Meinen Obulus würde ich schon beisteuern. Keine Sorge. Aber das Haus nur für uns beide wäre schon schön. Findest du nicht?«

»Der Gedanke hat durchaus seinen Reiz. Aber ich kann Heiko nicht zwingen auszuziehen.«

»Sollst du auch nicht. Vielleicht räumt er freiwillig das Feld.«

Dass eine derartige Lösung in greifbarer Nähe lag, wenn auch aus ganz anderen Gründen, ahnte in dem Moment noch keiner von beiden. Doch wir wollen nicht vorgreifen.

Valerie fuhr relativ entspannt nach Tempelhof in die KTU. Als sie Manfred Hogers ernstes Gesicht sah und seine Verlegenheit spürte, wurde sie aber doch unruhig. Ohne vorherigen Smalltalk kam er gleich zur Sache und legte ihr eine Tüte vor, in der sich die Armbanduhr befand.

»Kennst du die?«

»Ja, die wird heutzutage öfter getragen. Warum fragst du? Moment mal, befindet sich auf der Abdeckung des Zifferblattes ein Kratzer?«

Manfred nickte.

»Dann könnte es Bens Uhr sein. Wo hast du die her?«

»Eine unbekannte männliche Leiche im Kleinen Tiergarten trug sie am Arm. Stella Kern wollte eine gewisse Ähnlichkeit zu Ben festgestellt haben.«

»Waas? Und da lässt du mich erst hierher kommen, statt mich gleich in die Turmstraße zu schicken?«

»Entschuldige, aber ich wollte nicht gleich die Pferde scheu machen. Stella kann sich doch auch geirrt haben.«

»Ich muss sofort rüberfahren. Warum haben wir eigentlich nicht den Fall bekommen?«

»Da musst du euren Alten fragen. Er hat die Mord 2 mit Haubold und Lauber hingeschickt. Und Kern war auch nicht am Tatort, sondern Rudolph und Dahms. Stella hat den Toten erst im Institut gesehen und mich gleich informiert.«

»Dich, und warum nicht gleich mich?«

»Aus denselben Gründen wie ich sie hatte.«

»Danke für eure Rücksicht. Du bist mir nicht böse, wenn ich gleich losfahre?«

»Natürlich nicht. Ich hoffe, dass alles ein Irrtum ist.«

»Na, und ich erst.«

Unterwegs versuchte Valerie mehrmals, Ben zu erreichen, doch es schaltete sich immer die Mailbox ein. Voller Panik kam sie in der Turmstraße an und wurde sogleich von Thorben Dahms an Stella Kern weitergereicht. Als die Rechtsmedizinerin das Laken hob, hielt Valerie die Luft an.

»Gott sei Dank, er ist es nicht«, sagte Valerie unter Lachen und Weinen zugleich.«

»Bist du sicher? Menschen verändern sich im Tode.«

»Ich weiß, aber ich kenne doch meinen Sohn. Dieser Mann sieht ihm sehr ähnlich, und er hat sogar das winzige Muttermal über der Augenbraue. Allerdings auf der falschen Seite.«

Stella Kern machte ein nachdenkliches Gesicht. Ihr kam die Sache mehr als seltsam vor. Ob Valerie etwas aus reinem Selbstschutz behauptete? Nach dem, was sie durchgemacht hatte, hätte es Stella nicht gewundert.

»Wenn ich dir einen Rat geben darf: Statte deinem Sohn einen Besuch ab, damit jeder Irrtum ausgeschlossen ist.«

»Ja, das werde ich tun«, sagte Valerie lächelnd. »Ich habe schon versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Leider ohne Erfolg. Und bei dir? Wie läuft es in deiner Ehe?«

»Gut, danke der Nachfrage. Ich habe den Schritt bisher nicht bereut. Lass uns doch mal wieder zusammen essen gehen.«

»Ja, gern. Ich melde mich. Ciao!« Valerie küsste Stella auf die Wange und winkte ihr beim Rausgehen noch einmal zu.

Kapitel 2

Als Valerie die Räume der Rechtsmedizin verlassen hatte und den großzügigen Innenhof betrat, holte sie tief Luft und nahm ihr Handy zur Hand, um im Präsidium anzurufen. Konstantin war sofort am Apparat.

»Hallo, ich bin’s. Falls der Alte mich sucht, ich komme etwa ein bis anderthalb Stunden später.«

»Ach, will dir Hoger jetzt auch noch seine Privatgemächer zeigen?«

»Erraten, aber sag es nicht weiter. Bis später!«

In Hellersdorf stellte Valerie fest, dass zwar Bens Name noch immer auf dem Klingelschild stand, aber eine Etage höher als bisher. Als auf ihr Klingeln niemand öffnete, wartete sie, bis jemand aus dem Haus kam und fuhr dann direkt mit dem Lift nach oben. Da die Klingel offensichtlich nicht funktionierte oder abgestellt war, klopfte Valerie an die Tür. Als ihr geöffnet wurde, war es Ben. Valerie flog ihm um den Hals.

»Mama, was machst du denn hier? Du kannst mich jetzt ruhig wieder loslassen und deine Mutterflügel wieder einklappen. So lange ist es nun auch wieder nicht her, dass wir uns gesehen haben.«

»Lange genug für einen heimlichen Umzug.«

»Wir wollten dich überraschen. Es ging alles so schnell.«

»Was hat diese Wohnung, das die andere nicht hatte?«

»Ein halbes Zimmer mehr, das wir dringend benötigen.«

In diesem Moment kam ein schüchterner, kleiner Junge aus einem der Zimmer und schaute neugierig dem Besuch entgegen.

»Ja, wer bist du denn? Wie heißt du denn, mein Schatz?«

»Alexander, aber alle sagen nur Alex zu mir. Und wer bist du?«

»Ich bin deine Omi.«

»Stimmt das?«, fragte Alex und schaute zu Ben hoch.

»Wenn sie das so sagt, wird es wohl stimmen. Und jetzt geh wieder zu Lena. Ich habe mit der Omi etwas zu besprechen.«

Lena kam, begrüßte Valerie und führte dann den kleinen Jungen in sein Zimmer.

Im Wohnzimmer setzte sich Valerie auf einen Sessel und ordnete ihre Gedanken.

»Ich glaube, ich brauche erst einmal einen Schnaps. Falls ihr so etwas im Haus habt. Schließlich wird man nicht alle Tage Oma.«

»Du kannst einen Amaretto haben. Lena trinkt gerne ab und zu einen. Pur oder im Kaffee?«

»Den ersten pur, den zweiten im Kaffee. Wann wolltet ihr mir eigentlich mitteilen, dass ihr ein behindertes Kind adoptiert habt? Oder ist es euch peinlich, dass Alex das Downsyndrom hat?«

»Keineswegs. Diesem Umstand und meiner Arbeit am Theater mit diesen Kindern verdanke ich, dass wir den Kleinen so schnell bekommen haben. Und zu deiner Beruhigung: Er ist erst vor drei Tagen eingetroffen. Seitdem sind wir kaum zum Luftholen gekommen.«

»Damit kein Missverständnis entsteht: Ich habe nichts gegen Kinder mit Trisomie 21. Im Gegenteil. Ich liebe diese Kinder. Sie sind so fröhlich und weniger anstrengend als andere Kinder, und sie strahlen reine Liebe aus. Wenn ich nicht zur Kripo gegangen wäre, hätte ich mir vorstellen können, mich um sie zu kümmern. Aber habt ihr euch das auch gut überlegt? Ist es nicht so, dass Menschen mit dieser Chromosomenanomalie eine deutlich geringere Lebenserwartung haben?«

»Das war früher einmal so, als es noch nicht die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten gab. Inzwischen werden sie im Durchschnitt sechzig Jahre alt, und jeder Zehnte siebzig oder sogar älter.«

»Was ist eigentlich mit den Eltern?«

»Die Mutter hat sich den goldenen Schuss gesetzt. Der Vater ist unbekannt. Alex hat zwei Tage an der Seite seiner toten Mutter gelebt, bis endlich die Nachbarn aufmerksam wurden.«

»Das arme Ding.« Valerie kamen augenblicklich die Tränen. »Wie alt ist er eigentlich? Fünf oder sechs?«

»Fünf. Aber von der Entwicklung ist er noch etwas zurück.«

»Ich fand ihn ganz munter und ziemlich aufgeweckt. Hat er eigentlich begriffen, dass seine Mutter tot ist?«

»Das ist anzunehmen. Immerhin hat sie sich zwei Tage nicht mehr bewegt, und er musste sich selbst versorgen. Lena hat ihm erklärt, dass seine Mama im Himmel ist und ihm von oben zuwinkt. Seitdem fragt er nicht mehr nach ihr.«

»Hör auf, ich muss schon wieder heulen. Willst du ihn nicht rüberholen?«

Statt einer Antwort rief Ben: »Lena, komm doch mal! Und bring Alex mit!«

Valerie breitete die Arme aus, als Alex auf sie zu stolperte.

»Das nächste Mal bringt dir die Oma was Schönes mit, ja? Und wenn du mich besuchen kommst, kannst du im Garten spielen. Manchmal ist da auch ein Hund. Ein ganz lieber. Toni gehört dem Freund meines Untermieters. Magst du Hunde?«

Alex nickte heftig. »Was ist ein Untermieter?«, wollte er aber wissen.

»Das ist, wenn man in seiner Wohnung oder in seinem Haus Räume zur Verfügung stellt und dafür Miete kassiert«, erklärte Ben.

»Werden wir auch mal Untermieter haben?«

»Nein«, lachte Lena. »Dafür ist unsere Wohnung zu klein.«

»Ich finde es großartig, dass ihr diesen Schritt gemacht habt«, sagte Valerie. »Und ich bewundere euch dafür.«

»Danke, aber so heldenhaft, wie es scheint, sind wir gar nicht. Sicher, wir bieten dem kleinen Alex ein Heim, aber wir haben es auch für uns gemacht«, meinte Lena. »Und Ben kann ihn öfter mal mit ins Theater nehmen. Da kommt er mit gleichartigen Kindern zusammen und kann seiner Spielfreude freien Lauf lassen.«

 

»Jetzt erzähl doch mal, welchem Umstand wir deinen Besuch verdanken«, sagte Ben.

»Ich habe mir Sorgen gemacht, weil ihr telefonisch nicht zu erreichen wart. Sag mal, vermisst du eigentlich deine Armbanduhr?«

»Ja. Hast du sie gefunden? Ich dachte, ich hätte sie verloren, als ich letzte Woche in der Schwimmhalle Kaulsdorf war. Beziehungsweise dass sie mir geklaut wurde.«

»Nein, nicht ich habe sie gefunden, aber ich habe sie heute bei der KTU gesehen.«

»Ach, jetzt verstehe ich. Deshalb hast du mich vorhin fast erdrückt. Sie wurde bei einem Mordopfer gefunden, ja? Und du hast gedacht, ich könnte es sein.«

»Ja, nein. Der junge Mann sieht dir sehr ähnlich, aber ich habe sofort erkannt, dass du es nicht bist.«

»Da kann ich ja noch von Glück sagen, dass nur mein Doppelgänger dran glauben musste.«

»Ich finde das gar nicht komisch, Ben.«

»Ich auch nicht, Mama.«

Als Valerie zurück ins Präsidium kam, sahen alle sofort, dass sie in einer außergewöhnlichen Stimmung war.

»Was ist los, Schatz? Hat dich Manfred so hart rangenommen?«, witzelte Konstantin.

»Haha. Nein, aber heute ist irgendwie nicht mein Tag. Erst muss ich mir in der Rechtsmedizin eine Leiche ansehen, von der Stella glaubt, dass es Ben ist …«

»Warst du nicht in der KTU?«

»Doch, dort hat man mir Bens Armbanduhr gezeigt, deshalb bin ich gleich in die Turmstraße gefahren. Aber Gott sei Dank war es nur ein Doppelgänger. Wie er zu Bens Uhr kam, muss noch herausgefunden werden. Apropos Doppelgänger: Heißt es nicht, dass man bald stirbt, wenn man seinen Doppelgänger sieht? Dann werde ich wohl bald den Löffel abgeben. Ich habe unterwegs in einem Bistro eine Kleinigkeit gegessen und wurde von einer Frau bedient, die mir aufs Haar gleicht. Sie hat zwar noch die weißblonden Haare, wie ich sie lange trug, aber wir haben uns beide erschrocken und mussten dann lachen.«

»Du musst mir unbedingt sagen, wo das Bistro ist«, sagte Konstantin, »falls du mich mal nicht mehr haben willst.«

»So, du würdest dich also mit einer Kopie zufrieden geben? Gut zu wissen.«

»Das Original ist mir allemal lieber. Aber in der Not frisst …«

Der Schlag, den Valerie Konstantin versetzte, war nicht von schlechten Eltern.

»Aber der größte Knüller kommt noch«, sprach Valerie weiter, während Konstantin sich den Arm rieb. »Ihr könnt mir gratulieren. Ich bin sozusagen über Nacht Oma geworden.«

»Wie das? Hast du zwischendurch mit deinem Sohn telefoniert?«, fragte Heiko.

»Ich war sogar bei ihm, weil mir die Sache mit der Uhr keine Ruhe gelassen hat. Und wer kommt mir da entgegen? Ein süßer, fünfjähriger, kleiner Bengel, namens Alex bzw. Alexander.«

»Toll, herzlichen Glückwunsch. Da haben Ben und Lena aber Glück gehabt, dass es so schnell mit der Adoption geklappt hat«

»Ja, die Sache hat nämlich einen kleinen Haken. Alex hat die Chromosomanomalie Trisomie 21 bzw. das Downsyndrom und hat gerade erst seine Mutter verloren. Durch Bens Arbeit am Theater mit diesen Kindern fand man eine unkomplizierte Lösung.«

»Och, diese Kinder sind so goldig, dass man sie immerzu knuddeln möchte«, mischte sich Marlies Schmidt, die Kriminalassistentin und gute Seele der Abteilung ein. Durch ihre Heirat mit Björn war sie auch überraschend (Stief-)Mutter des kleinen Jan geworden und sehr glücklich über ihre kleine Familie.

Valerie nahm Schmidtchen, wie sie sie nannte, liebevoll in den Arm. »Ich wusste immer, dass wir seelenverwandt sind. Mir geht es nämlich ebenso«, sagte sie gerührt.

»Ob Ben und Lena sich der Tragweite bewusst sind?«, fragte Konstantin.

»Davon gehe ich aus. Alex muss zwar öfter therapiert werden und braucht regelmäßig Krankengymnastik, aber ich denke, Ben weiß, was er tut.«

»Und wann lernen wir den Kleinen mal kennen?«, wollte Marlies wissen.

»Bald, wenn wir im Garten bei mir Kaffee trinken. Nur lass ihm noch etwas Zeit, damit er nicht gleich mit so vielen fremden Menschen konfrontiert wird.«

»Sehr vernünftig«, meinte Konstantin. »Später kann er dann mit Jan und Isa spielen.«

»Ja, jetzt kommt wieder richtig Leben in die Bude. Ich muss unbedingt Tyra mitteilen, dass sie Uroma geworden ist, wenn auch angenommene.«

»Wie ich Tyra kenne, macht sie da keinen Unterschied«, sagte Konstantin, und alle nickten zustimmend.

»Hier herrscht ja ausgelassene Stimmung«, sagte Dr. Paul Zeisig, der Abteilungsleiter, der plötzlich in der Tür stand. »Frau Voss, auch endlich eingetroffen?«

»Ich habe mich telefonisch abgemeldet.«

»Nur leider nicht bei mir. Aber bei den Überstunden, die sie haben, will ich ein Auge zudrücken. Es gibt eine neue Leiche. Eine unbekannte junge Frau. Ganz ähnlich wie der Fund im Kleinen Tiergarten, an dem die Kollegen von der Mord 2 gerade dran sind. Nur ist es diesmal die Jungfernheide. Zwei von Ihnen sollten gleich losfahren.«

»Warum schicken sie nicht wieder die Mord 2?«, wagte sich Valerie vor.

»Die Einteilung müssen Sie schon mir überlassen.«

»Na bitte, Heiko, kommst du mit, oder soll lieber Konstantin?«, fragte Valerie.

»Lass mal den Kleenen, damit er sich nicht wieder beklagt.«

»Zu gütig«, sagte Heiko und griff schnell nach seiner Jacke. »Wo müssen wir da hin?«

»Immer der Nase nach. Die Kollegen sind schon vor Ort. Ich höre dann von Ihnen.«

»Lass dir die Zeit nicht lang werden, Konny«, zog Valerie Konstantin auf.

»Nein, ich staube derweil die Akten ab. Die haben es dringend nötig.«

»Warum warst du denn heute Morgen so schnell verschwunden?«, fragte Heiko unterwegs.

»Weil mich Manfred Hoger angerufen hat und mich dringend sehen wollte.«

»Weil er auch befürchtete, die unbekannte, männliche Leiche könnte Ben sein?«

»Ja. Zum Glück hat der Verdacht sich nicht bestätigt.«

Valerie parkte bald darauf im Jungfernheideweg, gleich hinter den Wagen der KTU und der Rechtsmedizin. Rechterhand lag der 146 Hektar große, öffentliche Park, der einst als königliches Jagdrevier gedient hatte. Jetzt gab es dort ein Strandbad, einen Sommergarten, einen Kulturbiergarten, einen Waldhochseilgarten und einen Hundefreilauf. Nicht zu vergessen, die Freilichtbühne, die auch Gartentheater Jungfernheide genannt wurde.

Der Fundort der Leiche war wie immer großzügig abgesperrt, aber Valerie und Heiko verschafften sich Zutritt, indem sie einfach über das Absperrband kletterten. Sascha Helm und René Temme von der KTU lüfteten die weiße Plane, um den beiden einen Blick auf die Frau zu ermöglichen. Valerie hielt sich vor Schreck den Mund zu.

»Die sieht ja aus wie eine Zwillingsschwester von Schmidtchen«, stammelte sie. »Wenn wir sie nicht eben noch im Büro gesehen hätten … Und das Tuch gehört Schmidtchen.«

»Wie kannst du so sicher sein?«, fragte Heiko, »die gibt’s doch sicher in großer Anzahl.«

»Eben nicht. Das habe ich Schmidtchen geschenkt. Und es ist ein Unikat. Ich habe es bei einer Designerin in Charlottenburg gekauft. Weiß man, wie sie heißt?«

Sascha schüttelte den Kopf. »Sie hat weder Ausweis noch Handy dabei«, sagte er.

»Natürlich, wie soll es auch anders sein? Gibt es irgendwelche verwertbaren Spuren? Schuhabdrücke, Kampfspuren oder fremde DNA unter den Fingernägeln?«

»Die gibt es, aber wir müssen sie erst mit der Datenbank abgleichen.«

»Wetten dass der Täter datentechnisch nicht erfasst ist?«, sagte Valerie zu Heiko.

»Warum nicht?«

»Weil es sich um jemanden handelt, der bisher nicht in Erscheinung getreten ist, glaube ich. Es ist so ein Gefühl.«

»Mit deinen Gefühlen liegst du ja meistens richtig. Mal sehen, was die Rechtsmedizin zu berichten hat.«

Gunter Rudolph und Maximilian Herbst gaben Auskunft.

»Die Frau dürfte etwa Ende dreißig bis Anfang vierzig sein und ist seit zirka drei Stunden tot. Ein gezielter Stich ins Herz ist die Todesursache«, sagte Herbst.

»Also alles wie bei dem Unbekannten im Kleinen Tiergarten, wenn ich das richtig sehe. Warum sind die „alten Hasen“ eigentlich nicht vor Ort? Sind die jetzt nur noch für die Mord 2 da? Nichts gegen euch, Jungs, aber ich …«

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