Kitabı oxu: «Tales of Beatnik Glory, Band II, (Deutsche Edition)», səhifə 2

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DER SCHLEMIHL DER HAPPENING STREET

Er hiess Harry Summers, war aber für alle nur der Schlemihl der Happening Street. Er war Maler, verdankte seinen kometenhaften Aufstieg jedoch seinen Happenings. Harry gehörte zu einer Gruppe von Malern, bei denen die Leidenschaft für die Leinwand sich mit Hunger nach der Arbeit mit Live-Publikum paarte. Es war die Paint-Perf-Ära, die Zeit der Maler mit dem Hang zur Performance, im Gegensatz zur Perf-Po-Bewegung — den Performance-Dichtern — späterer Jahrzehnte.

Der Schlemihl der Happening Street war er deshalb, weil bei ihm immer etwas schief ging, und das gewaltig, aber fast immer war gerade diese Panne für das Happening die brillante Wende hin zum Triumph. Vornehmlich inszenierte die Happening-Bewegung damals glasklare apollinische Spektakel, die mit ruhiger Hand und durchschaubarem Faden genäht waren. Wir befinden uns in der Dekade, in der man entdeckte, dass man Furore machen konnte, indem man auf klare baumelnde Plastikplatten malte, zeichnete, was auch immer, davor Stühle aufstellte, einen Cellisten auf Rollschuhen anheuerte oder ein Tonband mit Straßenlärm laufen ließ.

Harry genügte das nicht. Für ihn war das nichts, Performances in eleganten Räumen — die Stille zwischen den Aktivitäten erinnerte ihn an einen Schluck Wein zwischen zwei Gängen. »Zum Teufel mit dem Wechselspiel von Licht und geometrischer Form!«, rief er. »Wir wollen Schweiß!« Für gewöhnlich den des Publikums, das kam, um sich Harrys ganz eigene Art von wildem Spektakel anzusehen. Er nannte es »REGA«, für »Raw Energetic Gestaltic Absolute«. Veranstaltet wurden diese Roh-Energetischen Gestalt-Absoluta fast ausschließlich in der Neunten Straße Ost zwischen den Avenues B und C; für die Lower East Side war die Straße deshalb die Happening Street.

Harry Summers war der einzige Happening-Künstler, der sich auch nur in die Nähe von Buhrufen und Pfiffen wagte. Marinettis Manifest, in dem vom »Vergnügen, ausgebuht zu werden« die Rede war, hatte eine große Wirkung auf ihn gehabt. Nach einigen Experimenten in Sachen Performance-Painting hatte er festgestellt, dass sich wahrscheinlich nichts machen ließ, was die Glanzzeit der Performance-Skandale, als das Publikum noch mit Kartoffeln geworfen hatte, zurückgebracht hätte. Nichtsdestoweniger versuchte er es. Ihn reizte dieses coole Publikum aus Beats, Arm und Reich, das sich praktisch alles ansah, ohne den Mund aufzumachen. Vielleicht hatten die grausigen Exzesse dieses Jahrhunderts — die Kriege, die Bomben, die Auswüchse des Bösen — alle Kartoffeln absorbiert.

Als Harry Summers feststellte, dass das Publikum der frühen sechziger Jahre sich nicht zum Aufruhr bewegen, ja noch nicht einmal aufbringen ließ, öffnete er in Liebe und Freundschaft die Arme. Er entspannte sich. Er hatte ein gutes Gefühl in Bezug auf die geistige Verfassung derer, die seines REGA wegen in die Neunte Straße Ost kamen. Wie er feststellte, war die Freude umso größer, je sichtbarer er bei seinen fantastischen Mal-Happenings war. Er inspirierte die Passiven wie die Tragi-Zyniker. Er verlieh Energie. Er machte verdrießliche Banker und selbst die Bittersten unter den bitteren Scheißern der Kunstszene zu spontanen Akteuren.

Stets war er mit Farbe bekleckert — die Kleidung, das Gesicht wie das Haar. Sie vermischte sich mit dem Schweiß seiner Performances zu leuchtend bunten Rinnsalen. Seine Hose war immer am Rutschen. Nie ging er lediglich — für ihn herrschte immer Rushhour. Er stolzierte daher wie eine fußlahme Ente und mit jedem Schritt stieg der Mond aus der Hose, die wieder ein Stückchen sank. Seine Augenhöhlen waren viel zu groß für die Augen darin, sodass sich sein blaugrünes Freudestrahlen wie das Licht zweier Ministablampen aus den finsteren Tiefen einer Höhle ausnahm, wann immer er sein Publikum dazu zu bewegen versuchte, in den »Geist des REGA« mit einzufallen; und stets experimentierte er dabei mit der ebenso feinen wie peinlichen Trennlinie zwischen dem »du kannst beim Happening mitmachen« und dem »du wirst«. Die Happenings waren ein Tonikum für Harry, sie bedeuteten schieres Glück; sie hoben ihn in solche Höhen, dass er in der Verzweiflung, die unweigerlich folgte, entsprechend tief fiel. Wenn Harry down war, und das war er nicht selten, bewegte er sich in einer dumpfen Welt flackernden Zwielichts, einer Axt schmerzloser Migräne. Aus diesem Grund machte er zwei Shows pro Monat, um sich sein high zu bewahren.

Einer der Gründe, weshalb er bei seinen Happenings zu einem derart sichtbaren Teilnehmer wurde, war der, dass es bei seinen Spektakeln ständig etwas zu richten gab, wenn etwa ein Diffusorschirm umzufallen oder der Stapel Warzenmelonen vom Fließband ins Publikum zu rasseln drohte. Dann sprang er vor und — schwitzend vor Freude und Zorn — richtete er die Aberration.

Die Kunstjournale berichteten fasziniert über diese Events. Ein legendäres Happening widmete sich der Frage: »Warum sollte man nicht auf Pfannkuchen laufen können — Riesenpfannkuchen —, während sie backen?« Einige von den Spezialschuhen, die Harry dafür entwarf, fingen mittendrin Feuer, und die flambierten Füße panischer Teilnehmer wurden geradezu legendär.

In der Dynamit-Sonate arbeitete er mit Sprengstoff, den er unter einer Reihe schwerer Metallplatten platzierte, wie man sie auf Baustellen beim Sprengen benutzt. Harry brachte auf den Platten Gemälde an, dann zündete eine Reihe von Assistenten per Fernzünder die Ladungen so, dass das Ganze die rhythmische Begleitung zu einem frühen Stück elektronischer Musik abgab. Während der Proben hoben sich die Metallplatten einen halben Meter vom Boden und fielen dann — mit einer gefälligen Staubwolke rund um die Gemälde — wieder zurück. Während der eigentlichen Performance kam dann alles ganz anders, die Rhythmusspur der Explosionen sprengte ein Hauptwasserrohr und brachte eine Mauer zum Einsturz, hinter der ein winziger jüdischer Friedhof aus dem Achtzehnten Jahrhundert zum Vorschein kam.

In seinem Stück Wer ist der Puppenspieler? ließ man über dem Publikum dicke, mit Schnellkleber bestrichene Schnüre von der Decke, die, während die Leute von der Action um sie herum abgelenkt waren, fieserweise trockneten, was sie in einigen Fällen unzertrennlich mit Anzugjacketts, Überwürfen, Holzfällerhemden oder Beat-Generation-Leder verband. Und dann waren da noch die Wunder. Die Griechen, die die Zukunft gern durch Beobachtung von Vögeln weissagten, hätten ein Staatsereignis darin gesehen, als — wie bei einem von Harrys Happenings — praktisch alle zweihundert Tauben, die man über einer riesigen schwarzen Leinwand freiließ, auf einmal kackten.

Harry Summers brachte etwas Einzigartiges in die Geschichte der Happenings ein und zwar das Konzept der »gefährlichen Kunst«. Das sprach sich herum, und so zog er ein ganz eigenartiges, gefahrenorientiertes Publikum an. Man sah geradezu, wie sie ruhig — und im Kollektiv — ihre Chancen berechneten, wann immer etwas schief zu gehen begann; jeder hatte seinen ganz persönlichen Augenblick, in dem es Zeit wurde, schreiend und drängelnd in Richtung Ausgang zu fliehen. Zu Harrys Anerkennung muss man freilich sagen, dass nie jemand verletzt wurde.

Trotz dieser ungeplanten Zwischenfälle verliefen Harrys Paint-Performances nahtlos. Und er war mittendrin; wie ein Balletttänzer sprang er über den Set. Die Bandmaschine wollte nicht, schon zischte Harry los, drückte jedem der Anwesenden ein Telefonbuch in die Hand und rief: »Sing!« So kam auch das erste »Telefonbuch-Simultan« in einunddreißig Stimmen in der Geschichte der Happenings zustande, bei dem man sich durch die A’s von Manhattan sang. Auch Nacktheit taugte hervorragend, um die disparaten Elemente eines Happenings zu verschmelzen. Und es gab sie nicht zu knapp, Männer wie Frauen. Und die Nackten standen nicht einfach nur rum, Harry ließ sie tanzen, von Balken baumeln, ja sie umarmten einander sogar. Was Kartenverkäufe anging, war das ein todsicherer Anreiz, wenn auch 1963/64 einer, der mit Prozessen verbunden war — verdeckte Ermittler oder Typen von der Staatsanwaltschaft kamen vorbei, um sicherzustellen, dass es nicht zu illegalen Berührungen, Ständern, klitoralem Gefummel, Blasmusik oder gar Geschlechtsverkehr kam.

Harry hatte einen Assistenten namens Sweat Brow Bill. Dieser war in dem Maße ordentlich, in dem Harry chaotisch war, und ebenso unermüdlich. Seine Markenzeichen waren eine Brille mit Bernsteingestell — mitsamt versteinerten Käfern — und sein langes, hellbraunes Haar, das er in zwei Pferdeschwänzen trug. Sweat Brow Bill war der Archivar. Er sah zu, dass Plakate eingemottet wurden, und zwar beschriftet, dass die Produktionsskripts gesammelt, Fotos gemacht und aufbewahrt und Presseverlautbarungen und Rezensionen fein säuberlich in Alben eingeklebt wurden; er brachte Gemälde zum Restaurieren.

Unermüdlich sondierte Sweat Brow das Publikum nach Leuten, bei denen Harry Requisiten unterbringen konnte, Kostüme, Bühnenbilder, ja selbst zerlegbare Bühnen und Beleuchtungsanlagen. Und das klappte. In ganz New York gab es Leute, viele Leute, die ihre Unterkünfte mit Harrys Kram vollgestellt sahen, alles sorgfältig beschriftet, indiziert, mit Querverweisen und in Kartons. Am Tag einer Paint-Perf düste man dann eilig im Taxi von einem Stadtteil zum anderen, um die benötigte Ausrüstung zusammenzuholen.

Eines Nachmittags bereitete Harry ein Gebäude für eine Produktion vor: Die Schönheit geschaffener Dinge — Ein Happening in der East Ninth. Crew und Ensemble waren versammelt, darunter Sweat Brow Bill, Cynthia Pruitt, John Barrett und Sam Thomas. Die beiden Letzten sollten gleichzeitig aus ihrem Werk rezitieren, und Harry war von Cynthia fasziniert, die gekommen war, um ihren Liebhaber Sam Thomas auftreten zu sehen. Cynthia war nach New York City gekommen, um freiwillig in asketischer Armut beim Catholic Worker zu dienen. Ihre Operationsbasis war ein Haus in der Nähe der Bowery, in dem man die Zeitung machte und Mahlzeiten an Arme und Obdachlose ausgab. Für den Worker hatte sie sich als etwas zu mannstoll erwiesen und so wohnte sie jetzt allein. Harry Summers konnte es kaum erwarten, Cynthia in der Schönheit geschaffener Dinge für ihn die Kleider abwerfen zu sehen. Sie allerdings zögerte, ja genauer gesagt sträubte sie sich.

Immer wieder fragte man Harry nach seiner Leidenschaft für die East Ninth, eine Slumstraße, die sonst nur für den Geruch von Armut und gedünsteten Zwiebeln bekannt war. Nun, er mochte sie einfach — ihre Häuser, ihre Gassen, ihre Keller —, überall fand er herrliche Winkel, Pfosten, Mauern, interessante Fensterrahmen, Dächer, die groovy waren. Nachdem er sich ein Haus ausgesucht hatte, überzeugte er Bewohner und Hausmeister ihn machen zu lassen. Er nannte das »ein Haus machen«. Zwei-, dreimal fuhr er ins ländliche New York hinaus oder nach Long Island, um »eine Scheune zu machen« oder ein Herrenhaus; später im selben Jahrzehnt »machte« er dann eine Kommune.

Das neue Happening sollte in einem verborgenen Hinterhof stattfinden, der zwischen einem Wohnblock vorn und einem kleineren Wohnhaus dahinter gelegen war. In der Mitte des Hofs befand sich ein Halbkreis stehender Vorhänge um einen geheimnisvollen »Tunnel nach Nirgendwo«, den die Teilnehmer krabbelnd oder im Entengang betreten sollten. Außerdem hatte Harry einen alten hölzernen Wasserturm auf Metallpfeilern in den Hof schaffen lassen. Geplant waren Musik, gefällige Körperlyrik und »ein Geheimnis«, wie Harry versprach.

Harry hatte den Tunneleingang mit einer Art Flickendecke ausgelegt, auf der man eine Schräge mehr oder weniger hinabrutschte, bevor man in den eigentlichen Tunnel gelangte. Er überredete Cynthia Pruitt zu einem Probekriechgang — zusammen mit ihm. Sie waren eine ganze Weile unten, was die Probe aufhielt. Alle gingen davon aus, dass die beiden es trieben. Oder auch nicht. Schließlich kam unter dem donnernden Applaus des Ensembles eine nackte Cynthia aus dem Tunnel. Hinter ihr folgte Harry Summers, der sich den Strick um die Hose zu knoten versuchte. Dann stellte Cynthia sich Sam Thomas und starrte den Freund in Grund und Boden, ein Blick, der unter den Frauen der Beat-Generation zum Klassiker geworden war.

Inzwischen traf unweit der Generalprobe, in einer Wohnung an der Avenue A, die Schwiegermutter ein. Wie immer war sie lautlos die vier Treppen nach oben geschlichen, bis an die mehrfach verriegelte Wohnungstür; sie hatte eine Reihe von Einkaufstüten voller Geschenke für ihre Tochter und die Kinder dabei. Die Empfänger nannten sie CARE-Pakete, und heute enthielten sie Kinderkleidung von der reichen Tante Shifrah, zwei Packungen Streit’s-Matzen mit Schokoglasur, ein Sortiment zugeklebter Kascha-Packungen, viele — womöglich zu viele — Dosen Erbsensuppe, ein Riesenglas Zuckerbirnen, Milch, Eier, Obst, Glühbirnen, Zeitschriften, Spielsachen und Zwirn.

Meist fielen die Besuche der Schwiegermutter kurz aus, und der dreckige Beatnik — oder D.B., wie Maries Familie in Queens ihn nannte — verzog sich in eine Kneipe oder hinauf in das Schreibzelt auf dem Dach und wartete ab. An diesem Tag jedoch sollte Schwiegermama bis gegen Mitternacht bleiben. Schwiegerpapa wartete für gewöhnlich draußen oder patrouillierte das Viertel in seinem Buick, weil er sich weigerte, den »verantwortungslosen Beatnikstrolch« auch nur zu sehen, der seine Tochter in einen Slum geholt hatte, dem zu entrinnen sogar drei Generationen von Greenhorns — den Flüchtlingen vor Pogromen und Krieg aus dem Schtetl — gelungen war. An dem Tag hatte er geschäftlich in Manhattan zu tun, und die Schwiegermutter wollte währenddessen in die Avenue A.

Die Besuche von Schwiegermama waren üblicherweise mit einer ganzen Reihe temporärer Tumulte verbunden. Immer regte sie irgendetwas auf. An diesem Tag beschäftigte sie der Zombieblick der Zwillinge, denen sie die neuen Spielsachen gab, ein Phänomen, das ihr arg zu schaffen machte. Irgendetwas stimmte da nicht. Sie waren teilnahmslos. Müde. Ihre Augen die von Zombies. Die armen Kleinen! Was war da los? Waren sie erkältet? Sollten wir nicht Fieber messen?

Das Schuljahr hatte gerade angefangen, und die Schwiegermutter sah nicht, dass es sich da um ein Leiden handelte, das unter Kindern der Beat-Generation keine Seltenheit war. Die Zwillinge waren gerade in den Kindergarten gekommen. Ihr ganzes Leben lang hatten sie ihre biologische Uhr nach dem Rhythmus der Eltern gestellt, mit anderen Worten: Sie schliefen von fünf Uhr morgens bis mittags um eins; jetzt zerrte man sie zu ihrem Entsetzen um sieben oder acht Uhr früh aus ihrem Stockbett und sie würden noch einige Wochen zu leiden haben, bevor ihr Schlafzyklus sich angepasst hatte.

Marie erklärte Schwiegermama das alles, während sie die verderblichen Sachen aus den CARE-Paketen in den Kühlschrank packten, an dessen Tür ein Plakat für Die Schönheit geschaffener Dinge — Ein Happening in der East Ninth geklebt war.

Der D.B. ging mit Marie zurate. Warum die Schwiegermutter nicht auf das Happening mitnehmen? Sie hatten schließlich alles geplant, sie hatten einen Babysitter, und ihre Freunde aus dem Ensemble erwarteten sie. Der Schwiegermutter war es egal, solange sie nur um halb zwölf wieder da war, wenn ihr Mann sie abholen kam. Sie bereiteten sie schon mal schonend auf entblößte Brüste und Genitalien vor, was ihr auch egal war, solange ihr Gatte es nicht erfuhr.

Der Hinterhof war gerammelt voll. Das Publikum saß auf Stühlen und stand auf den schmiedeeisernen Treppen, die ins Vorder- und ins Hinterhaus führten. Alles war bereit — der Tunnel nach Nirgendwo mit den Vorhängen davor befand sich in der Mitte; den Eingang beleuchtete eine Neonskulptur. Rechter Hand stand die Dichterbühne und gleich hinter dem Tunnel der Wasserturm.

Und dann ging es los. Es war nett. Die Schwiegermutter, Marie und der D.B. saßen direkt am Geschehen in einer Stuhlreihe neben den renommiertesten Künstlern und Schriftstellern von Lower New York. Sam und John Barrett begannen ihre Gedichte zu schreien, und Cynthia Pruitt und einige andere nackte Künstler fingen an, im Kreis um den Tunnel nach Nirgendwo zu marschieren, wobei sie mit Taschenlampen Arabesken auf die Vorhänge malten. Mit einem Mal zischte es — ein Kurzschluss im Transformator, der die runde Neonskulptur um den Eingang zum Tunnel speiste, Funken flogen, und die Vorhänge fingen Feuer.

Kein Problem, sie wieder zu löschen. Harry kippte einige Eimer Wasser und Sand darüber. Das Event sollte eben weitergehen, als sich plötzlich die Beine des Wasserturms zu spreizen begannen, dann rutschten sie unter dem Krachen von splitterndem Holz weg. Der Turm enthielt die geheime Komponente des Happenings: sieben Tonnen Wackelpeter mit Himbeergeschmack.

Die Lichter zischten ein letztes Mal, es schäumte, ein Plopp!, ein Peng!, dann war es finster. Harry Summers lief mit einer Taschenlampe ins Chaos und die aufgeregte — und nackte — Cynthia Pruitt hinter ihm drein; sie versuchten die Leute zu beruhigen, als die Holzdauben des Wasserturms platzten und die Götterspeise aus dem Tank geschossen kam.

Eine Stimme brachte den allgemeinen Konsens der Versammelten auf den Punkt: »Bloß weg hier!« Dann begann die Stampede.

Die Schwiegermama sah sich von Marie und dem D.B. getrennt und fand sich schließlich neben Harry, der sie beim Arm nahm und ihr in die Hocke und in den Tunnel nach Nirgendwo half. »Der einzige Ort, wo wir sicher sind«, sagte er ihr.

Schreie waren zu hören und Harrys Taschenlampe fuhr wie wild hin und her. Die Schwiegermutter warf einen Blick auf das Schild über dem Eingang, als sie in den Tunnel zu krabbeln begann: EINTRITT $2, NACKTE UMSONST.

Was Harry und die Schwiegermama da betraten, war der legendäre »Tunnel der Neunten Straße«. Harry hatte ihn wiederentdeckt. Er hatte von ihm gehört, aber kein Mensch wusste, wo er sich befand; erst ein hundertjähriger Hausmeister aus der Avenue C hatte die Info für ihn. Er führte unter der Neunten Straße zu dem entsprechenden Hof auf der anderen Seite, und angeblich hatte er der Underground Railway zur Rettung von aus der Sklaverei entflohenen Schwarzen gedient.

Inzwischen traf massenhaft Polizei ein. Es wurde unheimlich auf der Straße: die blinkenden Lichter, Sirenen, das rasche Öffnen und Zuschlagen von Türen. Ein Notstandsgebiet. Wie es schien, waren die sieben Tonnen Götterspeise rasch ausgelaufen, und zwar gefährlicherweise in den Tunnel nach Nirgendwo. Darüber hinaus war offensichtlich auch noch ein Stück der Tunneldecke eingebrochen, und gleich am Eingang hatten sich im Hinterhof die Zementplatten gesenkt.

Die Feuerwehrleute versuchten, den Weg freizubekommen. Nur Sweat Brow Bill wusste, dass der Tunnel unter die Straße führte. Aber auch er wusste nicht, wohin. Er, der D.B. und Marie suchten die Straße ab, Lücke für Lücke, Keller für Keller, Flur für Flur, auf der Suche nach Harry Summers und der Schwiegermama. Wo steckten die bloß? Hatten Götterspeise und Steine die beiden erdrückt?

Dann tauchten aus der Dunkelheit der Straße Harry und die Gesuchte auf, kamen, über die kalten, nassen Schläuche steigend, am Spritzenwagen vorbei. Marie wischte sich eben die Freudentränen aus den Augen, als die Schwiegermutter sagte: »Wir bringen ein paar von Harrys Sachen bei uns unter, ein paar Requisiten.«

»Draußen in Queens?«

»Warum nicht? In der Garage haben wir Platz.«

T ALBOT GEHT NACH BIRMINGHAM

Um vier Uhr morgens klopfte es bei Sam. Talbot Jenkins stand draußen, zitternd, stotternd, eine Träne lief ihm langsam über die Backe und glänzte im Schein der Kerzen, die Sam mangels Stroms nachts ansteckte; als sie die Bartgrenze am Kiefer erreichte, machte sie einen jähen Schwenk und benetzte das Haar auf dem Kinn. Keine Spur von seiner bekannt coolen Art. Leise schimpfte er über etwas namens »Slage«, vielleicht auch »Slaize«, Sam war sich nicht sicher. Kurz bevor er wieder ging, wurden seine Worte deutlich und fest: »Ich bringe einen aus dem Klan um«, sagte er. »Hier ist ein Brief für meine Mutter, falls was schief geht.«

Sam sagte erst gar nichts. Er lebte nach der Maxime, das Verhalten seiner Freunde so selten wie möglich infrage zu stellen, und so kam das hallende Klicken von Talbots Absätzen schon vom unteren Ende der Treppe aus Stein und Metall, als Sam den Kopf schüttelte: Das ist doch Wahnsinn. Dann lief er auf die Straße hinunter. »Wie willst du denn da runterkommen? Brauchst du Geld?« Fieberhaft überlegte er nach einem coolen Weg, seinen Freund zu bremsen. Talbot antwortete nicht. »Vielleicht sollten wir im House of Nothingness bei einer Tasse Tee darüber reden, Mann. Die haben wahrscheinlich noch offen ...«

Talbot wollte sich nicht bremsen lassen. »Das Stück Scheiße jag ich in die Luft«, sagte er. »Genauso, wie sie die Mädchen in ihren Gewändern in die Luft gejagt haben.« Zu früh hatten sie die Ecke Vierzehnte und First Avenue erreicht, wo Talbot in der U-Bahn verschwand. Sam stand schweigend da und überlegte, was er machen sollte. Da war nichts zu machen. Talbot ging nach Birmingham und damit hatte es sich.

Sam ging an einem Kiosk vorbei, der die ganze Nacht offen hatte, und kaufte sämtliche Zeitungen — die Times, die Post, den Mirror und die Daily News — und ging dann rüber zum House of Nothingness, in den geharkten weißen Sand im Innenhof, wo man die Stühle auf die Tische zu stellen begann, während er über das Grauen las.

Die vier Kinder waren aus Ella Demands Sonntagsschule gekommen; das Thema der Stunde: »Liebe, die vergibt«. Sie waren in den Keller gegangen, um in ihre Chorgewänder zu schlüpfen, und saßen in weißem Satin auf dem Sofa, als es geschah.

Unvorstellbar — Kinder in ihren Chorgewändern in Fetzen gesprengt! Für Talbot Jenkins war es umso schrecklicher, als er praktisch in einem Chorgewand aufgewachsen war in Harlem, wo seine Eltern eine Kirche leiteten. Sein Vater war der Geistliche, seine Mutter stand dem Chor vor. Selbst jetzt noch legte Talbot hin und wieder seine Satinsachen an, um zu Ostern oder Weihnachten in der Messe zu singen.

Stunden, nachdem er mit Sam gesprochen hatte, hob Talbot Jenkins seinen Koffer auf eine hölzerne Barrikade vor der Baptistenkirche in der Vierzehnten Straße und starrte dann die zerschmetterten, bombengeschwärzten Reste der Buntglasfenster an. Er kochte vor Zorn. Er kniff die Augen zusammen, bis sie so gut wie geschlossen waren, und dachte an die Graffiti, die Gangs aus der Lower East Side neben ihren Namen an die Wände sprühten: »DTK« für »Down to Kill« — bereit zu töten. Genau das würde Talbot unten in Birmingham sein: DTK Leben für Leben, Dynamit für Dynamit.

Talbot ging hinein und fuhr dort mit den Fingern die gezackten Buntglasscherben in einem der Fensterrahmen entlang. Er kniete nieder, ohne die Finger von den Zacken zu nehmen, und sprach ein Gebet. Das Zittern, der Kummer, der Zorn vermengten sich mit dem Blut an seinen Händen, als er die Scherben umschloss.

In der Tasche hatte er einen Zettel mit einem Namen darauf: Ethrom Slage, Chef einer Ortsgruppe des Klans in der Nähe von Birmingham. Slage hatte damals, 1961, an dem Tag, als man auf einem Trailways-Bahnhof in Birmingham Talbots Bus mit Freedom Riders überfiel, ein Bleirohr geschwungen. Slage hatte Talbots angehender Karriere als Footballprofi mit einem brutalen Schlag aufs Knie ein Ende bereitet.

Talbot hatte Slages Namen von den Typen aus dem Justizministerium, die Kennedy im Frühjahr des Vorjahrs geschickt hatte, um die Demonstrationen zu verfolgen. Sie hatten sich lange geweigert, ihm Auskunft über die Identität des Mannes auf dem Foto zu geben, das Talbot ihnen zeigte, aber er war so hartnäckig, dass schließlich einer von ihnen Slages Namen auf den Zettel schrieb, der sich jetzt in Talbots Tasche befand.

Talbot hatte eine Sammlung von Fotos von Slage, wie er auf Demos über Leute herfiel. Slage schwang sein Bleirohr quer durch den Süden, obwohl Kennedys Justizministerium ihm mit einer Klage gedroht hatte, sodass er es ’63 nicht mehr ganz so offensichtlich trieb wie ’61. Talbots Ansicht nach hatte Slage umgesattelt und sich von Bleirohren auf Dynamitstangen verlegt. Aber damit war jetzt Schluss. Talbot war DTK.

Talbot besorgte sich eine Pistole, deren Herkunft nicht zu verfolgen war, und einen Wagen von jemandem, der nicht das Geringste mit den Bürgerrechtsgruppen der Stadt zu tun hatte. Falls man ihn erwischte, so wollte er nicht, dass jemand aus der Bewegung Probleme bekam.

Talbot brach auf einer Baustelle ein, wo er das Schloss wegschoss und einen Karton Dynamit mit einigen Sprengkapseln stahl. Er wusste, was er tat; er hatte mit seinem Onkel in der Bronx Abrissgebäude gesprengt. In dem Koffer, den er aus New York mitnahm, befanden sich Drahtrollen und ein batteriebetriebener Detonator.

Am späten Vormittag desselben Tages fuhr er an Ethrom Slages Farm einige Meilen außerhalb von Birmingham vorbei. Er hatte sich einen Wagen besorgt, der alt genug war, um damit eine Panne vortäuschen zu können, und hatte ein Zündkabel abgezogen, sodass er auf nur fünf Zylindern dahinhustete. Etwa hundert Meter weiter blieb er stehen, öffnete die Haube und prägte sich, während er vor sich hinbastelte, den Grundriss des Anwesens ein.

Er hatte eine unansehnliche Ansammlung halb verfallener Gebäude vor sich, darunter das Farmhaus der Slages, das an einer Ecke aufgebockt war; der Garten war ein Chaos: Automotoren auf Schlackensteinblöcken, eine Reihe von Eiskisten, die von Zielübungen mit Einschusslöchern übersät waren, ein Zinkzuber mit einer kurbelgetriebenen Wäschemangel mit narbigen gelben Rollen, stapelweise Radkappen, abgefahrene Treckerreifen und mehrere Generationen klappriger Sämaschinen, Eggen, ein Pflug. Hier und da in dem Durcheinander sah er kleine Kuhlen in der Erde, in denen sich wohl der Hahn bei heißem Wetter verkroch.

Gleich neben dem Haus steckten ein paar gefleckte graue Perlhühner hoffnungsvoll die Köpfe durch einen rostigen Gartenzaun, der nach hinten hinaus aus nebeneinander genagelten beschichteten Küchentischplatten bestand. Am Außenabort lehnten, wie Talbot später sah, bündelweise veraltete Flugblätter voller Hassparolen, die mit einer Plane abgedeckt waren.

Links vom Haus, eine Böschung hinab, stand eine Scheune, deren Dachbleche teilweise vom Wind aufgebogen oder gleich ganz fortgeweht waren. An der Tür unter dem Heuschober waren einige rosige, frisch gesalzene Waschbärenfelle zum Trocknen gespannt.

Auf den Teil des Gartens gleich hinter der Scheune hatte Talbot keinen Einblick, aber daran anschließend sah er einen Bach, an dessen gegenüberliegendem Ufer sich ein dichter Wald einige Hundert Meter weit einen steilen Hügel hochzog. Talbot schüttelte mehrmals ganz langsam den Kopf und presste die Zähne so fest aufeinander, dass ihm der Kiefer wehtat. Irgendwas stimmte da nicht. Er hatte eine Festung erwartet, nicht den Hof eines Losers. Die ungepflegten Gebäude mit ihren zerkratzten, von Beutelratten angenagten Türen konnten unmöglich das Zuhause eines Mannes sein, der so viel organisierten Schaden angerichtet hatte. Vielleicht war es nur eine Fassade, nicht das Zuhause von Slage, sondern nur Tarnung, vielleicht befand sich ein Bunker unter all dem vor sich hinfaulenden Kram. Talbot war sich sicher, dass es der richtige Hof war. Auf dem Briefkasten stand »Slage«, und er hatte alles dreifach geprüft.

Das Einzige, was womöglich auf eine Ortsgruppe des Klans hätte hinweisen können, war eine Funkantenne auf dem Dach, mit der Slage, wie Talbot zu Recht vermutete, den Sprechfunk der örtlichen Polizei abhörte. Wie Talbot sah, führte die Zufahrt hinter das Haus, und als er ans andere Ende seines Wagens ging, erspähte er eine neue Garage aus Schlackensteinblöcken mit einem Metalldach, das noch glänzte, weil es noch nicht gestrichen war.

Das Grollen eines kräftigen schwarzen Hundes mit einem zottigen braunen Bart um das Maul lenkte seine Aufmerksamkeit weg von dem Dach. Er sah nach einer Hälfte Dobermann und einer Hälfte Bluthund aus und lief, so weit seine Kette reichen wollte, im Hof hin und her, sodass die vordere Veranda und die Fenster bewacht waren. Sein Auslauf war ausgetreten wie ein Bachbett, und sein Knurren schien dummerweise gegen Talbot gerichtet zu sein. Genau gesagt stemmte er sich in seine Kette, und Talbot erwartete schon, Slage aus dem Haus stürzen zu sehen, um ihn zur Rede zu stellen. Talbot rief sich ins Gedächtnis, wo genau in seinem Ranzen er die Pistole verstaut hatte, nur für den Fall, dass er sich mit Slage im Vorgarten schießen musste.

Talbot hätte sich fast übergeben, als die Tür dann tatsächlich aufging! Ein vielleicht zehnjähriger Junge kam aus dem Haus und ging auf den Briefkasten zu. Er spähte zu Talbot herüber, während er die Post herausnahm. Sein Haar hatte die Farbe von unreifem Mais, und er trug es kurz bis auf zwei Locken, die er rechts und links in die Stirn gekämmt trug. Er war barfuß, und die Jeans waren um die Knie schartig abgeschnitten und ausgefranst. Er nahm die Post und ging zurück zum Haus, vorbei an dem hin- und herlaufenden Hund.

Talbot trottete davon, als wollte er Ersatzteile oder Hilfe holen. Als er außer Sichtweite war, bog er nach links ab und schlug einen Bogen durch den dichten Waldrand hinauf auf den Hügel hinter dem Hof. Von dort aus konnte er alles sehen. Dort, wo er zuvor keinen Einblick gehabt hatte, also zwischen der Rückseite der Scheune und dem Bach, erspähte er einen Schweinekoben und eine kleine Weide für Slages Kühe. Er machte sich eine Skizze davon.

So würde es gehen! Slage fütterte wahrscheinlich jeden Morgen die Schweine und ließ die Kühe hinaus auf die Weide, bevor er zur Arbeit ging. Er musste einfach irgendwo arbeiten — kein Mensch konnte von einem so jämmerlichen Hof existieren.

Auf der Hügelkuppe, auf der er stand, erspähte Talbot eine Scheune, die perfekt für eine Nachtwache war. Slage würde sein Vieh am frühen Morgen füttern kommen. Und damit hätte es sich. Bumm! Blut. Klan-Gedärme aus einem Klan-Bauch.

Yaş həddi:
0+
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298 səh. 31 illustrasiyalar
ISBN:
9783862870967
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