Gerade als Tarzan mit seinem Begleiter im Dunkel der Kaianlage verschwand, war eine tief in Schleier gehüllte Dame eilig in die enge Gasse eingebogen, nicht weit mehr von der Kneipe, die die beiden eben verlassen hatten.
Sie blieb stehen, sah sich um und schien befriedigt. Endlich war sie da. Sie fasste Mut und trat in die Winkelkneipe ein.
Halbbetrunkene Matrosen und »Kai-Ratten« blickten von ihren Tischen auf. Das war etwas Neues: eine vornehm gekleidete Dame hier mitten unter ihnen. Sie ging sofort auf die Kellnerin am Schanktisch zu. Die hatte bereits ihre glücklichere Schwester mit neidischem Blick aufs Korn genommen.
Haben Sie einen großen, gutgekleideten Herrn hier gesehen? fragte sie. Er muss vor einigen Minuten noch hier gewesen sein. Muss sich hier mit jemandem getroffen haben und dann mit ihm fort sein. Die Kellnerin bestätigte dies. Wohin sie gegangen seien, könne sie nicht sagen.
Ein Matrose hatte zugehört; er kam heran und versicherte, wie er gerade in die Kneipe hereingegangen, seien zwei Männer nach dem Kai fortgeschlendert.
In welcher Richtung? Die Dame drückte ihm rasch ein Trinkgeld in die Hand. Der Bursche zog sie sogleich auf die Straße. Sie wandten sich zum Kai und, wie sie so am Wasser entlang eilten, beobachteten sie, dass ein kleines Boot gerade in den dichten Schatten eines Dampfers untertauchte. Es schien nicht weit zu sein.
Da sind sie ja, flüsterte der Matrose ihr zu.
Zehn Pfund für ein Boot und wenn Sie mich gleich auf dies Schiff hinüberbringen! Wie ein Aufschrei klang das.
Schnell also, bestätigte er. Donnerwetter, das muss gut gehen, wenn wir die »Kincaid« noch fassen! Seit drei Stunden schon steht sie unter Dampf. Gerade auf den da haben sie noch gewartet. Ich hab’s gehört, vor einer Stunde. Da erzählte einer von der Mannschaft was … Mit diesen Worten waren sie am Ende der Kaimauer. Ein Boot war dort festgemacht; er half ihr hinein, schwang sich nach und ruderte los. Sie jagten nur so durch die Fluten dahin.
Am Schiff forderte der Mann sein Geld.
Sie zählte gar nicht, mit einem Griff drückte sie ihm ein Bündel Banknoten in die ausgestreckte Hand. Gleich der erste Blick mochte ihn überzeugt haben, dass er mehr als genug bezahlt sei. So half er ihr die Strickleiter hinauf, und wartete mit dem Boot dicht am Schiff. Das Geschäft sollte ihm nicht entgehen! Vielleicht würde die noble Dame auch wieder an Land zurückwollen?
Aber fast im gleichen Augenblick dröhnte die Hilfsmaschine, er hörte das Klirren einer Kette und das Knarren der Winde. Kein Zweifel, die »Kincaid« lichtete den Anker. Und schon setzten sich auch die Schrauben in Bewegung. Langsam glitt der Dampfer von ihm weg. Hinaus in den Kanal.
Er wandte sich, um zum Kai zurückzurudern. Da, eine Frauenstimme, ein Schrei. Das war auf Deck. Komische Sache! murmelte er vor sich hin. Ich sollte mir genarrt vorkommen, hätt’ ich nicht dieses hübsche Paketchen da.
*
Jane war oben an Deck angelangt. Die »Kincaid« schien völlig verlassen. Keine Spur von denen, die sie suchte; einfach nichts war zu sehen. Und doch, wozu sich aufhalten! Die Hoffnung beflügelte ihre Schritte, gewiss, die bloße Hoffnung, Mann und Kind hier wiederzufinden.
Sie stürzte nach der Kajüte,1 die halb über das Deck herausragte. Es ging eine kleine Treppe in den Hauptraum hinab, und auf der anderen Seite lagen sicher die kleineren Offizierskabinen. Sie stutzte. Vor ihr musste sich eben rasch eine Tür geschlossen haben, so klang es. Sie durchschritt den ganzen Hauptraum der Länge nach, dann dämpfte sie ihre Schritte. Sie horchte an jeder Tür und suchte die Klinke leise niederzudrücken. Still war es, unheimlich still. Nur ihre Nerven schienen aufs höchste gereizt. Wild pochte ihr zu Tode gemartertes Herz, und es wollte ihr vorkommen, als müsse diese wogende Stimme ihres Blutes wie ein mächtiger Alarm bis in alle Winkel dieses Schiffes dringen …
Eine Tür nach der anderen tat sich vor ihr auf, und immer wieder stand sie vor derselben unheimlichen Leere. Äußere Eindrücke schienen sie nicht mehr zu treffen. Sie merkte nicht, dass plötzlich Leben in das Schiff kam, dass die Maschinen stampften und die Schrauben das Wasser peitschten.
Die letzte Tür rechts stieß sie eben auf; da wurde sie von einem starken Männerarm gepackt. Finstere Blicke funkelten ihr entgegen, dann wurde sie in die Kabine hineingezerrt.
Bis ins Mark erschrocken über diesen plötzlichen und unerwarteten Überfall entrang sich ihrer Brust ein einziger durchdringender Schrei, dann presste der Rohling seine Faust auf ihren Mund.
Ruhe, du liebes Ding, du, herrschte er sie an. Erst wollen wir mal ein Stückchen weiter von Land weg sein. Kannst dir dann meinetwegen dein ganzes reizendes Herz aus dem Leibe schreien.
Die Lady drehte sich um. Sie sah einem struppigen Menschen dicht in die bösen Augen. Da ließ der Druck seiner Faust langsam nach. Ein neuer Schrecken durchzitterte sie. Das war der also – –. Sie wich zurück.
Nikolaus Rokoff! Herr Thuran! Sie hier? rief sie laut. Ihr gehorsamster Diener, erwiderte der Russe und verbeugte sich leicht.
Sie würdigte seine anzüglichen Schmeicheleien keines Wortes. Wo ist er? fragte sie kurz. Ich will ihn sehen. Nikolaus Rokoff, wie können Sie so grausam sein, eben Sie gerade? Kennen Sie keine Barmherzigkeit? Haben Sie denn nicht wenigstens ein Fünkchen Mitgefühl? Kommen Sie, sagen Sie mir, wo er ist. Ist er überhaupt hier an Bord? O, bitte, wenn Sie überhaupt noch ein Herz im Leibe haben, geben Sie mir meinen Jungen wieder!
Nichts soll Ihnen geschehen, wenn Sie meinen Befehlen folgen, entgegnete Rokoff. Übrigens: Es ist nur Ihre höchst eigene Schuld, dass Sie hier sind. Ich stelle fest, Sie sind aus freien Stücken erschienen. Die Folgen müssen Sie selbst tragen.
Er murmelte noch, ohne dass sie es hätte hören können, so etwas wie: Donnerwetter, solch verteufeltes Glück kann auch ich bloß haben … Dann ging er an Deck, nachdem er die Tür sorgfältig verschlossen hatte. Sie war gefangen. Tagelang ließ er sich nicht wieder sehen. Der Wahrheit die Ehre: Nikolaus Rokoff konnte das Seefahren nicht vertragen, und dieweil die »Kincaid« von Anfang an sich bei schwerster See vorwärtsarbeiten musste, lag der Russe in seiner Koje fest. Die Seekrankheit mochte ihn übel gepackt haben.
In der Zwischenzeit kam ihr nur ein und dieselbe Person zu Gesicht: Der Koch der »Kincaid«, ein ungeschlachter, wenig angenehmer Mensch, der regelmäßig das Essen brachte; er war Schwede und nannte sich Sven Anderssen. In seinen kleinen, blauen Augen lag immer ein unruhiges Flackern, das sich auch auf seine ganze Erscheinung übertrug. Katzenartig sein Gang, und dieser Eindruck verstärkte sich noch, weil er stets mit einem Küchenmesser im Schürzengurt auftauchte. Dazu war er schmutzig von oben bis unten. Das Messer schien übrigens so eine Art Abzeichen seiner Zunft zu sein. Nie konnte sie sich des Gedankens erwehren, dass es nur des geringsten Anstoßes bedurft hätte, sein noch harmloses Getue in eindeutige Bösartigkeit zu wandeln.
Obwohl er meist mürrisch daherkam, zwang sie sich doch immer zu einem leichten Lächeln. Auch ein paar Dankesworte versäumte sie nie, wenn er ihr das schlechte Essen brachte, das sie oft einfach durch die Lichtluke hinausbeförderte, sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Zwei Fragen hatten die arme Jane die langen qualvollen Stunden seit ihrer Gefangennahme immer und immer wieder beschäftigt. Wo mochte ihr Tarzan sein und wo der arme Kleine? Sie war fest überzeugt, dass das Kind auf der »Kincaid« sei, wenn anders es überhaupt noch am Leben war. Aber Tarzan? Wie sollte er noch unter den Lebenden sein können, hier, wo er gleichsam in des Teufels Küche geraten?
Sie wusste ja um den abgründigen Hass des Russen gegen ihren Mann, und nur so ließ sich diese Verschleppung hierher begreifen: Hier hatte man ihn sicher. Rache, Rache, galt es, denn er hatte es ja gewagt, Rokoffs Weg zu kreuzen und seine Schandtaten zu verhindern; er allein hätte es ja in der Hand gehabt, Rokoff wieder dem französischen Kerker zuzuführen.
*
Tarzan lag in seiner finsteren Haft. Hätte er nur ahnen können, dass sein Weib das gleiche Schicksal teilte, gerade in der Kabine über ihm!
Derselbe Schwede brachte auch ihm das Essen. Es war jedoch nichts aus dem Manne herauszubringen, so oft Tarzan auch ein Gespräch anzuknüpfen suchte. Erst hatte er erfahren wollen, ob das Kind an Bord wäre; doch auf jede derartige Frage kam immer nur dieselbe Antwort: Wird sich alles früh genug finden. Nur nicht so stürmisch! –
So ließ Tarzan nach einigen Versuchen das Fragen.
Wochen schienen Monate, der kleine Dampfer stampfte immer noch im gleichen Takt vorwärts, und vor beiden Gefangenen stand stumm die große Frage: Wohin? Wie lange noch? Einmal wurden Kohlen übergenommen. Man war vor Anker gegangen. Doch nach ein paar Stunden war das Schiff schon wieder auf der Fahrt, als müsse es ewig so gehen …
Einmal nur hatte Rokoff sich nach Jane umgesehen, seit er sie in die winzige Koje eingesperrt. Abgezehrt und hohläugig kam er angewankt. Ja, die Seekrankheit! Er wollte von ihr auch nur eine Unterschrift. Einen Scheck über eine hohe Summe heischte er, und als Entgelt bot er ihr sichere Rückkehr nach England, das heißt für ihre Person.
Nur wenn Sie dies für meinen Mann, mein Kind und für mich garantieren, entgegnete sie sofort. Das Doppelte sollen Sie dann in blankem Golde haben, sonst keinen Penny, nicht mal im Traume.
Sie geben einfach, was ich verlange, verstehen Sie! Und mit gesteigerter Wut fuhr er fort: Oder –, keines von Ihnen Dreien wird je wieder festen Boden unter die Füße bekommen, nicht einmal bei den Wilden. Ich möchte Ihnen doch nicht trauen, erwiderte sie. Wie kann ich auch? Ich habe ja nicht die geringste Gewissheit dafür, dass Sie nicht einfach mein Geld einstecken und dann doch rücksichtslos tun, was Ihnen gerade beliebt.
Darauf sagte er nur: Ich verlange, Sie tun einfach das, was ich befehle. Er wandte sich zum Gehen.
Aber denken Sie daran: Ich habe Ihr Kind in meiner Gewalt. Gut, wenn Sie das Wimmern solch eines kleinen, zu Tode gemarterten Geschöpfchens mitanhören können, nur zu! Trösten Sie sich dann gefälligst damit, dass das Kind – übrigens Ihr Kind – seine Qualen Ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken hat.
Nein, niemals, schrie sie. Sie …, Sie …! So unsagbar roh und grausam …!
Ich und grausam? entgegnete er. Sie sind grausam, Sie allein, weil Sie das Schicksal Ihres Kindes von einem Fetzen Geld abhängig machen.
Jane setzte einen hohen Betrag ein und gab Rokoff den Scheck mit der Unterschrift. Genugtuung lag in seinen Zügen, als er schmunzelnd die Koje verließ. Am nächsten Tage wurde der Lukendeckel zu Tarzans Häupten geöffnet; Pawlowitsch erschien mit dem Kopfe in dem Ausschnitt, durch den das Licht sich nur so hereindrängte.
Marsch, heraus, befahl der Russe. Aber Achtung! Bei der geringsten Tätlichkeit mir oder einem anderen gegenüber werden Sie einfach niedergeknallt.
Behänd schwang sich der Affenmensch an Deck. Ein halbes Dutzend Matrosen, mit Gewehr oder Pistole bewaffnet, bildete in einiger Entfernung einen Kreis um ihn. Pawlowitsch trat dicht an ihn heran.
Tarzans Blicke suchten Rokoff. Er musste an Bord sein. Jedoch vergeblich, er konnte ihn nicht entdecken.
Der Russe begann: Lord Greystoke, Sie haben sich fortwährend und ohne Berechtigung in Herrn Rokoffs Angelegenheiten eingemischt. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn Sie nunmehr dies Unheil über sich und Ihre Familie heraufbeschworen haben. Alles Ihr höchsteigenes Werk. Sie begreifen: Die ganze Sache hat Herrn Rokoff ein schweres Stück Geld gekostet. Ich meine diese ganze »Expedition« hier. Sie sind der allein Schuldige. Sie haben also für alle Kosten voll aufzukommen. Nur wenn Sie Herrn Rokoffs durchaus gerechte Forderungen erfüllen, können Sie das Schlimmste von Frau und Kind abwenden und sich selbst Leben und Freiheit sichern.
Wie viel wollen Sie? fragte Tarzan. Übrigens, wer garantiert mir denn dafür, dass ich überhaupt noch am Leben bleibe, wenn man meine Unterschrift erpresst hat? Ich dächte, ich hätte allen Grund, zwei solchen Schurken wie Ihnen und Rokoff nur mit Misstrauen zu begegnen.
Der Russe bebte vor Wut.
Mein Herr! Ihre Lage ist wohl nicht dazu angetan, dass Sie sich derartige Bemerkungen gestatten können. Im Übrigen muss Ihnen mein Wort schon als Sicherheit genügen. Andernfalls dürfen Sie glauben, dass wir ganz einfach mit Ihnen kurzen Prozess machen, sobald Sie nicht einen Scheck mit dem von uns gewünschten Betrag ausfertigen. Ich hätte Sie übrigens nicht für so töricht gehalten. Abgesehen von unserer offensichtlichen Überzahl müssten Sie bemerken, dass es für mich kein größeres Vergnügen geben könnte als hier einfach »Feuer« zu kommandieren. Warum wir davon absehen, das liegt in unseren anderweitigen Plänen für Ihre Bestrafung begründet. Ihr Tod würde da nur vorzeitig Schluss machen.
Eine Frage! sagte Tarzan. Ist mein Kind an Bord? Nein, gab Pawlowitsch zur Antwort. Ihr Kind ist in Sicherheit, aber nicht hier. Getötet wird es, sobald Sie unsere Forderungen verweigern. Sollten wir mit Ihnen Schluss machen müssen, läge kein Grund vor, Ihrem Kinde das Leben zu schenken. Das Kind würde nach Ihrem Tode eine neue Gefahrenquelle für uns bedeuten. Sie sehen also: Retten Sie sich, erhalten Sie auch Ihrem Kinde das Leben. Und Ihre Rettung hängt eben wie gesagt, ganz von dem Scheck ab, den wir verlangen.
Gut, erwiderte Tarzan. Er wusste, dass Pawlowitsch mit der einmal ausgesprochenen Drohung unbedingt Ernst machen würde. Als einzige Hoffnung blieb ihm immerhin die Möglichkeit, durch Einlenken wenigstens dem Kinde das Leben zu retten.
Über sein eigenes Schicksal nach Erledigung der rein geschäftlichen Wünsche war er sich jedoch völlig im Klaren. Wozu sich auch über das einzig Wahrscheinliche täuschen! So viel stand aber fest: Es würde selbstverständlich noch einen Kampf geben, an den sie in alle Ewigkeit gedenken sollten, und, wenn nicht alles schief ginge, – – den Pawlowitsch würde er mit ins Jenseits hinübernehmen. Zu schade nur, dass Rokoff nicht an dessen Stelle da war. Er nahm Scheckheft und Füllfederhalter aus der Brusttasche.
Wie viel wird verlangt? fragte er.
Pawlowitsch nannte einen märchenhaft hohen Betrag, sodass Tarzan kaum das Lachen verbeißen konnte.
Man wollte natürlich auf diese Weise herausbekommen, wie hoch das Lösegeld mindestens bemessen werden könne. Tarzan seinerseits suchte herunterzuhandeln, aber Pawlowitsch blieb fest. Schließlich schrieb der Affenmensch den Scheck aus. Der Betrag überstieg bei Weitem sein Bankguthaben, und damit wurde der Scheck ja wertlos!
Als er ihn dem Russen gab, ging sein Blick über Steuerbord. Überraschung spiegelte sich in seinem Antlitz: Land, nur einige hundert Meter weit. Tropisches Sumpfdickicht bis fast dicht ans Ufer und dahinter bewaldete Hügel.
Pawlowitsch hatte Tarzan beobachtet.
Jawohl, hier soll Ihre Freiheit wieder beginnen, sagte er.
Der Gedanke, nun sofort handgreifliche Rache an dem Russen zu nehmen, schoss jäh in Tarzan hoch. Dann dachte er: Dies Land hier ist ja mein altes bekanntes Afrika. Werde ich hier der Ketten ledig, dann will ich mir schon den Weg in zivilisierte Gegenden bahnen. Ganz wahrscheinlich kam ihm das vor.
Pawlowitsch nahm den Scheck.
Kleiden Sie sich aus, befahl er dem Affenmenschen. Hier brauchen Sie so etwas nicht.
Tarzan zögerte, doch deutete Pawlowitsch sofort auf die bis an die Zähne bewaffneten Matrosen. Langsam entledigte sich der Engländer seiner Kleidung.
Ein Boot wurde hinabgelassen und Tarzan unter schärfster Bewachung an Land gebracht. Nach einer halben Stunde war das Boot wieder zurück, und die »Kincaid« setzte sich langsam in Fahrt.
Tarzan blickte von dem schmalen Strande dem Schiffe nach. Dort war jemand an die Reling getreten und suchte sich durch lautes Rufen bemerkbar zu machen. Ab und zu waren Tarzans Blicke auf den Zettel gefallen, den ihm ein Matrose noch zuletzt zugesteckt hatte. Aber jetzt blieben sie mit einem Male haften an dem, was auf der »Kincaid« vorging: Ein schwarzbärtiger Mann hielt ein kleines Kind hoch in die Luft; sein höhnisches Gelächter übertönte das Rauschen der See. In Tarzan zuckte es auf, schon ging er mit dem Gedanken um, sich in die Brandung zu stürzen und schwimmend das Schiff einzuholen – –; aber er empfand auch sogleich die Aussichtslosigkeit rascher undurchdachter Tat – und blieb.
Keinen Blick wandte er vom Schiffe, bis es hinter einem Küstenvorsprung verschwunden war. –
Vom Dschungel hinter ihm starrten blutunterlaufene Augen unter buschigen Brauen böse auf den Neuling.
Kleine Affen schnatterten und kreischten in den Baumkronen, und vom Waldesinnern kam das Brüllen eines Leoparden.
Aber noch immer blieb John Clayton, Lord Greystoke, gleichsam taub und blind gegen alles, was um ihn vorging. Bittere Vorwürfe mochten ihn zerwühlen. Wie hatte er auch so leichthin dem glauben können, was der Handlanger seines Erzfeindes da an Bord versichert hatte! Ein einziger Trost, dachte er, bleibt mir: Jane ist in London sicher. O wie gut, dass sie wenigstens vor den Klauen dieser Schufte geborgen ist! Wie eine Katze auf die Maus hatte inzwischen jenes zottige Untier hinter Tarzan auf der Lauer gelegen. Jetzt schlich es vorsichtig näher.
Hatte der Affenmensch seine scharfen Sinne nicht mehr? Sein feines Gehör, seine untrügliche Witterung?
1 Wohn- und Schlafraum auf Schiffen <<<
Langsam entfaltete Tarzan den Zettel, den ihm der Matrose noch in die Hand gedrückt hatte. Er las, fast ohne dass sich die dunklen Schatten, die der Schmerz der letzten Stunde über ihn geworfen, sonderlich verstärkten. Dann aber kam ihm der niederträchtige Racheplan in seinem ganzen Umfange zu Bewusstsein. Der Wortlaut des Schriftstückes war folgender:
Diese Zeilen sollen Ihnen Klarheit über alles geben, was ich mit Ihrem Kinde und mit Ihnen vorhabe. Sie sind als Affe geboren, Sie lebten nackt im Dschungel. Also, jetzt sind Sie wieder dort, wo Sie hingehören, in Ihrer Heimat. Ihr Kind aber soll schon eine Stufe höher kommen als sein Vater. Das ist unabänderliches Naturgesetz.
Der Vater ein wildes Tier, der Sohn schon ein menschliches Wesen, allerdings auf der nächsten Sprosse der Entwicklungsleiter. Kein nacktes Dschungeltier, nein, er soll Lendenschurz und kupferne Fußspangen haben, vielleicht auch einen Ring durch die Nase. Wir wollen ihn einem wilden Kannibalenstamm zur Erziehung geben.
Ich hätte Sie ja töten können, doch damit würde ich doch nur das Maß der Ihnen zugedachten und wohlverdienten Strafe vorzeitig herabgesetzt haben. Einmal tot, könnten Sie sich leider nicht mehr quälenden Gedanken über die Lage Ihres Kindes hingeben. So aber werden Sie hier in Ohnmacht dahinleben; nie werden Sie von hier entrinnen, nie werden Sie nach Ihrem Kinde suchen oder ihm helfen können. Ärgeres als den Tod werden Sie in all den Jahren Ihres Lebens erleiden, so oft Sie sich des schreckenvollen Daseins Ihres Kindes erinnern.
Dies soll ein Teil Ihrer Strafe sein, weil Sie es wagten, sich mir in den Weg zu stellen.
N. N.
Nachschrift: Was an Ihrer Bestrafung noch fehlt, wird Ihre Frau auf sich nehmen müssen, und zwar ab heute. Ich überlasse es Ihnen, sich das auszumalen.
Kaum hatte Tarzan dies gelesen, als ihn ein schwaches Geräusch hinter seinem Rücken ruckartig in die raue Wirklichkeit zurückversetzte. Fast im Augenblick schienen seine Sinne wiedererwacht zu sein. Er war wieder der Affen-Tarzan.
Eine Wendung, und vor ihm stand ein ungeheurer Affe, halb zitternd aus einem gewissen Instinkt heraus, sich vor dem Unbekannten zu sichern, halb bereit, jeden Augenblick über ihn herzufallen.
Zwei Jahre war es her, seit Tarzan mit der geretteten Gattin Urwald und Wildnis verlassen. Ein wenig wohl mochte von seiner furchtbaren Kraft inzwischen geschwunden sein, die ihn einst zum unbesiegten Herrscher des Dschungels gemacht hatte. Viel Zeit und Mühen hatte er seinen Ländereien in Uziri widmen müssen, reich, ja überreich war das Arbeitsfeld gewesen, das sich dort seiner beinahe übermenschlichen Kraft eröffnet hatte. Aber nackt und waffenlos kämpfen sollen mit solch einem struppigen, stiernackigen Ungeheuer, wie es jetzt vor ihm stand: Nein, nicht einmal in den Jahren, da er nur die Wildnis gekannt, würde er über einen derartigen Gegner entzückt gewesen sein.
Doch was blieb ihm jetzt anderes, als dem rasenden Tiere mit den Waffen zu begegnen, die die Natur ihm verliehen!
Über des Ungetüms Schulter hinweg gewahrte Tarzan Köpfe und Schultern von zwölf oder noch mehr dieser furchtbaren Vettern urmenschlicher Wesen.
Doch wusste er wenigstens, dass die ganze Schar kaum geschlossen zum Angriff übergehen würde. Noch reichte ja der Verstand der Menschenaffen nicht so weit, um den Wert des »Alle gegen einen« überhaupt zu erfassen. Andererseits war er sich darüber im Klaren, dass sie lange genug die Gebieter jener Landstriche sein mochten, denn schreckengewaltig schienen ihm ihre drohenden Fäuste und wildfletschenden Fangzähne.
Mit tiefem Geknurr stürzte jetzt das Ungetüm auf Tarzan los, doch der Affenmensch hatte gelernt! Nicht bloß, was allgemein im Reiche der Zivilisation auf den Neuling abfärbt. Auch Kampfmethoden waren ihm vertraut geworden, die das Dschungeltier nicht kannte. Noch vor wenigen Jahren würde er roher Gewalt mit roher Gewalt begegnet sein. Jetzt wich er rasch dem anstürmenden Feinde aus. Ein Schritt seitwärts, das rasende Untier stürzte ihm nach, aber schon saß ihm ein Schlag der gewaltigen Rechten in der Magengrube. Ein Wutgeheul war die Antwort, und vor Schmerz gekrümmt sank der Menschenaffe zu Boden. Vergebens sein fast augenblickliches Bemühen, wieder auf die Beine zu kommen …
Sein weißer Gegner war mit einer raschen Wendung auch schon zur Stelle; wie ein Habicht stieß er auf ihn nieder, und die letzten Spuren oberflächlicher Zivilisation waren in jenem Augenblicke wie ein Mantel von des englischen Lords Schultern herabgeglitten.
Mit einem Male war in ihm wieder das Dschungeltier gleichsam neu erwacht im Ringen mit einem von seinesgleichen. Mit einem Male war er wieder Tarzan, Sohn Kalas, der Menschenäffin. Und seine scharfen, weißen Zähne gruben sich tief in des Feindes zottigen Hals. Die Schlagader! Kraft ballte sich in seinen Fingern, die mächtigen Nägel von seinem Körper abzuwehren, und dann sausten sie wie ein Dampfhammer auf seinen wutschnaubenden Feind hernieder.
Ringsum standen die übrigen seines Stammes, voll Erwartung und nicht ohne eine gewisse Belustigung. Sie knurrten Beifall, so oft die Fetzen flogen, aber still wurden sie vor Entrüstung und Spannung, als der gewaltige weiße Affe auf den Rücken ihres Königs lossprang, mit straffgespannten Muskeln ihn unter den Achseln packte und auf seinen feisten Rücken niederriss. Da lag der Affenkönig im dichten Dschungelgrase, hilflos, so sehr er sich auch unter wildem Gebrüll zu Wehr setzen mochte.
Und wie Tarzan damals vor Jahren, als er sich auf die Suche nach Geschöpfen seiner Art und Färbung gemacht hatte, jenen Terkop klein kriegte, so ging er jetzt mit demselben Griff, den ihm ein Zufall in jenem Kampfe offenbarte, auf dies neue gewaltige Ungeheuer los.
Schon mochte die kleine Schar wütender Menschenaffen das leise Knacken vernehmen, das sich unheimlich in ihres Königs schreckliches Jammergebrüll mischte.
Und dann gab es plötzlich einen Krach, als würde ein Baum, eben noch fest und trotzig in der Erde verwurzelt, vom rasenden Orkan geknickt wie ein Streichholz. Nach vorn sank das riesige Haupt, nieder auf die behaarte Brust. Schlaff die Halsmuskeln, zu Ende das Kreischen und Gebrüll …
Die kleinen »Schweinsaugen« der Zuschauer wanderten unschlüssig von ihres Führers regungslosem Körper zu dem weißen Affen. Der erhob sich und trat zur Seite. Und dann bohrten sich ihre Blicke wieder in die Gestalt ihres Königs, gleich als wunderten sie sich, warum er nicht aufspränge und diesen vermessenen Fremdling niederschlüge.
Sie sahen, wie der Neuling seinen Fuß in den Nacken seines Gegners setzte, – und der zuckte sich nicht! Tarzan warf mit einem Ruck sein Haupt zurück, und unsagbar wild entquoll seiner Kehle der gewaltige Affen-Ruf. Da wussten sie: der König war tot.
Und weithin trug der Dschungel jenen schrecklichen Siegerruf. Das Schnattern der kleinen Affen in den Baumkronen verstummte, es schwiegen die Stimmen der buntgefiederten Vogelwelt, und von fern her kam eines Leoparden klagende Antwort und das tiefe Brüllen eines Löwen.
Der alte Tarzan war’s, der seine Augen jetzt fragend auf diesen kleinen Affentrupp vor sich richtete. Der alte Tarzan, wie er jetzt sein Haupt schüttelte, als hätte er die Fülle seines Haares aus dem Gesichte zurückzuwerfen: Eine alte Gewohnheit aus den Tagen, da ihm das Haar in dichten schwarzen Strähnen bis auf die Schultern herabhing und ihm gar oft den freien Blick zu nehmen drohte, wenn es auf Leben und Tod ging.
Tarzan wusste, dass er mit sofortigem Angriff von einem der Überlebenden – es schien ihm, als sei dieser ganz besonders gut gebaut, ja als hielte er sich allein zum Kampfe um die Königswürde seines Stammes berufen – zu rechnen hatte. Es war ihm aber auch von früher her in der Erinnerung, dass man einen völlig Fremden bisweilen in die Stammesgemeinschaft aufnahm, ja dass dieser sich nach Erledigung des Königs sogar zum Stammesgebieter und Oberhaupt der alten königlichen Familie aufschwingen konnte.
Wenn er anderseits jetzt ihnen nicht zu folgen suchte, würden sie sich vielleicht auch wegschleichen, fort aus seinem Bereiche, und dann nur untereinander um die Führerschaft kämpfen … Dass er ihr König sein könne, wenn er nur wollte, so viel war ihm klar; nicht aber, ob er auch die mancherlei lästigen Pflichten, die notwendig mit dieser Würde zusammenhingen, auf sich nehmen wollte. Denn darin lag jawohl kein besonderer Vorteil.
Der Affe, noch jung, aber mit furchtbaren Muskeln gerüstet, rückte näher an ihn heran. Aus dem weitgeöffneten Munde blitzten stattliche Fangzähne, und ein tiefes, unwilliges Brummen ließ sich hören.
Wie in Stein gemeißelt stand Tarzan da. Keine Regung seines Gegenüber schien ihm zu entgehen. Einen Schritt zurückweichen? Oder sich vorstürzen? Beides würde wohl nur einen unmittelbaren Angriff auslösen, dachte er. Oder? Könnte er nicht auch so den Kampflustigen in die Flucht schlagen? Nun, das hinge eben alles von des jungen Affen Mut ab.
Ruhiges Abwarten schien ihm also der rechte Mittelweg zu sein. Brummend und zähnefletschend würde der Affe bis dicht an ihn herankommen, so fingen sie ja gewöhnlich an; er würde sich dann ganz vorsichtig um ihn herumzuschleichen suchen, immer darauf aus, seine Schulter zu packen. Und so kam es auch.
Sollte das ein besonders königlicher Trick sein, oder würde eine plötzliche Regung der immer unbeständigen Affennatur plötzlich und ohne jeden warnenden Laut den zottigen Koloß wie einen reißenden Wolf über seinen Gegner hereinbrechen lassen?
Das Ungeheuer kreiste. Tarzans Augen wichen keine Sekunde von ihm, denn, so jung es sein mochte: Es schien ihm vollauf ebenbürtig dem eben verendeten Stammeshaupt, ihn dünkte, es würde eines Tages ohnehin auch über jenen hergefallen sein. Wie wunderbar die Formen dieses Untiers, wie es so dastand und die kurzen gekrümmten Beine mit dem wuchtigen Leibe um mehr als zwei Meter überragte! Selbst in dieser Haltung reichten seine großen, dicht behaarten Arme bis zur Erde, und wie lang und scharf schienen gar die Fangzähne, als sie jetzt sich drohend Tarzans Gesicht zuwandten! Nur wenig Unterschied glaubte Tarzan zwischen diesem Stamm hier und den Affen, bei denen er seine Jugend zugebracht, zu bemerken.