Nach dem Mittagessen brach wieder einer jener stillen Nachmittage an, wie Rosa deren so viele erlebt hatte; der letzte – sagte sich Rosa heute.
Herr Herz schlummerte in seinem Sessel. Goldene Lichter zitterten über die Wand und den Fußboden hin; der Wind schüttelte an den Vorhängen. Von der Straße tönten Stimmen und Schritte herauf. Im Stadtgarten spielte die Musik, und zuweilen drang ein lustiges Aufschmettern der Hörner bis in die Herzsche Wohnung. Gegenüber, scharf von dem Rücken des Raserschen Daches abgeschnitten, stand das Stück tiefblauen Himmels, das Rosa stets blauer als der übrige Himmel erschienen war; die Schwalben schossen darüber hin und sandten sich ihre schrillen, lustigfreien Rufe zu.
Rosa lag im Fenster und schaute zu, wie die Leute zum Stadtgarten strömten. Lauter bekannte Gesichter, Menschen, die Rosa von Kindheit auf gesehen hatte – und doch! – wie fremd waren sie ihr jetzt. Gleichgültig gingen sie einher, sprachen, lachten, als hätte es für sie nie eine Rosa gegeben; in ihrem Leben hatte sich nichts geändert. Zum ersten Male stieg in Rosa der Gedanke auf, wie doch der Mensch in furchtbarer Einsamkeit mit sich selbst eingeschlossen ist. Ganz allein! – Sie warf ihren Kopf zurück und schaute aufmerksam sinnend über das Dach des Pfarrhauses hin. Was doch der heutige Tag für ungewohnte, bunte Gedanken brachte! Aber es ward ihr jetzt klar; was wusste denn einer vom andern? Da schlief ihr alter Vater bleich und kummervoll in seinem Sessel und ahnte nichts von den kühnen, abenteuerlichen Unternehmungen, die, kaum einen Schritt von ihm entfernt, seine Tochter plante, nichts von dem Schmerz, der fertig neben ihm stand. Nein, überall gesperrte Türen.
Rosa blickte wieder auf die Straße nieder. Es unterhielt sie jetzt, den Leuten nachzuschauen und sich bedächtig zu sagen: »Wie die sich den Arm reichen! Wie kameradschaftlich sie tun! Was hilft’s! Sie mögen sich noch so eng aneinanderschmiegen, es bleibt doch ein jeder allein – allein – allein«, dieses Wort hing sich an jede Person; es ward zum eigensinnigen Traum, der jede Gestalt verzerrt, und mitten im hellen, munteren Tageslicht beschlich es Rosa wie Grauen. Sie wollte aber nicht einsam sein; sie fürchtete sich. Wäre doch Ambrosius da; der liebte sie, vor dem brauchte sie sich nicht zu verbergen. Wenn man geliebt wird, ist man nicht allein, nicht wahr? Das ist eben die Liebe. – Sollte sie zum Trödler hinübergehen? Nein! Das durfte sie nicht. Dann wollte sie sich wenigstens auf das Wiedersehen mit Ambrosius vorbereiten; sie freute sich darauf und sehnte es herbei. Sie mochte nicht allein sein.
Sie ging in ihr Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch; der Brief an den Vater musste geschrieben werden. Einige Augenblicke saß Rosa vor dem Briefbogen, den Federhalter an den Lippen, und dachte nach, dann tauchte sie die Feder in die Tinte und schrieb – ruhig, in einem Zuge – den Bogen voll. Durch die halb angelehnte Türe hörte sie die tiefen Atemzüge ihres schlummernden Vaters; dennoch zitterte ihre Hand nicht im geringsten beim Niederschreiben dieser Zeilen, in denen jedes Wort ein Stich in das gute alte Herz sein musste, das jetzt – dort nebenan – so ahnungslos schlug.
»Liebster Papa!« hieß es in dem Brief, »wenn Du dieses liest, bin ich schon weit von Dir, ich hoffe, nur für kurze Zeit. Sie wollen mich hier nicht mehr; gut! Ich gehe. Ambrosius und ich lieben uns innig, und niemand soll uns scheiden. Wenn wir unlöslich verbunden sind, kommen wir wieder und holen Dich ab, damit Du unser Glück teilst. Wenn ich daran denke, wie selig wir zusammenleben werden, möchte ich aufjauchzen. Agnes muss auch mit. Dass ich heimlich fortgehe, verzeihst Du mir, lieber – lieber Papa, es ist zu meinem Glück nötig, denn dass ich glücklich werde, das verspreche ich Dir. Viele tausend Küsse. Auf baldiges frohes Wiedersehen. Deine treue Tochter Rosa. Sonntag, den 25. September.«
Rosa machte einen hübschen, sorgsamen Schnörkel unter ihren Namen, faltete das Blatt zusammen, schrieb »an Papa« darauf, steckte es in die Tasche.
Es war vier Uhr. Wie fern der Abend noch war. In fünf Minuten konnte sich noch soviel Störendes ereignen. Rosa packte ihre Habe in den Reisesack, verschloss ihn und versteckte ihn unter ihrem Bett. Das Reisekleid, Hut und Mantel legte sie zurecht. Alles war bereit. Nun zog sie sich das Kleid, das sie anhatte, aus und legte sich auf ihr Bett. So war es noch am leichtesten, den Abend zu erwarten. Rosa hätte jetzt vieles erleben, tun, unternehmen mögen und musste stillehalten wie ein krankes Kind. Nebenan regte sich der Vater – seufzte tief auf – begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Oh, den wollte Rosa glücklich machen – den armen Papa! – Jetzt schloss er den Kasten auf, um den schwarzen Rock hervorzuholen – jetzt bürstete er seinen Hut. Rosas Herz ward immer weicher, sie preßte ihr Gesicht in die Kissen und musste es sich immer wieder sagen, wie glücklich sie den armen Papa machen wollte.
Er kam an ihre Türe und steckte den Kopf in das Zimmer. »Schläfst du, Kind«, fragte er, »ich gehe fort.«
»Ja, ich schlafe.«
»Gut, Kind! Ich will dich nicht stören.« Er zog sich zurück.
»Adieu, Papa.«
»Adieu, adieu –« sagte Herr Herz schon im anderen Zimmer. Die Haustüre knarrte; er war fort.
Rosa stürzte an das Fenster, ihm nachzuschauen. Da ging er – fest in seinen schwarzen Rock eingeknöpft – eine schmale, kummervolle Gestalt.
Rosa musste zu Agnes gehen, um ihr zu sagen, dass sie kein Nachtmahl wolle und sich sogleich zu Bett legen werde. Sie fühlte wohl ein Bangen, das ihr Herz bedrückte, und eine tiefe Erregung, der sie nicht Raum geben wollte, schnürte ihr die Kehle zusammen, aber Reue oder Zaudern war das nicht. Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit erfüllte sie jeden Punkt ihres törichten Planes.
Agnes saß am Küchentisch und las in ihrem Gesangbuche. In der Küche herrschte Sonntagsordnung. Durch das geöffnete Fenster sah man auf den leeren Hof hinaus und über die Nachbardächer hin, auf denen die roten Abendstrahlen sprühten. Agnes fuhr langsam mit dem Zeigefinger die Zeilen in ihrem Buche hinab und bewegte tonlos die Lippen. Als Rosa eintrat, blickte sie auf.
»Agnes, ich gehe schlafen. Ich mag kein Nachtmahl. Ich habe Kopfweh«, sagte Rosa hastig. Als sie das vorgebracht hatte, blieb sie doch noch am Küchentisch stehen, der tiefe Frieden hier erschütterte sie. –
»Was gibt’s denn?« fragte Agnes. »Bist du krank?«
»Nein. Es ist nichts!«
»Doch, ich bringe dich zu Bett«, beschloss Agnes und legte ein trockenes Kastanienblatt als Lesezeichen in das Gesangbuch. Rosa aber wollte davon nichts wissen: »Ich bin schon so gut wie ausgekleidet. Nur schlafen will ich«, rief sie und lief davon. – Noch eine Stunde, und dann – – –
Was war sonst eine Stunde, wenn sie zwischen einer Geschichts- und einer französischen Stunde lag! Und heute wollte sie nimmer verstreichen.
Einen kurzen Augenblick war Rosas Zimmer jäh von dem roten Licht der untergehenden Sonne erleuchtet gewesen – dieses Aufflackern ward dann zu einem mattgelben, gespenstischen Schein, der das Herz verzagt macht, wie niedergebrannte Kerzen am Schluss eines Festabends.
Im Nebenzimmer sperrte Agnes den Schrank zu, rückte die Sessel an die Wand. Die Küchentüre ward zugeworfen, ein schürfender Tritt stieg die kleine Treppe hinan, die nach oben führte – dann ward es still; Agnes war zur Ruhe gegangen.
Während die Dämmerung auf die kleinen Räume der Herzschen Wohnung niedersank, lag das stille Mädchen hastig atmend da und starrte mit weit offenen Augen auf das Stück bleichen Himmel, das vor ihr vom Fensterkreuz in gleichmäßige Tafeln zerschnitten ward. Langsam verhängte die Dunkelheit einen Gegenstand nach dem andern im Gemach, nahm Rosa Stück für Stück ihre Vergangenheit, um sie atemlos und zitternd vor Aufregung vor eine unklare, dunkle Zukunft zu stellen.
Ein Lichtstrahl blitzte auf und warf einen schmalen Goldstreif auf den Bettvorhang. Unten auf der Straße ward die Laterne angesteckt. Ein zweiter Lichtstreif glitt über die Zimmerdecke hin. Das war drüben die Lampe des Pfarrers; und nun schlug es neun Uhr, Rosa sprang auf, legte ihr Kleid an, tastete nach ihren Sachen. Es kam ihr der Gedanke: Wenn du es versäumtest? Wenn Ambrosius schon fort wäre? Sie nahm sich nicht die Zeit, den Mantel zuzuknöpfen, die Handschuhe anzuziehen, sondern stürmte fort. Leise durchschritt sie das Wohnzimmer, das nur spärlich von der Lampe erhellt wurde, die gegenüber an des Pfarrers Fenster stand; und es war Rosa, als müsse sie hier besonders behutsam auftreten, um den trauten Raum nicht aus seinem Schlummer zu wecken, in dem er zu liegen schien. Dann durch die Küche. Hier war es finster. Einige Heimchen schrillten am Herde. Ihr durchdringender Ton erschreckte Rosa; klang er nicht so eigensinnig jammernd, als riefen Agnes’ kleine Kameraden ihr etwas Traurig-Mahnendes zu? Vorsichtig schob sie den Riegel der Hintertüre zurück, schlich die Treppe hinab und stand auf der Straße.
Die Nacht war dunkel und voll heftigen Wehens. Schwarze, wildausgefranste Wolkenstücke wurden von Westen her über den Himmel getrieben, zwischen ihnen glomm hie und da ein grell leuchtender Stern auf. Rosa schaute sich nach Ida um. Die Straße war leer.
Sollte Rosa auf das Judenmädchen warten? Vielleicht war es spät und Ida schon fort. Eine große Angst ergriff Rosa. Sie schaute zu den Fenstern des Pfarrers auf. Dort saß die Familie um den gedeckten Tisch, und die Magd trug das Essen auf. Also schon beim Nachtmahl. Ja, es musste spät sein. Gott, zu spät vielleicht und alles war aus, Rosa musste bei den friedlichen Familien, den blauen Porzellantellern, den Schüsseln voll dampfender Erdäpfel bleiben. Sie begann zu laufen – die Straße hinab, um die Ecke in den Stadtgarten. Leute, an denen sie vorüberlief, blieben stehen und schauten ihr verwundert nach. Da war schon der Fluss, schwarz und laut rauschend – da die Brücke, dort das Lichtpünktchen musste das Fenster des Brückenkruges sein. Auf der Brücke fasste sie der Wind so heftig, dass sie sich am Geländer halten musste, sie fürchtete sich, und doch, hier wehte schon die freie, mächtige Luft, nach der sie sich sehnte, nur wünschte sie, Ambrosius wäre schon da.
Der Brückenkrug war das einzige Haus am jenseitigen Flussufer, eine ärmliche, schmutzige Kneipe. An den Pfosten vor der Türe hatte man ein Pferd gebunden, mit vorgestrecktem Kopfe, zurückgelegten Ohren stand es da und ließ den Wind in seiner Mähne wühlen. Die Haustüre stand offen, und man blickte von draußen in die Schankstube hinein. Am Tisch saß ein Mann mit breitkrempigem Hut und trank, neben ihm saß die Wirtin, die Ellenbogen beide auf den Tisch gestützt, die Augen halb geschlossen. Vor ihr brannte eine Unschlittkerze und flackerte, als wollte sie verlöschen. Auf der Türschwelle hockte eine schwarze Katze, rieb ihren Rücken an den Türpfosten und blinzelte verstimmt in die Nacht hinaus.
Rosa blieb stehen und schöpfte tief Atem. Dieses war ja doch der bezeichnete Ort? Wo war denn Ambrosius? Sie ging um das ganze Gebäude herum. Alles still. »Es hat ihn etwas abgehalten«, sagte sie sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen den dünnen Stamm eines Ahornbaumes, der vor dem Hause stand. Die Gründe, warum Ambrosius nicht da war, stellten sich reichlich ein. Unbequem war es gewiss, aber er musste ja gleich kommen. Natürlich! Es war ganz unmöglich, dass er nicht – –; nein! Das war nicht möglich. Ganz ruhig wollte sie warten.
So stand sie da und blickte unverwandt auf das trübe Bild dort in der Wirtsstube; sie mochte an nichts denken. Aufmerksam betrachtete sie die rot und grauen Würfel auf dem Kamisol der Wirtin, lauschte gespannt dem trockenen Ton, den das Glas verursachte, wenn der Fremde es auf den Tisch zurückstellte, interessierte sich für die arg bedrängte Flamme der Kerze. »Wird sie verlöschen oder nicht? Jetzt ist sie nah daran. Nein, sie flackert wieder auf Brennt sie fort, so kommt Ambrosius.« Nun bekam dieses trübgelbe Licht für Rosa eine seltsame Wichtigkeit. Oh, sie war tapfer, die arme Flamme, aber Ambrosius kam dennoch nicht. »Er wird nicht kommen«, diesen Gedanken wagte Rosa nicht zu denken; das durfte sie nicht. Sie schloss die Augen und zählte. War sie bis Hundert gekommen, dann musste er da sein, und je näher sie dem Hundert kam, um so langsamer zählte sie: »Fünfundsiebzig – sechsundsiebzig – siebenundsiebzig.« War das nicht Wagenrollen? Nein! Sie wollte die Augen nicht eher öffnen, als bis die Hundert voll waren. »Achtundsiebzig – neunundsiebzig – achtzig« – dann wollte sie die Augen aufschlagen – er würde vor ihr stehen. »Einundachtzig.« Während sie fortzählte, glaubte sie immer wieder Schritte, Stimmen zu vernehmen, mit jeder Zahl stieg die Hoffnung, und dennoch wagte sie es nicht, die verhängnisvollen Hundert zu nennen. »Siebenundneunzig – achtundneunzig – neunundneunzig« – sie hielt inne. – »Hundert.« Sie glaubte schon Ambrosius’ Nähe zu fühlen, sah ihn vor sich stehen und lächeln. Sie schlug die Augen auf. Immer noch schlummerte die Wirtin über den Tisch gebeugt neben dem Fremden, immer noch kämpfte die Flamme mit dem Zugwinde, nur die Katze war bis zu Rosa herangeschlichen, machte einen krummen Rücken und miaute leise – sonst alles hoffnungslos unverändert und leer. Rosa preßte die Hände aneinander und betete: »Lass ihn – ach, lass ihn kommen! Lieber Gott, mir das noch!« Dann ward sie von bitterer Mutlosigkeit ergriffen, die Arme sanken schlaff herab, sie drückte sich fester gegen den Baum. Was auch geschehen mochte, sie wollte hier stehen.
»Fräulein Rosa!« erscholl es neben ihr. Sie schreckte zusammen, das war Idas Stimme. Ein warmes, ungestümes Freudengefühl erfüllte Rosa wieder. Es war töricht gewesen, so zu verzweifeln.
»Ida, bist du es? Das ist recht. Warum bliebst du so lange aus?«
»Der Herr von Tellerat schickt mich mit einem Brief«, berichtete Ida.
»Ein Brief; wozu? Ich soll wohl warten«, sagte Rosa hastig und ergriff den Zettel, den Ida unter ihrem Tuche hervorholte. Sie eilte an das Fenster der Kneipe, um bei diesem spärlichen Lichte den Brief zu lesen. Er enthielt nur wenige, mit Bleistift geschriebene Zeilen:
»Liebchen! Der verdammte Jude hat meinem Onkel alles verraten. Vorläufig ist es aus mit unseren Plänen. Morgen bringt mich der Onkel selbst zu meinen Eltern. Dein unglücklicher A–.«
Rosa hatte sogleich alles begriffen. Das war es also, was sie die ganze Zeit über gefürchtet hatte; nun war es da – das Unmögliche. – Drinnen in der Wirtsstube rüstete sich der fremde Mann zum Aufbruch und zog seinen Mantel fester um die Schultern, während die Wirtin ihm die Rechnung mit Kreide auf den Tisch schrieb. Rosa schaute dem zu; sie hatte ja nichts mehr zu tun. »Ob der Mann auf dem Pferde dort fortreiten wird? Wahrscheinlich! Dann kann die Wirtin schlafen gehen, das arme gequälte Licht auslöschen.«
»Fräulein Rosa!« Ida zupfte Rosa am Mantel. »Sie müssen nach Hause gehen, sonst wird das Haustor gesperrt.«
Nach Hause! Dieses Wort traf Rosa wie eine neue Offenbarung des Elends. Freilich musste sie heimgehen, sich in ihr Bett legen – wie sonst! Sie lehnte sich an die Mauer des Hauses und schluchzte laut. Ida blickte neugierig das weinende Mädchen an; dann griff sie entschlossen nach Rosas Arm und führte sie fort. Rosa folgte ihr. Was lag daran, es war ja doch alles verloren. Vor der Herzschen Wohnung verabschiedete sich Ida. »Gute Nacht«, sagte sie und streichelte unbeholfen Rosas Arm. »Weinen Sie nicht, Fräulein Rosa. Ein anderes Mal wird es besser gehen. Hier ist Ihr Reisesack, hier die Stiege. Gute Nacht.«
In der Küche war es still geworden, die Heimchen schwiegen alle; im Wohnzimmer lag noch der Lichtstreif über der Decke; Rosas Brief lag unberührt auf dem Schreibtisch – und der nächtige Friede, die langgewohnte Luft der Räume bedruckten Rosa mit bleierner Traurigkeit. In hilflosem Jammer sank sie auf ihren Reisesack nieder, stützte den Kopf auf einen Stuhl – – es war ja doch alles vorüber!
Für die Familie Lanin war es ein schlimmer, niederdrückender Augenblick, als die schönen lederüberzogenen Koffer auf den Postwagen gepackt wurden und Ambrosius, in seinen neumodischen Mantel gehüllt, Abschied nahm. Der Tante küsste er sehr obenhin die Hand und erwiderte ihr sanfternstes »Gott behüte dich« nur mit einem grimmigen »Hm!« Fräulein Sally reichte er kühl zwei Finger und stieg in den Wagen, in dem Herr Lanin mit feierlicher Trauermiene schon seiner harrte.
Sally brannten die Tränen in den Augen. Sie schaute dem Wagen nach, bis er um die Ecke bog, und auch dann noch blieb sie am Fenster stehen und starrte betrübt hinaus. Was half es ihr nun, dass sie keine so gemeine Person war wie Rosa Herz? Was hatte sie davon? Der Cousin, auf den sie sich so gefreut, mit dem sie die besten Absichten gehabt hatte, war ihr vor der Nase weggeschnappt worden, und zwar auf die schändlichste Weise. Ihr blieb nur gesittete Langeweile. Die andern – die Schlechten hatten ihre Liebes- und Entführungsgeschichten. Sally konnte an Rosa nicht ohne ein beklemmendes Neidgefühl denken. Ihr Vater hatte ja vielleicht recht, wenn er sagte, man müsse sich die Achtung vor sich selbst, das Gefühl des eigenen Wertes bewahren. Sally kannte ihren eigenen Wert ganz genau, dass die andern ihn aber nicht erkannten, das war bitter. Sie wollte auch so etwas wie die andern Mädchen haben, um jeden Preis! Sie hätte es auf die Straße hinausrufen mögen. Die Stirn gegen die Fensterscheiben gedrückt, dachte sie nach. Conrad Lurch war entlassen worden, der Vater suchte einen Neuen. Aber – weiß es Gott, wann der kommen würde, und Sally hatte Eile.
Gestern bei Klappekahl war getanzt worden, weil sich, wie der Apotheker sagte, zufällig doch einige junge Leute zusammengefunden hatten, und mit Sally hatte Toddels auffallend häufig getanzt. Gewiss, es war auffallend gewesen, das gab selbst Ernestine zu, und die fand doch sonst nicht so leicht, dass jemand anderer als sie ausgezeichnet wurde. Und dann während der Quadrille hatte Toddels die Augen so seltsam innig verdreht. Er verdrehte zwar immer die Augen, aber doch nicht so stark. Sich verneigend, hatte Toddels gesagt: »Fräulein Sally, Sie kommen nie mehr zu uns ins Geschäft. Sie kaufen nie mehr bei uns.« Worauf Sally, den Kopf auf die Schulter neigend, wie sie das so hübsch verstand, geantwortet hatte: »Nein! Es macht sich nicht so. Ich weiß selbst nicht warum.« – Das war doch keine gewöhnliche Quadrille-Unterhaltung! Dahinter steckte mehr, steckte etwas, das Sally gerade jetzt herbeisehnte.
»Ich gehe zu Toddels ins Geschäft«, beschloss sie.
Sorgsam setzte sie sich vor dem Spiegel den Hut auf, fuhr mit der Hand durch die drallen Löckchen, damit sie ihr freier, lebhafter um die Ohren flatterten, und ihr Gesicht ganz nah an das Spiegelglas heransteckend, musterte sie ihre Haut, ob nicht über Nacht eines der boshaft roten Pünktchen geboren wäre, die sie so sehr hasste. Natürlich, oben an der Nasenwurzel saßen ihrer zwei. »Das ist ein Ekel!« meinte Sally, wandte ihrem Spiegelbilde ärgerlich den Rücken zu und ging hinaus.
Es wehte eine kühle, scharfe Luft. Der Wind jagte gelbe Herbstblätter durch die Gassen. Die strenge Klarheit des Himmels, das harte Licht der Sonnenstrahlen, die heute nicht wärmen wollten, stimmten Sally traurig. Die Welt erschien ihr leerer und ihr eigenes Leben öder als sonst. Ja, ja! Sie musste etwas für sich tun, oh, der Winter kam mit seinen langen, finstern Nachmittagen voll unerträglicher Langeweile. Der Sekretär ging vorüber und grüßte. Sally dankte, neigte den Kopf, machte einige kleine Bachstelzenschritte. Das tat ihr wohl. Der Gruß, dieses mädchenhafte Verneigen, das gewandte Trippeln gaben ihr ein angenehmes Gefühl ihrer jungfräulichen Reinheit. So schüchtern-zierlich konnte Rosa Herz sicherlich nicht mehr grüßen! Sally fing wieder an, ihrer Tugend froh zu werden.
Das Geschäftslokal des Herrn Paltow lag im tiefsten Frieden da; ein langer, schmaler Raum voller Sonnenschein. Die großen Stücke blauer, grüner, roter Stoffe füllten die Leisten bis zur Decke hinauf wie mit einer Stufenfolge sanftgefärbter Schatten, aus denen hier und da der helle Streif eines Musselins oder Leinenstückes hervorleuchtete. Toddels schlief, den Kopf auf den Ladentisch gestützt.
Verlegen blieb Sally an der Türe stehen. Auch hier, wo sie das schöne Ereignis ihres Lebens suchte, fand sie dieselbe öde, alltägliche Stille, der sie im Laninschen Wohnzimmer entflohen war. Enttäuscht wollte sie umkehren, als Toddels erwachte, sich hastig aufrichtete und ihr, vom Schlaf ein wenig entstellt, zulächelte.
»Oh, Fräulein Lanin! Welch seltene Ehre! Womit kann ich dienen?«
Und die Hand zart an die Lippen legend, gähnte er diskret.
»Ich störe«, sagte Sally und machte einige unschlüssige Schritte zum Ladentisch hin. »Ich wollte nur um einen halben Meter grünes Band bitten.«
»Sie, Fräulein Sally, können nie stören«, erwiderte der Kommis galant und langte eine weiße Schachtel unter dem Ladentisch hervor, öffnete sie jedoch nicht, sondern streichelte sanft den Deckel. »Sie sind recht grausam, Fräulein!« sagte er gefühlvoll.
»Ich? Wieso?« Sally war wieder im rechten Fahrwasser der kurzen, bedeutungsvollen Redensarten, bei denen man den Kopf zur Seite neigt und unter den halb niedergeschlagenen Augenlidern hervorschielt. Das war ihr Fach.
»Ja – grausam«, fuhr Toddels fort und schob sich seine Locken zurecht, die er im Schlaf zerdrückt hatte. »Denn Sie haben es mich gleich empfinden lassen, dass Sie mich schlafend angetroffen.« Sally spielte nachdenklich mit ihrem Portemonnaie; Toddels aber seufzte, sah zur Decke empor – er glaubte, entschuldbar zu sein. Fräulein Lanin verstand ihn vielleicht. Sein Los war nicht glücklich! O nein! Das ewige Einerlei seiner Beschäftigungen ertötete seinen Geist. Er liebte Literatur und Kunst; er schwärmte dafür.
»Besonders Literatur!« schaltete Sally ein und versuchte den Deckel der Schachtel aufzuheben. Toddels’ Hand aber lag fest auf ihm, während er selbst auseinandersetzte, wie eng und beschränkt sein Prinzipal sei – voll kleinlicher Schikanen. Wenn Toddels um einige Minuten zu spät ins Geschäft kam, mein Gott – er las die Nächte hindurch –, gleich gab es eine Nase. Der gefühlvolle Märtyrerton, in dem er bisher gesprochen hatte, ging allmählich in das leise, hastige Flüstern eines Untergebenen über, der schlecht von seinem Herrn spricht. Sally nickte mitleidig. Ging es ihr denn besser? Ward sie vielleicht verstanden? Ach, sie begriff es mit jedem Tage mehr, dass das Leben nur ein Possenspiel sei! Ja, Toddels gab ihr recht. Er war auch Pessimist. Er glaubte ans Nirvana. »Und ich glaube an die Liebe«, versetzte Sally und öffnete ihr Portemonnaie. An die Liebe? Oh, an die glaubte er auch; natürlich! Er kniff die Augenlider zusammen und lächelte bei dem süßen Worte. »Ja – ja«, sagte er nach einer kleinen Pause und öffnete müde die Schachtel. »Grünes Band wünschen Sie, Fräulein?«
»Ja, grün ist meine Lieblingsfarbe, die Farbe der Hoffnung«, versetzte Sally und prüfte mit dem Finger das Band in der Schachtel.
»Hoffnung – natürlich!« entgegnete Toddels und befühlte auch seinerseits das Band. So standen sie über die Schachtel gebeugt und wussten nichts rechtes mehr zu sagen.
Endlich ließ Toddels das Band fahren, und er fasste behutsam mit dem dritten und Zeigefinger Sallys kühle, spitze Finger, als nähme er mit einer Zange ein Stück Zucker. Sally überließ steif ihre Finger dieser Zange. Jetzt kam auch für sie die Poesie des Lebens, das fühlte sie wohl. Die Stille des Ladens hatte, ihrem Gefühl nach, etwas köstlich Lüsternes – der Geruch von Wollenstoffen und frischer Pappe stieg ihr angenehm zu Kopf. Sie hätte gewünscht, lange – lange so stehen zu dürfen – über den gelben Ladentisch gebeugt – im Strahl der untergehenden Sonne – ihre Finger gehalten von Toddels’ Fingern. Es kam jedoch zu nichts. Toddels ließ Sallys Hand plötzlich fallen und fragte: »Passt die Breite?«
»Ja, ich denke.«
»Wieviel doch?«
»Einen halben Meter.«
Die Eingangstüre knarrte, und Fräulein Katter trat in den Laden, gefolgt von ihrem Dachs. Toddels war entrüstet – er stützte die geballten Fäuste auf den Tisch, schlug mit den Füßen aus und fragte, so rau, als es seine Stellung ihm erlaubte: »Sie wünschen?«
Fräulein Katter ging auf diese Frage nicht sogleich ein; freundlich sagte sie: »Guten Abend, Herr Toddels. Sehen Sie doch, wie der Max bei Ihnen herumsucht. Er glaubt, hier muss irgendwo Zucker versteckt sein. Hier ist kein Zucker, Maxchen – mein kleiner, kleiner Hund. Was, Sie hier, Sallychen? Einkaufen – wie?« Sally grüßte in ihrer mädchenhaft zurückhaltenden Weise; Fräulein Katter aber trat nahe zu ihr, legte ihre Hände in den grauen Halbhandschuhen auf Sallys Arm und fragte leise: »Also mit Rosa Herz – ist’s wahr?«
»Ja –« Sally zog die Augenbrauen empor, zum Zeichen, dass die ganze Geschichte sie nichts anging. »Wenigstens wurde es gestern auf der Soirée bei Klappekahl erzählt.«
»Schrecklich!« meinte die alte Dame. »Also fortlaufen wollte sie mit ihm. So weit waren sie schon miteinander? Ist so etwas erhört!« Das weiche, gebogene Kinn wackelte zwischen den violetten Hutbändern vor Erregung. »Aber sagen Sie doch, Sallychen – Sie haben ja die Geschichte entdeckt – hör ich?«
»Ja«, sagte Sally kühl. Sie machte sich nichts aus diesem Ruhm.
»So – so. Nun was sahen Sie«, fuhr Fräulein Katter fort. »Geküsst haben sie sich – natürlich, das hab ich schon gehört. Aber hat er sie auch so – angepackt, wissen Sie?«
Sally wusste es nicht. »Ich kümmere mich um diese Dinge nicht.«
»Selbstverständlich! Ein so gut erzogenes junges Mädchen! Aber entsetzlich ist doch die ganze Geschichte. Was wird nun aus der Armen?«
»Wer kann das wissen!« Sally zuckte die Achseln – es war ihr gleichgültig. Sie schielte nach ihrer Nase, um zu sehen, ob diese nicht rot sei – das war ihr wichtiger.
»Der Schank«, meinte die alte Dame, »wird die Geschichte zu Herzen gehen. Ich bin auf dem Weg zu ihr.«
Da Sally sich ostentativ dem grünen Band zuwandte, musste Fräulein Katter sich zu Toddels bemühen, um von ihm einen Meter Madapolam zu begehren. Sie war sehr genau. Toddels musste immer wieder die Leiter hinansteigen und neue Stücke herabholen. Er war bleich vor Zorn, schlug mit dem Meterstock klatschend auf die Stoffe und bemerkte streng: »Sehr feine Ware. Einen besseren Stoff wird die Dame schwerlich finden.« Die Dame jedoch konnte sich nicht entscheiden; sie wollte wiederkommen. »Sehr wohl«, rief Toddels erleichtert, bog gewandt und gelenkig um die Ecke des Ladentisches und öffnete Fräulein Katter die Türe.
»Komm, Maxchen, mein kleines Tier. Grüßen Sie Ihre liebe Mutter – Sallychen. Guten Abend, Herr Toddels. Das eine Stück hat mir nicht ganz missfallen.« Damit war das alte Fräulein fort. Sally schaute sich nicht um. Sie hörte, wie Toddels mit den Füßen scharrte, die Türe schloss – jetzt knarrten seine Stiefel ganz leise. Er stand neben ihr, das fühlte sie. Nun musste es doch zu etwas kommen. Richtig! Etwas Heißes, Feuchtes berührte ihren Nacken. Das war also ein Kuss – gut! Toddels legte seinen Arm um Sallys schlanke Taille und drückte sie so fest, dass das Mieder krachte. »Ich habe schon oft an die Ehe gedacht. Sie nicht auch?« flüsterte er mit vor Aufregung rauer Stimme.
»An so etwas!« erwiderte Sally, das Gesicht tiefer in die Schachtel steckend.