Kitabı oxu: «Spurlos», səhifə 2

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7

Andrea trat durchs Gartentor, blieb auf dem Plattenweg stehen, betrachtete das kleine Haus. Bald würde auch hier ein Schild hängen: Zu verkaufen. Ning suchte eine Wohnung, und sie selber würde nie zurückkehren. Zu viele Erinnerungen belasteten diesen Ort. Ihre Jugend, der Tod der Mutter, die sich nie wohl gefühlt hatte in der Stadt, der Vater, als Polizist immer unterwegs.

Sie hörte Stimmen. Die Haustür sprang auf, Ray stürzte heraus, Nings Sohn, die Schulmappe unterm Arm. «Andrea!» Er liess die Mappe fallen, sprang an ihr hoch, klammerte sich an ihren Hals mit seinen dünnen Armen und küsste sie heftig auf beide Wangen. «Ray, gross bist du geworden. Du wirfst mich um!»

«Du bist doch stark, Andrea!» Er lachte laut, küsste sie nochmals.

«Musst du nicht zur Schule?»

«Schule? Oh, ich komme zu spät!» Ray liess sie los, packte seine Mappe und hüpfte über die Platten davon. Seine Mundart klang, als hätte er nie irgendwo anders gelebt als in diesem Arbeiterquartier der Stadt. Das Hüpfen auf einem Bein über jede zweite Platte war ein Spiel, das ihm Andrea beigebracht hatte.

Ning lud sie zum Tee ein. In ihrem Gesicht war weder Trauer noch sonst ein Gefühl zu lesen. Sie trug kein Schwarz, das war in ihrer Heimat wohl nicht üblich. Wie immer zeigte sie ihre liebenswerte lächelnde Maske. Trotzdem glaubte Andrea, dass auch sie traurig war über Roberts plötzlichen Tod.

Nach dem Tee legte Andrea die Verträge des Maklers auf den Tisch, der das Haus verkaufen würde. Ning blätterte sie durch, stellte keine Fragen, unterschrieb, ohne zu zögern. Sie war mit allem einverstanden, was Andrea vorschlug. Ein Testament hatte Robert nicht verfasst, sie hatten beschlossen, nach Gesetz zu teilen. Die Hälfte die Tochter, die Hälfte die Ehefrau. Ein Glück, dass beiden Geld wenig bedeutete.

«Hast du eine Wohnung gefunden?», fragte Andrea.

«Wohnung und Arbeit.»

Ning half seit einiger Zeit in einem Hotel an der Rezeption aus, sie hatte gut Deutsch gelernt, sprach neben ihrer Muttersprache auch Englisch und etwas Chinesisch. Das Hotel offerierte ihr eine Teilzeitstelle. Andrea hatte das Gefühl, Roberts Tod habe sie von einer Last befreit, obwohl sie ihn sehr gern gehabt hatte. Seinen «Schutzengel» hatte er sie genannt, und ihren Sohn Ray den «Sonnenschein meines Alters».

Ihr Blick fiel auf das Sofa, auf dem ihr Vater eingeschlafen war. Es stammte aus der Aussteuer ihrer Mutter, die Federn hingen durch, der Lack der hölzernen Armlehnen war zerkratzt. Die Sitzbank, der Clubtisch, der Kachelofen mit der Messingtür, alles erinnerte sie an früher. Selbst der Geruch seiner Zigarren hing noch in den Vorhängen und Polstern. Sie raffte die Verträge zusammen und steckte sie in ihre Hängetasche.

Ning sah sie erstaunt an: «Du weinst ja.»

Ein heftiges Schluchzen hatte Andrea gepackt.

Ning reichte ihr ein Taschentuch. «Robert hat geraucht, viel.»

Es kam ihr vor, als habe Ning ihre Gedanken gelesen.

«Der Arzt hatte verboten.» Er hatte geraucht, trotz zwei Infarkten.

Ning schien irritiert, dass sie jetzt weinte, während sie bei Roberts Abdankung im Krematorium gefasst und ohne Tränen geblieben war. Andrea erzählte, dass sie seine Asche auf einen Berg getragen habe.

«Hast du zerstreut?»

«Ich hab’s nicht übers Herz gebracht.»

Ning lächelte. «Er ist immer nahe bei dir, wenn du auf den Berg steigst.»

«Ja, vielleicht.» Andrea wischte sich mit dem Papiertaschentuch die Augen, verabschiedete sich rasch, schritt über die Platten zum Gartentor. Dort blieb sie stehen, schaute zurück. Ning stand unter der Tür und winkte. In ihrem weiten Batikkleid sah sie aus wie ein Teenager.

Andrea kehrte nochmals um, umarmte Ning und küsste sie. Dann hüpfte sie auf einem Bein der Brombeerhecke entlang über den Plattenweg und schloss das Gartentor ein letztes Mal hinter sich.

8

«Wo willst du hin?» Sie stand vor ihm, die Fäuste in die Hüften gedrückt. Sie roch nach Pfefferminze, kaute einen Kaugummi mit offenem Mund. Er sah ihre gelben Zähne.

«Geht dich nichts an», presste Magnus hervor, nestelte an den Schnürsenkeln, die verknotet waren.

«Willst du wieder hinüber?»

Hatte sie die Schnürsenkel geknüpft? Damit er nicht weglaufen konnte? Der Knoten war nass und festgezogen, er mühte sich ab.

«Schau mich an, wenn ich mit dir rede!»

Magnus kniete vor ihr, ihre Beine schoben sich heran. Schenkel, prall wie Würste, von blauen Adern durchzogen.

Sandra ist eine Nutte, hatte einer im Dorf gespottet und vor ihm auf den Boden gespuckt. Dein Alter hat sie gekauft, in Pratt, im Puff. Magnus schlug mit beiden Fäusten zu, bis der andere am Boden lag und aus der Nase blutete.

Eines Tages war sie eingezogen, hatte sich ins Doppelbett an den Platz seiner Mutter gelegt. Sandra ist jetzt unsere Mama, sagte Vater. Er traute sich nicht, Magnus in die Augen zu schauen. Kaum ein Jahr nach Mutters Unfall war das. Nachts hörte er durch die Täferwand, wie sie stöhnte und das Bett knarrte. Da hatte er ein erstes Mal seinen Rucksack gepackt, war losgezogen über die Berge. Mutter stammte von drüben, hatte ihm von dem grossen Fluss erzählt. Von den Lastschiffen, die bis zum Meer fuhren.

«Was streunst du in den Bergen herum? Was treibst du dort oben?» Sandra schrie. Vater konnte sie nicht hören, wenn die Drechselmaschine oder die Bandsäge kreischte. Er wollte nicht hören. Er wusste, dass sie ihn plagte, seit er wieder zu Hause war. Warum sagte er nichts? Warum hatte er sie ins Haus gebracht? Warum war Mutter mit dem Auto in die Schlucht gestürzt, in jenem Winter? Die Strasse vereist. Zu schnell gefahren. Absichtlich, munkelten die Leute, schauten ihn scheel an. Dass er es nur höre.

Endlich konnte er den Knoten mit den Fingernägeln lösen, die Schnürsenkel binden. Er stand auf, schlüpfte in die Riemen des Rucksacks, hängte den Feldstecher um, drückte den Hut auf den Kopf.

«Warum kannst du nicht etwas Vernünftiges arbeiten? Zum Beispiel deinem Vater in der Werkstatt helfen. Andere in deinem Alter lernen einen Beruf.»

«Hab’s versucht. Ging nicht.»

«Dumm geboren und nichts dazugelernt. Du bucklige Missgeburt, du gehörst in eine Anstalt.»

Er zog die Oberlippe zwischen die Zähne. «Lieber eine Missgeburt als eine Nutte.» Er duckte sich, ihre Hand schlug ins Leere.

«Dein Vater ist krank. Der Kummer wegen dir bringt ihn um.»

Magnus hasste sie. Seit sie eingezogen war, ekelte ihn alles im Haus. Er musste hinaus, fort, hinüber. Das letzte Mal war er nur bis in ein Dorf gekommen. Zwei Bauern in Lodenjacken hatten ihn angehalten, zur Polizei gebracht. Im Heim hatte er gelernt, sich zu wehren. Sich durchzuschlagen. Zwei linke Hände habe er, sagte sein Lehrmeister. Aber stark waren sie. Er würde sich nicht mehr anfassen lassen von zwei Dorftrotteln.

In der Werkstatt sirrte die Drechselmaschine. Ein Stück Kirschbaumholz rotierte, Vater führte den Drechselstahl, Späne schälten sich ab in Locken. Eine Speiche für ein Spinnrad. Zwei waren schon fertig, mit einem Leintuch zugedeckt neben der Werkbank. Als Anita noch in der «Alpenrose» wirtete, stand immer ein Spinnrad in der Gaststube. Touristen kauften gelegentlich eines. Früher hätten die Leute im Dorf Flachs gesponnen, erzählte Vater einmal. Sie sassen im Winter in der Stube, arbeiteten und erzählten Geschichten. Fernsehen gab es noch nicht. Auch Grossvater hatte schon Spinnräder gebaut.

Vater trug eine Schutzbrille, er blickte nicht von der Maschine auf, als Magnus vorbeiging. Er würde den Drechselstahl erst absetzen, wenn die Spindel fertig war, dann die Maschine ausschalten, ans Fenster treten, hinausstarren. Zum Glockenturm, zur «Alpenrose». Vielleicht sah er gar nichts, dachte an Mutter, an Grossvater, an früher. Er war wirklich krank. Schmal, grau und verkrümmt war er geworden. Dafür wurde Sandra immer fetter. Es war, als fresse sie ihn auf.

Magnus schritt bergan. Nach einer halben Stunde erreichte er den Wald. Er öffnete das Tor im Viehzaun, hängte den Drahtring wieder ein, mit dem es geschlossen war, setzte sich auf einen Stein. Der Himmel war bedeckt, kalter Wind zog durchs Tal herauf. Bald begann er zu frieren.

9

Ein Gemisch aus Schnee und Regen fiel aus schwerem Gewölk. Es will nicht Frühling werden, dachte Andrea, während sie über die mit Matsch bedeckten Felsplatten hinunterstieg. Trotz des Wetters war sie zur Hohen Platte aufgestiegen, hatte den Klettersteig kontrolliert, Bohrhaken ersetzt, Drahtseile festgemacht. Ein Auftrag des Tourismusvereins von Pratt. Sie war froh darüber, wegen der Reise nach Patagonien hatte sie keine Aufträge für den Frühling gebucht, und in dieser verregneten Saison meldeten sich die Sommergäste nur zögernd. Rock’n’Ice, ihre Kletterschule, steckte wieder mal tief in den roten Zahlen.

In der Blockwohnung in Pratt fühlte sie sich gefangen und gelähmt, sie hockte vor dem Computer, klickte im Internet herum. Buchhaltung? Nein danke! Ihren Freunden war am Cerro Torre eine Erstbesteigung geglückt, berichteten sie in einer E-Mail. Und sie? Sie hatte die Asche ihres alten Herrn auf den Berg getragen und sich mit Ämtern und Immobilienmaklern herumgeschlagen. Roberts letzte Rechnungen waren bezahlt, das Haus stand zum Verkauf.

Während sie auf dem Fusspfad zu Tal schritt, flötete ihr Handy, sie zog es aus der Windjackentasche, sah auf das Display. Eine unbekannte Nummer.

«Andrea?» Eine aufgekratzte Stimme. Es war Daniel.

«Ja», sagte sie, blieb stehen, starrte ins Schneetreiben.

«Wo bist du?»

«Am Berg.»

«Du hast Anita besucht. Ich hab dich gesehen.»

«Na und?» Sie hörte Stimmen im Hintergrund, Klappern und Klirren. Spitalgeräusch.

«Bist du noch dran?», fragte er nach einer Weile.

«Ja.»

«Es geht Anita nicht so gut.»

«Wird sie’s schaffen?»

«Ein bisschen Hoffnung gibt es immer.»

«Die Krebsdiät?»

«Gelegentlich hilft der Glaube, wenn die Wissenschaft versagt.»

Andrea schob mit der Schuhspitze den Schneematsch vom Weg, lauschte dem Klirren und Murmeln im Hörer und dem Rauschen des Bachs in der nahen Runse.

«Bist du noch da, Andrea?», fragte Daniel.

«Ja sicher», sagte sie.

«Ich wollte dich ansprechen im Spital, aber …»

Er schwieg, und auch Andrea blieb stumm. Seit ihrem Besuch bei Anita hatte sie seinen Anruf erwartet, hatte sich Antworten zurechtgelegt. Wir wollen doch nicht wieder von vorn beginnen. Du gehst deinen Weg, ich geh meinen, okay? Doch jetzt fand sie keine Worte, ihr Hirn war leer und ihr Herz klopfte.

«Können wir uns sehen?», fragte Daniel nach einer Weile.

«Wozu?»

«Ich möchte dich sehen. Einfach so …»

«Eigenartig», sagte sie vor sich hin.

«Was ist daran so eigenartig?»

Sie hatte sich vom Wind abgedreht, sah ihre Spur im Matsch auf dem Weg, der über Felsbändern zur Runse führte und zum Bach, der über eine Wandstufe sprang und im Nebel verschwand.

«Hier war früher kein Empfang mit dem Handy.»

«Wo bist du?»

«Auf dem Weg, wo wir damals die Frau geborgen haben.»

«Bist du sicher?»

«Hier war’s, beim Übergang über die Runse.»

«Sag mal, was suchst du dort oben bei dem Sauwetter?»

«Damals war hier noch kein Empfang. Man hat das überprüft bei der Untersuchung.»

«Es werden ständig neue Antennen aufgestellt.»

«Aber doch nicht hier im Tal. Wozu denn?»

«Damit ich dich erreiche.» Er lachte.

«Du hättest mich immer erreichen können.»

«Ich erklär dir alles. Wann sehen wir uns?»

Andrea hörte, wie jemand nach ihm rief.

«Hallo, Andrea? Ich muss leider … Ich ruf dich an.» Er hängte auf.

«Ich ruf dich an», sprach sie ins stumme Handy. Das hatte er gesagt, bevor er verreist war. Ich ruf dich an. So beginnen Beziehungen und so enden sie.

Bevor sie das Gerät einsteckte, sah sie auf das Display. Es zeigte ein starkes Signal. Sie schreckte auf, Steine fielen durch die Runse, schlugen unweit von ihr auf den Weg. Im nebligen Licht sah sie ein Tier den Hang queren. Es floh nicht, sondern blieb auf einem vorspringenden Felsen stehen. Ein Steinbock. Eine Weile betrachteten sie sich auf Distanz, der Bock neigte seinen Kopf, als wolle er seine mächtigen Hörner zeigen.

Andrea begann abzusteigen, blieb nach ein paar Schritten nochmals stehen, schaute sich um. Der Steinbock stand unbewegt wie eine Statue im Schneetreiben.

10

Der Espresso schmeckte wie Spülwasser. Daniel spürte ein leichtes Zittern in der Hand, als er die Tasse an die Lippen führte. Er fühlte sich ausgelaugt, überarbeitet. Das Gespräch mit Andrea war ihm vorgekommen wie Funkkontakt mit einem fernen Planeten. Ein Regenschwall peitschte gegen die Fenster der Cafeteria, die Glasfassade des Bettenhauses gegenüber verschwamm im Muster der Regentropfen, die über die Scheiben rannen. Er stellte sich Andrea vor, hoch am Berg auf jenem abschüssigen Weg, den er selber Dutzende Male gegangen war. Bei dem Gedanken spürte er, wie verbraucht er war, ohne Lust auf Abenteuer. Andrea trieb sich weiterhin in jener einsamen Welt herum, es war ihr Beruf. Daniel fragte sich, ob sie noch immer mit ihrem Manager zusammen war. Vielleicht hätte er um sie kämpfen müssen, sich nicht einfach aus dem Staub machen, den Beleidigten spielen und nichts mehr von sich hören lassen.

Eine Pflegerin trat an seinen Tisch, ein Tablett mit Kaffee und Kuchen in der Hand. «Ist es erlaubt?»

«Wenn ich nein sagen würde?»

«Du doch nicht, Doktor.» Sie rückte den Stuhl schräg zum Tisch, setzte sich, schlug die Beine übereinander. Ihre weissen Hosen rutschten hoch, gaben schmale Fesseln frei, ihr Fuss steckte in weissen Mokassins und wippte kokett. «Biene Maya» nannte man die Pflegeleiterin aus der Onkologie. Sie galt als zuverlässig und unnahbar, eine strenge Schönheit mit einem Plüschbären, der auf ihrem Bett auf sie wartete. «Alles klar bei den Karzinomen?», fragte er.

Sie stach mit der Gabel die Spitze der Schokoladetorte ab, schob sie in den Mund. «Man sieht dich ja häufig bei uns auf der Station.»

«Fachliche Weiterbildung.»

«Sagt man dem jetzt so?» Sie griff sich mit spitzen Nägeln den Schokoladebatzen mit dem Schriftzug Sacher, schob ihn in den Mund. «Anita Bender ist natürlich ein interessanter Fall. In jeder Beziehung.»

Die Vergangenheit, hatte er einmal gelesen, holt einen immer wieder ein. Anita, Wirtin und Künstlerin aus der «Alpenrose», die alten Geschichten. Mayas Anspielung irritierte ihn. Er war wohl einfach zu müde, um zu verstehen.

Sie stocherte in ihrer Sachertorte. «Einer aus dem Dorf hat sie besucht.»

«Schmeckt’s?», fragte Daniel.

«Man muss sich gelegentlich was gönnen.»

Sie spiesste ein Stück auf die Gabel, schenkte ihm einen Augenaufschlag. «Möch test du versuchen?»

Daniel wehrte mit beiden Händen ab. «Danke, danke.» Er rieb sich den Bauch. «Ich wundere mich immer über deine Figur, bei deiner Lust auf Süsses. Eine Taille wie eine Biene.»

«Sehr witzig.» Sie legte die Gabel neben die Krümel, schob den Teller von sich. «Der Mann ist bei uns in Behandlung.»

«Welcher Mann?»

«Der aus dem Dorf. Hörst du mir überhaupt zu, Doktor?»

«Natürlich, Oberschwester Maya. Anita hatte viele Männer, aber ich war nie mit ihr im Bett, ich steh nicht auf mollig. Wir kennen uns von früher, aus meinem letzten Leben sozusagen.»

«Schwestern gibt es bei uns nicht mehr.»

«Bin ich schon so alt?» Er zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche, liess das Feuerzeug schnappen. «Du erlaubst?»

«Aber doch nicht hier! Das Spital ist rauchfrei.»

«Sorry, ich war wohl in Gedanken in Israel. Ohne Zigaretten hätten wir den Stress dort nicht durchgestanden.»

Er sah das Kind vor sich, beide Arme und ein Bein weggerissen, drängte das Bild aus seinem Kopf. Das Feuerzeug in seiner Hand schnappte auf und zu. «Ein Souvenir, Charly’s Coffee Shop, Shenkin Street. Warst du schon mal in Tel Aviv?»

Maya schob sich eine Haarsträhne mit zwei Fingern hinters Ohr. Schön geformte kleine Ohren, Goldkettchen mit Kreuz um den Schwanenhals, kein Ring am Finger. «Woran leidet denn der Mann aus dem Dorf?»

«Bauchspeicheldrüse. Die Daten hab ich nicht im Kopf.»

Daniel steckte die Zigaretten und das Feuerzeug wieder ein, riss ein Zuckerbriefchen auf, schüttete sich den Zucker in die hohle Hand und schleckte ihn auf.

«Also auch ein Süsser.»

«Ich lad dich mal zu Kaffee und Kuchen ein. Mit Sahne und allem Drum und Dran, was meinst du?»

Sie rückte ihren Stuhl näher zum Tisch. «Frau Bender hat mit dem Mann über Strahlen gesprochen. Elektromagnetische Strahlen, die Krebs erzeugen.»

«Was soll dort oben strahlen? Es gibt keine Hochspannungsleitung, keine Atommülldeponie, keine Sendemasten.»

«Ein Kirchturm, hab ich gehört.»

«Ach so, ein alter Aberglaube!» Daniel lachte.

«Frau Bender glaubt offenbar daran.»

Daniel stand auf. «Der Mensch sucht stets nach einer Erklärung für das Unerklärbare.» Er liess die Espressotasse stehen. «Kranke fragen, warum es gerade sie getroffen hat.» Er dachte wieder an das verstümmelte Mädchen, ein hübsches Kind mit langen schwarzen Haaren, Mandelaugen. Warum sie? Das hat te er sich auch gefragt. Es gab keine Antwort.

Die Pflegerin ergriff seine Tasse mit zwei Fingern, hob sie auf ihr Tablett, rief ihm nach: «Ich räume gerne für Sie ab, Herr Doktor.» In der Cafeteria drehten sich Köpfe.

Daniel wartete im Foyer auf sie. «Spitäler machen die Menschen krank, nicht Kirchtürme.»

Sie zog ihre Augenbrauen hoch. «Das sagt der Arzt?»

«Das sagt der Arzt. Denk mal drüber nach. Und grüss deinen Bären.» Er tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Oberlippe. «Hier klebt noch ein Krümel Schokolade.»

Sie warf ihm einen empörten Blick zu, tupfte sich mit einem Papiertaschentuch unter der Nase.

«Meine Einladung zu Kaffee und Kuchen steht.»

Während er durch den Korridor schritt, dachte er an Anita und den Mann aus dem Dorf. Sehnsucht nach jenen Bergen ergriff ihn, nach jenen Felswänden über weissen Schuttströmen, doch er war nicht sicher, ob er je wieder klettern konnte. Seit Israel hatte er keinen Fels mehr berührt. Er fuhr mit dem Lift in den obersten Stock des Neubaus, trat auf einen Balkon, auf dem ein Wagen mit Putzkübeln, Besen und Schrubbern stand. Der Regen hatte nachgelassen, die Berge im Süden waren verhangen. An die Mauer gelehnt, steckte er sich eine Zigarette an. Dann trat er an die Brüstung, sah in die Tiefe, meinte, der Boden unter seinen Füssen beginne zu schwanken wie damals über dem Wadi am Toten Meer. Er klammerte sich ans Geländer, die Zigarette fiel in die Tiefe und verglühte im Wind.

11

In der Kletterhütte deponierte Andrea Bohrhaken, Briden und das Werkzeug für den Klettersteig, machte Feuer im Herd für einen Kaffee. Sie blätterte durchs Hüttenbuch, stellte fest, dass sie die erste Besucherin im Jahr war. Die Hütte wurde kaum noch benutzt, die Solaranlage funktionierte nicht mehr. Die Bergführer von Pratt fuhren ihre Gäste mit einem Kleinbus am Morgen vor einer Tour auf die Alp, Hüttenromantik war nicht gefragt. Die Kletterfreaks übernachteten im Zelt oder im Freien. Küche und Schlafraum waren vergammelt, die Wolldecken zerwühlt, schmutziges Geschirr stand in der Spüle. Am Boden lagen Erdstücke aus Profilsohlen wie ausgestochenes Weihnachtsgebäck. Wahrscheinlich hatten Leute übernachtet, ohne die Taxe zu bezahlen.

Andrea holte einen Besen, wischte den Boden und faltete die Wolldecken. Eine Idee ging ihr durch den Kopf. Wenn sie die «Alpenrose» übernehmen würde, könnte sie die Hütte für ihre Kletterschule benutzen. Vielleicht würde sie eine zweite Bergführerin finden, die sich an Rock’n’Ice beteiligte. Immer mehr Frauen machten die Ausbildung. Die Zweizimmerwohnung in Pratt war ihr zu eng geworden, sie musste sich verändern. Wieder auf Reisen oder etwas Neues anpacken.

Während sie Kaffee trank und über ihre Zukunft nachdachte, vernahm sie Schritte auf den Steinplatten vor der Hütte. Jemand suchte nach dem Schlüssel, dann ging die Tür. Ein Bursche stand auf der Schwelle, einen Jägerhut mit schlappem Rand auf dem Kopf, sein grüner Faserpelz und die Bundhosen waren nass. Er trat ein mit Schuhen, an denen Gras und Erde klebte.

«Gib acht, ich habe geputzt!», sagte Andrea.

Der Junge stolperte einen Schritt rückwärts über die Schwelle. «Ist das Ihre Hütte?», nuschelte er. Eine schlecht vernarbte Hasenscharte verunstaltete seine Oberlippe.

«Noch nicht, aber bald», sagte Andrea so überzeugt, dass der Junge ohne ein weiteres Wort unter das Vordach zurücktrat, Hut und Faserpelz ausschüttelte und an einen Nagel hängte, der in der Hüttenwand steckte. Er zog seine Schuhe aus, trat in die Hütte in einem viel zu grossen Pullover mit geflickten Ellbogen. Seine nassen Socken hinterliessen Fussabdrücke auf dem Boden. Er suchte sich Hüttenschuhe aus dem Gestell, ging zum Herd und wärmte seine Hände vor dem Feuerloch.

«Woher kommst du bei dem Wetter?»

«Von drüben.»

«Übers Joch?»

Er nickte.

«Ohne Regenschutz?»

Seine Schultern zuckten, er schaute auf den Boden. «Am Morgen war’s noch besser.»

Andrea holte eine Tasse vom Gestell. «Magst Kaffee?»

Er murmelte etwas, das wie «ja, gerne» klang, setzte sich auf die Bank hinter den Tisch, verdeckte mit gefalteten Händen seine Hasenscharte.

«Ich bin Andrea.» Sie schenkte ein, schob ihm die Tube mit der Kondensmilch hin.

«Magnus.»

Er löffelte sich Zucker in den Kaffee, drückte Kondensmilch dazu, rührte andächtig. Sie wunderte sich, warum er übers Joch gekommen war, mochte ihn aber nicht ausfragen. Bei solchem Wetter kam niemand zum Vergnügen über die Grenze. Er musste sich auskennen, der Weg auf der Nordseite der Bergkette war noch mit Schnee bedeckt, steil und nicht einfach zu finden. Ein Bergsteiger war er nicht, seine Ausrüstung sah eher wie die eines Jägers oder Strahlers aus.

«Du kennst dich aus in der Gegend?»

«Bin aus dem Dorf.»

«Hab dich aber noch nie gesehen.»

Er schob die Tasse von sich, stand auf. «Danke. Muss jetzt.» Als er zur Tür ging, sah sie, dass sein Rücken einen leichten Buckel bildete. Deshalb schaute er immer auf den Boden.

«Du kannst mit mir fahren. Ich hab meinen Jeep auf der Alp.»

«Ich geh zu Fuss.»

«Na dann …»

Er stellte die Hüttenschuhe ins Gestell, trat ins Freie und schlüpfte in den Faserpelz.

Der Regen hatte nachgelassen, nasse Felsen schimmerten schwarz zwischen treibenden Nebelfetzen. Magnus kauerte nieder, schnürte seine Militärschuhe.

Andrea trat neben ihn. «Hast du in der Hütte übernachtet?»

Magnus hielt für einen Augenblick inne, dann nestelte er hastig und ungeschickt weiter. Seine Ohren liefen rot an.

«Du kannst es mir ruhig sagen.»

«Zwei- oder dreimal», presste er hervor, richtete sich auf, ohne den Schuh fertigzuschnüren, hängte sich den Armeerucksack an eine Schulter und eilte mit ungelenken Schritten den Weg hinab.

«Das nächste Mal räumst du auf», rief ihm Andrea nach. Er drehte sich nicht um, liess die Schnürsenkel um seine Knöchel schlenkern. Als er die Alpstrasse im Sattel erreichte, hielt er an, stellte einen Fuss auf einen Stein und band seine Schuhe richtig. Dann zog er einen Feldstecher aus dem Rucksack, richtete ihn zur Hütte. Andrea hob ihre Hand. Schnell drehte er sich weg und verschwand.

27,29 ₼
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9783857919534
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