Kitabı oxu: «Der Schuh», səhifə 4

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Kapitel 8


Nach den ersten Monaten meiner Ausbildung zur Krankenschwester wunderte ich mich, dass es mir nicht schon viel früher in den Sinn gekommen war, diesen Beruf zu erlernen. Das frühe Aufstehen, ich musste um sechs Uhr auf Station sein, fand ich wirklich ätzend. Aber es gab Blockunterricht und Spätschicht, was die Sache etwas auflockerte und erträglich werden ließ. Allerdings musste ich den fürchterlichsten Drachen des Krankenhauses zurzeit beinah jeden Tag ertragen. Schwester Veronika, die Stationsschwester der chirurgischen Frauenstation. Die Bedauernswerten, die ständig auf dieser Station arbeiten mussten. Als Schülerin durchlief man zum Glück alle Stationen und bald würde ich es hinter mir haben. Überhaupt war die Chirurgie nicht unbedingt mein Ding. Die Entbindungsstation mit den Babys und den Wöchnerinnen war da schon eher was für mich, und ich überlegte, ob ich nicht Säuglingsschwester oder Hebamme werden sollte.

Manchmal kam Paul auf Station vorbei, um mich zu besuchen. Dadurch war ich schlagartig in der Gunst der anderen Schwestern und Schülerinnen gestiegen. Paul, der ohnehin ein Charmeur war, machte dann seine für ihn typischen Späßchen und Bemerkungen. Weil ich das schwarze Haar unter meinem Häubchen zum Knoten gesteckt trug, nannte Paul mich immer ›Schwester Dolores‹.

»Was macht denn meine geliebte Schwester Dolores heute hier noch so außer Flamenco tanzen?«, fragte er. »Oh, ich sehe schon, ein Tänzchen mit dem Herrn Schieber, dem glücklichen Stinker!«

Oder er schnappte mich und zog mit mir im Tangoschritt über den Flur. Die anderen vom Krankenhauspersonal und die Patientinnen, die aufstehen durften und in ihren Bademänteln auf dem Flur entlangflanierten, amüsierten sich köstlich. Nur der Drache meckerte: »Vergessen Sie Ihre Arbeit nicht, Emilia!«

»Die wird mir eine schlechte Bewertung schreiben«, sagte ich.

»Nicht für diesen Tango«, frotzelte Paul.

Was so locker rüberkam, täuschte vielleicht etwas darüber hinweg, dass ich meist nicht abschalten konnte, wenn ich etwas Bedrückendes erlebt hatte. Das Schicksal der Patienten rührte mich sehr und ich nahm die Bilder mit nach Hause. Die älteren Schwestern versuchten mich zu beruhigen: Das wird besser, wenn man lange genug dabei ist, dann stumpft man irgendwie ab. Das war das Allerschlimmste, was ich mir vorstellen wollte, und es wäre ein Grund für mich gewesen, sofort mit der Ausbildung aufzuhören. »Abstumpfen«, wie sich das schon anhörte. Überhaupt wollte ich in keinem Bereich des Lebens mit den Jahren abstumpfen.

Endlich verdiente ich mal wieder eigenes Geld, wenn es auch sehr wenig war. Aber ich war wenigstens nicht mehr auf das Taschengeld von meinen Eltern angewiesen. Als Mutter Taschengeld zu bekommen, das passte in meinen Augen überhaupt nicht zusammen.

Kapitel 9


An diesem Tag war ich einkaufen gegangen. In der Zeit, die sich ›zwischen den Jahren‹ nennt, gab es viele Sonderangebote in den Geschäften und es fiel die Hektik der Vorweihnachtszeit weg. Ich stand in einem Plattenladen mit Kopfhörern auf den Ohren und war gerade vertieft in die Musik von ›Amon Düül‹. Niclas versuchte zu stehen und hielt sich krampfhaft an meinen Beinen fest.

Er hatte mich wohl schon etwas länger beobachtet, ich bemerkte ihn aber erst jetzt. Henry Wolff, den Sozialarbeiter, den Kollegen von diesem Bernd. Er stand mir direkt gegenüber, auch mit Kopfhörern auf den Ohren. Er starrte auf meine Beine, die wegen der klirrenden Kälte in einer dicken schwarzen Strumpfhose und gefütterten Stiefeln steckten. Den schwarzen Wollrock konnte man unter dem langen schwarzen Pullover nur ahnen. Ich wünschte mir, solche Blicke für immer festhalten zu können.

Er winkte mir zu, zerzaust wie damals, als er Kaugummi kauend neben Bernd Schuster gestanden hatte, und ich musste innerlich schmunzeln. So eine altrosa Cordhose, wie er sie trug, hatte Mick Jagger auf einem Poster angehabt, das mal vor Jahren an der Wand in meinem Zimmer hing. Wir nahmen zeitgleich die Kopfhörer ab.

»Hallo, ich bin Henry!«

»Emi, und das ist Niclas!«

»Hallo Niclas.«

Er kniete sich hin. Niclas beachtete ihn aber kaum.

»Was hast du denn gerade gehört, du warst ja völlig weggetreten.«

Seine dunklen, samtbraunen Augen. Diese raue Stimme. Der volle Mund.

»Amon Düül.«

»Finde ich auch gut.«

Wir hörten die Platte abwechselnd. Niclas durfte auch mal. Ich nahm ihm schnell die Kopfhörer wieder ab, weil er das Gesicht verzog.

»Hast du Silvester schon was vor?«, fragte Henry.

»Nein«, log ich und dachte: Helga und Paul werden es verkraften, wenn ich nicht komme.

Er schrieb seine Adresse mit Edding auf meinen Arm. Starke, kräftige Hände. Autoschrauberhände. Etwas verarbeitet.

»Ich werde Niclas mitbringen«, sagte ich.

»Natürlich, kein Problem. Er wird nicht das einzige Kind sein. Übrigens wohne ich in einer WG.«

Ein Wunder war passiert. Ich war total aufgeregt und fand, dass ich zu Silvester besonders gut aussehen musste, deshalb kaufte ich mir an demselben Tag noch schnell ein wadenlanges Strickkleid mit ganz großem, halsfernem Rollkragen. Schwarz, aus einer sauteuren Boutique.

Die WG in Holtensen, einem Ort unweit von Hameln, in der Henry zusammen mit Bernd, einer Frau namens Gabi und einem Pärchen wohnte, war wohl das Kramigste, was ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Unterschiedlich gemusterte Teppiche bedeckten den Boden. Entlang der Wände lagen Matratzen, darauf Decken und Kissen. Aus Schalbrettern gebaute Tische und Regale boten Platz für Bücher, Platten und jede Menge Hausrat. Die Atmosphäre war wirklich gut, in der Luft lag der süßliche Geruch von gutem Gras. Aus den Boxen der Anlage tönte die Musik von Bob Dylan. Meine gute Laune war schlagartig verflogen, als ich die Frau sah, die mit einem kleinen rothaarigen Jungen auf dem Arm neben Henry saß. Das Kind sagte Papa zu ihm. Ich fragte mich, warum er mich überhaupt eingeladen hatte und für welchen Freund ich wohl vorgesehen war. Er war ein Arschloch der besonderen Sorte. Er mit seinen Blicken und das, obwohl er Frau und Kind hatte. So ein blöder Wichser! Auch an diesem Abend sah er mich ständig an. Was dachte er sich eigentlich? Sah er nicht, dass ich Niclas umhertrug? Spielt man mit einer Mutter? Ausgerechnet jetzt musste auch noch dieser blöde Psychologe Bernd Schuster auf mich zukommen. Daher wehte also der Wind. Vielleicht war er es ja, der mich in dieser Silvesternacht abschleppen sollte. Mal was anderes. Eine, die schon mal was aufs Maul bekommen hatte. Das abgelegte Stück von Söhnchen Robert Hagedorn. Bestimmt interessant!

»Komm, ich glaube, ich muss mal mit dir reden«, sagte Bernd. Wir setzten uns auf eine Matratze. Das heißt, ich krachte mich hin, weil ich stinksauer war.

»Henrys Sohn heißt Daniel, und Gabi, die sich sehr viel um die beiden kümmert, ist das Beste was Henry passieren konnte.«

»Wie schön für ihn«, sagte ich und dachte, was quatscht mich dieser Idiot eigentlich zu.

»Nachdem Daniels Mutter kurz nach der Geburt mit ihrem Tutor durchgebrannt war und Henry mit dem Kind alleine dasaß, war Gabi die erste Hilfe. Verstehst du? Sie sind Freunde. Sie ist übrigens lesbisch. Also überleg dir, an wem du interessiert bist. An ihr oder an ihm.«

Ich lächelte Bernd an, der lächelte zurück. Vielleicht war er ja gar nicht der Verkehrteste.

Daniel war ein Jahr älter als Niclas und sagte ›Baby‹ zu ihm. Er war ein süßer kleiner Kerl mit dem Gesicht seines Vaters und den roten Haaren seiner Mutter, die irgendwo in Nepal rumtobte und nur ab und zu mal was von sich hören ließ. Aber nun schon länger nicht mehr. Da erging es ihm immer noch besser als Niclas, dessen Erzeuger vom Erdboden verschluckt blieb. Zum Glück, wie ich inzwischen fand.

»Sie wollte immer nur diskutieren«, sagte Henry.

»Was hast du gegen Diskussionen?«, fragte ich.

»Schade um die Zeit, die kann man auch verficken«, meinte er. Wenn er grinste, sah man seine schiefen Zähne und die Zahnlücke in der Ecke.

»Stimmt, gute Idee!«, prustete ich los.

Wir verstanden uns auf Anhieb. Auch gegen Morgen, als der angehende Tag das neue Jahr begrüßte. Unsere Söhne waren uns irgendwann, während der Unterhaltung, auf dem Arm eingeschlafen und wir hatten sie behutsam in Daniels Bett gelegt. Wir lagen längst eng umschlungen auf Henrys Matratze.

Er war nicht der Leidenschaftlichste. Und mit Sicherheit der größte Egoist, der mir jemals begegnet war. Als ich ihm beichtete, beim Sex gern passiv sein zu dürfen, wusste er damit nichts anzufangen und sagte: »Kommt gar nicht in Frage, beweg deinen Arsch!« Für ihn wäre Sexualität die normalste Sache der Welt und nichts anderes als eine intensive Art des Gesprächs.

Erst als wir uns zur Seite gedreht hatten, um zu schlafen, sah ich im Kerzenlicht sein Tattoo. Es stellte einen Wolfskopf dar und saß genau an derselben Stelle zwischen den Schulterblättern, wo sich bei mir das Muttermal befand, das er gar nicht bemerkt hatte. Ich streichelte und küsste ihn dort und war beeindruckt von seinen breiten Schultern.

»So eine blöde Jugendsünde. Wenn es woanders wäre, hätte ich es schon wegmachen lassen«, sagte er.

»Es stört mich überhaupt nicht«, meinte ich, »im Gegenteil, ich mag es, wenn Menschen sich mit ihrem Körper beschäftigen.«

Ich konnte es mir nicht erklären, aber ich musste es ja auch nicht. Ich war verliebt in ihn, nach so kurzer Zeit. Es war, als wäre ein Mensch in mein Leben getreten, den ich schon seit einer Ewigkeit kannte und den ich schon lange vermisst hatte. Wir frühstückten auf dem durchgesessenen Sofa in der Küche der Wohngemeinschaft und passten auf, dass die Kinder keinen Alkohol aus den halbvollen Gläsern tranken, die überall herumstanden. Im Hintergrund sang schon wieder oder immer noch Bob Dylan. Auf den Matratzen lagen Schnapsleichen oder schmusende Pärchen verstreut herum, bloß Gabi räumte laut fluchend auf.

Als wir auf die Straße traten, flockte Schnee vom Himmel und bedeckte die Silvesterknaller, die ausgebrannt und zahlreich auf der Erde lagen. Mein Käfer sprang mal wieder nicht an, besonders bei Kälte litt er unter dieser Krankheit. Bestimmt hätte Henry ihn zum Laufen bringen können, aber er bestand darauf, Niclas und mich zu fahren. Henrys Mercedesbus war noch geräumiger als der Bus von Helga und Paul und mindestens genauso perfekt ausgebaut. Obwohl er das Kramigste war, was ich…! Aber warum wunderte ich mich, nachdem ich diese WG gesehen hatte.

Noch an diesem Neujahrstag lernten meine Eltern ihren angehenden Schwiegersohn und ihren neuen Enkel kennen. Zwischen Henry und Konstantin entwickelte sich eine echte Freundschaft. Henry bewies sich als absoluter Praktiker, der die noch anstehenden Renovierungsarbeiten an dem alten Haus in der Fischpfortenstraße innerhalb von drei Monaten erledigte.

Im Herbst zog er mit Daniel und seiner Mischlingshündin Söckchen bei uns ein. Niclas und Daniel bekamen ein Piratenzimmer. Beide Jungs waren inzwischen im Kindergarten. Robert ließ sich öfter mal sehen. Er hatte sich äußerlich etwas verändert. Seine Haare trug er kürzer und er war kräftiger geworden. Er war innerhalb Hannovers umgezogen und studierte jetzt Medizin. Wenn Partys gefeiert wurden, war Robert jedes Mal anwesend. Henry und er liebten sich nicht gerade tief und innig, kamen aber miteinander aus. Robert lieh sich immer noch meinen Käfer, was für Henry das Allerletzte war. »Frauen und Autos verleiht man nicht«, pflegte er dann zu sagen, aber ich ließ mich davon nicht beirren.

Der Urlaub in diesem Sommer war das Schönste gewesen, was ich jemals mit einem Mann zusammen erlebt hatte. Wir waren drei Wochen lang mit den Kindern in der Bretagne unterwegs gewesen. So eine schöne und intensive Zeit mit Henry und den Kindern zu verleben, war das Größte. Der Strand. Das Meer. Wir hatten mit dem Bus direkt am Strand gestanden. An diesen Stränden war es völlig normal, nur in einem kleinen Höschen herumzulaufen. Die Nächte, die wir wegen der Kinder auf einer Decke vor dem Bus verbrachten, oder im Sand. Ich war total und absolut in Henry verliebt und fühlte mich längst völlig in ihm zu Hause. Ich war verblüfft, was er alles kann, sogar Gitarre spielen und wunderbar rau dazu singen. Auf Morgenstern ritt er umher, als wäre er auf einem Pferd zur Welt gekommen. Leider konnte er mit Eva nicht sehr viel anfangen. Wollte er auch nicht, sie war ihm als Mensch zu kompliziert. Onkel Ernst-Walters Person ging ihm nach eigener Aussage »total am Arsch vorbei« und er bezeichnete ihn als »dekadenten Volltrottel«. Was Henry nie beherrschte, waren die Zwischentöne. Er war absolut kein Diplomat. Ungehobelt wäre die falsche Bezeichnung für ihn gewesen. Er war ein Raubein. Und auch kein Schmeichler. Nicht jeder kam mit ihm zurecht, aber Niclas und Daniel liebten ihn. Die Jugendlichen, mit denen er beruflich zu tun hatte, mochten seine direkte, schnörkellose Art und dass er ihre Sprache sprach, dafür brauchte er sich nicht verstellen.

Kapitel 10


Ich hätte mich für den Fehler selbst ohrfeigen können, aber ich musste ihn ja unbedingt überreden, mir seine Eltern vorzustellen. Wir waren mit den Kindern ganz früh morgens losgefahren, die Eltern wohnten in der Nähe von Stuttgart. Die Mutter war eine kleine, freundliche, runde Person, die sofort auf Henry zuging und ihn herzte und küsste, ebenso tat sie es mit ihrem Enkel Daniel, den sie noch nie gesehen hatte. Henrys jüngerer Bruder Emmes, der draußen auf dem Hof seinen Manta reparierte, begrüßte uns nur mit einem »Hallo!« Er machte gar keine Anstalten, wegen des Besuches die Arbeit zu unterbrechen. Ich erschrak, als ich erfuhr, dass Henry seine Familie seit zehn Jahren, seit er siebzehn war, nicht mehr gesehen hatte. Es musste ein riesiger Bauernhof sein, auf dem wir waren, und ich fand mich komplett unpassend angezogen in meinem engen, schwarzen Minikleid und den Sandalen mit Pfennigabsätzen. Nirgends waren Tiere zu sehen, alles wirkte auf mich, als befände ich mich auf einem Fabrikgelände. Zwischen Henry und seinem Vater herrschte eine eisige Atmosphäre. Auch zu mir und den Kindern war der stur wirkende Endfünfziger eher abweisend. Henry führte mich in eines der ›Fabrikgebäude‹ und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Sieh es dir genau an. Weißt du jetzt, warum ich kein Fleisch esse und warum ich hier wegmusste?«

Es war wirklich ein grausiger Anblick, wie Rinder, eingeklemmt zwischen Stangen, sodass jede Bewegung unmöglich war, reihenweise in diesen Hallen standen. Jedes Eckchen, jeder Meter war ausgenutzt.

Henry brachte die Kinder und mich in die Küche zu seiner Mutter. Wir unterhielten uns über die Herstellung von Käsekuchen und sprachen über die Kinder. Henry war mit seinem Vater nach draußen gegangen.

Von dem Gespräch erfuhr ich erst später im Bus auf der Heimfahrt, nachdem Henry uns zum Aufbruch getrieben hatte. Ich war noch nicht mal dazu gekommen, mein viertes Stück Käsekuchen aufzuessen und mich von Henrys weinender Mutter zu verabschieden.

»Was war los?«, fragte ich.

»Weißt du, was der Sack mich nach zehn Jahren als erstes fragt? Ausgerechnet er. Wo hast du eigentlich diese Schlampe her? In welchem Nachtclub hat die denn vorher die Männer bezirzt? Er meint dich, Emi.«

»Und was hast du gesagt?«

»Ich fragte ihn, wie er auf so was kommt. Er daraufhin: Dafür habe ich einen Blick. Das glaube ich ihm. Ich habe ihn dann auch gefragt, ob er den Sex, den er braucht, immer noch im Puff sucht und ein Bild von Mutter mit Heiligenschein überm Bett hängen hat. Sie war immer nur für die Kinder da, obwohl, du hast das Kind ja gesehen, meinen Bruder, den Proll. Er kotzt mich an, mein Alter. Wir hatten mal einen richtigen Bauernhof mit allen Arten von Tieren. Ich habe meine Arbeitskraft und mein Herzblut da reingesteckt und war traurig, als mich meine Eltern für ein Jahr nach Amerika geschickt haben. Angeblich wegen der Bildung. Damals war ich fünfzehn. Als ich wieder kam, waren alle Tiere weg und mein Vater hatte diese Fleischzucht aufgemacht. Meine Träume waren weg, meine Pferde. Verstehst du, alles. Für mich zählt nur noch, was wirklich ist, und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«

Mein Gott, der arme Henry. Ich konnte es nicht fassen. Und wie knallhart er war. Ein toller Typ.

»Sehe ich eigentlich nuttig aus, oder wie kommt dein Vater auf so was?«, fragte ich.

»Du siehst völlig in Ordnung aus«, sagte er, »vielleicht würde dir etwas mehr Farbe ganz guttun. Aber ich mag es auch ganz gern, wenn Frauen eine etwas verruchte Ausstrahlung haben.«

Verrucht? War es das? Wirkte ich so auf die Männer?

»Erinnere mich nicht mehr an meine Eltern und erschlag mich bitte rechtzeitig, wenn ich so werden sollte wie mein Vater!«, sagte Henry, bevor wir ausstiegen und die schlafenden Kinder in die Wohnung trugen.

Kapitel 11


Es war einer dieser bewölkten, verschleierten Tage, als ich mit den Kindern und den drei Hunden auf dem ›Autoschrauberplatz‹ stand, der zum Jugendzentrum gehörte, und auf Robert wartete, der sich mal wieder meinen Käfer ausgeliehen hatte. Selbst bei Regen bot das große Dach über einem Teil des Platzes mehreren Fahrzeugen und Personen genügend Unterstellmöglichkeit. An diesem Tag waren Henry, Bernd und einige Jugendliche trotz des miesen Wetters schon seit Mittag hier.

»Siehst du!«, meinte Henry, nach einer geschlagenen Stunde, »auf dein Auto kannst du lange warten, warum verleihst du die Kiste.«

Wir vernahmen das Klappern und Scheppern schon lange, bevor wir das Auto um die Straßenecke biegen sahen. Ich traute meinen Augen nicht. Der Käfer war völlig verbeult. Der Radkasten rechts über dem Vorderreifen schliff auf dem selbigen. Die Stoßstange war noch nicht ganz abgefallen und erzeugte einen Ton von Blech auf Kopfsteinpflaster, immer wenn sie auf die Erde schlug.

Robert bremste scharf, riss die Autotür auf, sprang aus dem Auto raus und rannte wie ein Wahnsinniger auf der Straße umher. Wir waren inzwischen alle auf die Straße geeilt, um uns das Schauspiel anzusehen. Roberts irrer Blick wechselte von einem zum anderen.

»Emi, kannst du dich noch an die Löwen vor ihrem Haus erinnern?! Na denen hab ich erst mal das Grinsen wegrasiert! Ich hab es ihr gezeigt, Emi!«

Robert brüllte und tobte wie von Sinnen. Ich dachte in dem Augenblick nicht an meinen Käfer, als ich in lautes Gelächter ausbrach. Robert prustete auch los. Nachdem wir eine Weile beide lachend umhergesprungen waren, fielen wir uns schließlich um den Hals.

»Ihr seid ja völlig irre!«, schrie Henry. Er trat so kräftig gegen meinen Käfer, dass die Stoßstange gleich abflog. »Ich mach da gar nichts dran!«, brüllte er, »der, der ihn in ‘n Arsch gefahren hat, soll ihn gefälligst wieder in Ordnung bringen!«

Was so was anbetraf, hatte Robert nun mal zwei linke Hände. Er hatte es nie gelernt, auf diesem Gebiet praktisch zu sein. Solche Leute wie er standen nicht gerade hoch in Henrys Gunst. Wer kein Auto reparieren konnte, war für ihn ein Schwachmat. Als Krönung des Ganzen zog Robert einen Hundert-Mark-Schein aus der Tasche und hielt ihn einem herumstehenden Jugendlichen hin, der natürlich sofort zugriff.

»Einmal ausbeulen!«, sagte er hochnäsig, woraufhin Bernd ihn als Aristokratenbrut beschimpfte.

»Ihr macht mir Angst!«, sagte Henry zu mir spätabends, als wir endlich im Bett lagen, »dieser Robert Hagedorn ist ein Psychopath und ein Schwachmat obendrein.«

»Das muss man verstehen«, meinte ich.

»Ich will so was erst gar nicht verstehen«, sagte Henry.

Kapitel 12


Wir heirateten am 10. Oktober 1978, an Niclas viertem Geburtstag. Wir waren uns darüber einig, dass wir gut auf Anzug, langes weißes Kleid und den ganzen anderen Krempel verzichten konnten. Ich war evangelisch-lutherisch getauft und konfirmiert und hatte mir vorher nie Gedanken über die Kirche gemacht. Jetzt war ich, extra Henry zuliebe, ausgetreten. Ich konnte aber nicht anders und hatte mir für den Tag ein schlichtes, weißes Kostüm geleistet. Weiß stand für mich für einen Neuanfang. Henry stellte pragmatisch fest, dass ich wie immer sehr gut aussehen würde. Der Rock des Kostüms spannte schon etwas über meinem Bauch. Ich war im vierten Monat schwanger. Die Frauenärztin hatte uns gesagt, wenn sie sich nicht total täuschen würde, bekämen wir Zwillinge. Besonders Henry war überglücklich, während ich diesmal nicht von Anfang an leuchtete. Ich würde meine Ausbildung kurz vor dem Abschluss unterbrechen müssen. Wieder etwas, was ich vielleicht nie zu Ende bringen würde.

Helga und Bernd waren unsere Trauzeugen. Wir feierten nach der standesamtlichen Trauung am Abend eine Polterhochzeit, die sich in keiner Form von den lockeren Feten unterschied, die wir auch sonst gelegentlich gaben. Meine Eltern waren froh, dass ich nach all dem Hin und Her und »na ja, sprechen wir nicht mehr drüber« nun doch noch so einen netten und liebenswerten Mann abbekommen hatte wie den Henry, von dem sie große Stücke hielten. Sogar Eva kam von ihrer Burg auf die Party. Die frischgebackene Abiturientin durfte jetzt endlich alleine aus dem Haus und sich zwischen das einfache Volk mischen. Eva hatte sich total verändert und sah hinreißend aus, in einem wollweißen Kaschmirpullover und engem, geschlitztem Rock. Der braune Hut harmonierte mit ihren blonden Haaren und gehörte zu den wenigen Sachen, die ihr von ihrer Mutter geblieben waren. Evas Stimme war nicht mehr piepsig, sondern klang selbstbewusster. Sie erzählte von ihrem Vater und seiner Bekannten, die, wie sie erst jetzt erfahren hatte, schon eine uralte Bekanntschaft war. Ihr verstorbener Mann und Onkel Ernst-Walter kannten sich aus Königsberger Zeiten, wo sie schon während des Krieges Kollegen gewesen waren. Eva machte kein Ge-heimnis daraus, dass sie Sybille von Grosche absolut nicht ausstehen konnte, und die Frau ihren Vater gegen sie alle aufbringen würde. Sogar gegen sie, Eva. Franziska nickte. Was könnte sonst noch der Grund dafür sein, dass Ernst-Walter so abrupt den Kontakt zu ihnen abgebrochen hatte? Da musste doch diese Frau von Grosche dahinter stecken.

Es war ein schönes Fest, obwohl einiges schief lief. Henry hatte erst noch Gitarre gespielt, später dann mit Bernd, der seine Querflöte mitgebracht hatte, Stücke von Jethro Tull vorgetragen, bis er, nach dem wievielten Glas auch immer, wild mit Gabi tanzte, während ich, die wegen der Schwangerschaft nüchtern geblieben war, sah, wie alles um mich herum in Feierlaune versank. Ich hatte beinah den ganzen Abend neben Robert gesessen. Er trank so viel wie noch nie und verschwand zwischendurch auch immer noch in dem kleinen Gärtchen hinter dem Haus, wo sich die Kiffer aufhielten. Plötzlich sah ich Robert auf dem Sofa nach hinten umkippen. Paul und Bernd schleppten ihn in unser Bett und Paul holte seine Arzttasche aus dem Bus, um ihn zu untersuchen. Er lehnte es ab, die Verantwortung zu übernehmen, weil er selbst zu viel getrunken hatte, und rief einen Rettungswagen, in dem er Robert ins Krankenhaus an der Weser begleitete. Bernd, der auch Alkohol getrunken hatte, ging die paar hundert Meter zu Fuß hinterher.

Paul und Bernd kamen bald zurück. Nichts Lebensbedrohliches, Robert wäre unter Kontrolle. Ich hatte noch einige ganz nette Gespräche und begab mich nachts irgendwann in unser Schlafzimmer. Das Bett roch noch nach Robert.

Henry kam mit den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages.

»Entschuldige bitte wegen der Hochzeitsnacht, die hast du dir sicher anders vorgestellt.« Er war sturzbesoffen und zog sich noch nicht mal mehr aus.

An diesem Morgen wurden die Kinder nicht ganz so früh wach wie sonst. Eva, Franziska und ich räumten auf. Mutter Franziska mit ihren Töchtern Emilia und Eva, dachte ich. Immer, wenn Evas Eltern Trouble miteinander gehabt hatten, was mehrmals im Jahr vorkam, hatte Eva bei uns gewohnt. Damals lebte unsere Oma noch und wohnte auch mit in dem Reihenhaus in Bad Pyrmont. Eva, Franziska und Dorothea, die ja leider tot war, ähnelten sich auf erstaunliche Art und Weise. Bloß Franziska trug ihre blonden Haare kurz. Alle drei liebten anscheinend elegante Kleidung. Wie man sah, hatte Eva ja inzwischen auch ihren Geschmack geändert.

Gegen Mittag machte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus. Robert lag noch auf der Intensivstation. Ich streifte mir den Kittel über, desinfizierte meine Hände. Neben ihm war ein Wandschirm aufgestellt, hinter dem ich das röchelnde Husten eines Mannes hörte. Robert schlief noch, als ich mir einen Stuhl heranzog und mich leise neben sein Bett setzte. Ich genoss es, dazusitzen und die Gesichtszüge eines Schlafenden betrachten zu können. Mit meinen Blicken strich ich über seinen ausgeprägten Mund, die gerade Nase, die, wenn man genau hinsah, eine leichte Krümmung nach rechts besaß. Aber das fiel nur auf, wenn man wirklich sehr genau hinsah. Seine etwas hervorstehenden Wangenknochen in dem schmalen Gesicht. Die Augenbrauen, nicht wulstig, wie gezupft. Seine großen, gepflegten Hände mit den langen, schmalen Fingern, die leicht knochig wirkten. Er öffnete die Augen. Sein Blick war es, der mich faszinierte. Dieser durchdringende, hypnotische Blick aus seinen grauen Augen, die zwar hell waren, aber irgendwie auch dunkel. Er blinzelte verschlafen. Für einen Augenblick schien er vergessen zu haben, wo er war.

»Oh Emi, deine Schönheit tut weh. Ich musste mich gestern schon betäuben, um dich nicht ständig ansehen zu müssen. Bitte geh wieder, sonst werde ich gar nicht mehr gesund. Grüß Henry und sag ihm, er soll immer gut auf dich aufpassen und dich nie aus den Augen verlieren. Ich meine das genau so, wie ich es sage.«

»Du Spinner«, erwiderte ich, »ich hoffe, du wirst uns auch in Zukunft besuchen kommen, auch wenn ich jetzt in einer dir verhassten Institution verschwunden bin.«

»Es ist das Beste so«, sagte Robert.

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26 may 2021
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