Das letzte aller Tage

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Seriyadan: Lindemanns #279
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„Hahaha ... nicht witzig! Nein, wirklich. Ich ... also wir ... haben seit drei Monaten keinen Sex mehr, nichts, nada, niente. Nur noch kuscheln.“ Betrübt sah mich Claudia an.

„Tja! Kuscheln. Das hast du gesagt. Hört sich an, als ob ihr verheiratet seid!“ Ich stieß ihr lachend in die Seite.

„Boah ... kannst du auch mal ernst sein? Hier geht es schließlich um Sex, das ist ein ernstes Thema!“

„Tschuldige. Tut mir leid. Willst du mir erzählen, warum ihr keinen Sex mehr habt?“

„Na ja“, begann Claudia zunächst zögerlich. „Zuerst waren es nur ein paar Tage ohne Sex, dann wurden ein paar Wochen daraus und jetzt sind es schon Monate. Wie es dazu kam, kann ich dir im Detail auch nicht erklären. Das hat sich einfach so eingeschlichen. Komisch, was? Zuerst war ich nach der Arbeit immer zu müde und als mir dann auffiel, dass wir schon länger keinen Sex mehr hatten, war ich echt stinksauer auf Klaus ...“

„Wieso das denn?“, unterbrach ich sie. „DU warst doch zu müde für Sex!“

„Stimmt. Aber Klaus unternahm nicht mal den geringsten Versuch zu fummeln oder so. Ihm war das so was von egal. Na ja, der Brüller war er ja noch nie im Bett!“

„Oijoi ... jetzt aber mal langsam!“ Ich versuchte Claudia etwas auszubremsen. „Warum bist du denn mit Klaus überhaupt noch zusammen, wenn dein Sexleben so frustrierend ist?“

„Nun, das kann ich dir sagen. Aus zwei Gründen. Erstens, weißt du überhaupt, dass man laut Statistik um die fünfzig nach dem zehnten bis zwölften misslungenen Date überhaupt keine Chance mehr hat, einen Partner zu finden? Und zweitens, weil er mir einfach gut tut. Verstehst du?“ Auf Zustimmung wartend sah mich Claudia an.

„Echt jetzt? Um die fünfzig sieht es so mies aus, einen Mann zu finden? Das ist ja beängstigend!“

„Ja, und es kommt noch besser. Ab dem sechsunddreißigsten Lebensjahr orientiert sich der Mann bei seiner Partnerinnenwahl um zehn Jahre nach unten, was sich jeweils auf weitere zehn Jahre nach oben beim Mann und auf weitere zehn Jahre nach unten bei der Frau korrigiert. Das heißt, wenn der Mann sechsunddreißig ist, sollte seine Wunschpartnerin sechsundzwanzig sein, und wenn er sechsundvierzig ist, sollte sie wiederum sechsundzwanzig sein, und wenn er sechsundfünfzig ist ...“

„Lass mich raten ... sollte die Partnerin sechsundzwanzig sein?“ Ungläubig starrte ich Claudia an. „Das verunsichert mich jetzt aber. Ich bin keine sechsundzwanzig mehr, soll das etwa heißen, ich würde jetzt nie mehr wieder einen Mann abkriegen, wenn ich meinen nicht hätte? Stimmt das überhaupt, was du mir da erzählst?“

„Aber ja doch! Das habe ich gerade erst in einer Wissenschaftssendung gesehen“, bestätigte Claudia eifrig.

„Nun ja, zwischen Traum und Wirklichkeit beim Mann liegen immerhin noch wir mittelalten Frauen, hehehe!“, lachte ich hämisch. „Außerdem ist das ja der Hammer! Was soll das denn? Guck dir doch mal die Männer in unserem Alter an. Die Mehrzahl davon sieht aus wie der kleine Bruder vom Michelin-Männchen. Genauso viele Hüftringe, genauso bleich im Gesicht und Glatze Mit diesen hinreißenden Attributen wälzt sich das starke Geschlecht durch die Öffentlichkeit und unterhält sich prächtig in Aufreißermanier über weitaus jüngere Frauen. Letztens sagte doch so ein Schwabbelbauch zu seinem Kumpel an der Bar, dass das Mädel dort hinten ruhig ein bisschen abnehmen könne, damit sie passend wäre. Hä? Passend? Für wen? Als ich in die Richtung sah, in die die zwei Fettbacken gafften, traute ich meinen Augen nicht. Da saß ein Mädel so um die siebzehn und hatte eine ganz passable Figur. Ich weiß gar nicht, was sich solche Kerle dabei denken, wenn sie solche Sprüche ablassen. Ob die das Wort Spiegel wenigstens buchstabieren können, wenn sie schon in keinen reinschauen? Die glauben doch im Ernst, dass sie mit ihrem derangierten Aussehen eine Scarlett Johannsen abschleppen könnten. Richtige Macho-Arschlöcher waren das. Aber ganz davon abgesehen, wäre es mir neu, wenn Zwanzigjährige auf Kahlschlag und fette Plauzen abfahren.“

„Wenn das Bankkonto stimmt, dann kann man den einen oder anderen Bierbauch und den Haarmangel an der falschen Stelle schon mal übersehen.“ Claudia lachte verächtlich auf.

„Mag sein, aber das hat doch nichts mehr mit Liebe zu tun!“, protestierte ich.

„Wo lebst du denn, Moni? Männer um die fünfzig erheben doch nicht den Anspruch, von einer dreißig Jahre jüngeren Frau geliebt zu werden. Bei denen denkt doch nur noch der mittlere Körperteil.“

„Da hast du auch wieder recht! Männern kann man ja so leicht etwas vorspielen, und bei den Sugardaddys ist das nicht mal nötig. Da wird mir schlecht!“

„Gibt’s eigentlich auch Sugarmommies? Vielleicht könnten wir ...“

„Hör auf“, unterbrach ich Claudia, während sich mein Körper von alleine schüttelte. „Ich hab doch eben gesagt, dass mir dabei schlecht wird. Da bleibe ich dann doch lieber für den Rest meines Lebens alleine.“

„So würde das dann auch aussehen. Willkommen in der Realität, meine Liebe!“, sagte Claudia mit wissendem Gesichtsausdruck.

„Wie meinst du das? Du weißt mal wieder mehr als ich, was?“

„Nun, ich bin schließlich eine aktiv Liierte!“

„Was bedeutet das schon wieder?“

„Das bedeutet, dass ich, im Gegensatz zu dir, stets meine Augen offen halte und deswegen in puncto Männer mehr sehe und weiß als du. Zum Thema Beziehungswahrscheinlichkeit kann ich dir jetzt mal ein bisschen was erzählen. Hast du zum Beispiel gewusst, dass das Geschlechtsverhältnis bei der Befruchtung bei circa eins Komma drei männlich zu eins Komma null weiblich steht? Ne, hast du wohl nicht gewusst, was? Und, weißt du auch, warum? Ne, weißt du auch nicht, was? Der Überschuss von null Komma drei beim männlichen Geschlecht erklärt sich dadurch, dass die männlichen Y-Spermien leichter sind und eine höhere Geschwindigkeit haben. Da staunst du, was ich alles weiß!“, sagte Claudia stolz.

„Und ob, da staune ich. Warum interessiert dich so etwas eigentlich?“

„Damit ich mir die Chancen einer Beziehung in meinem Alter errechnen kann!“

„Aha“, sagte ich. „Und wie hoch sind deine errechneten Chancen?“

„Gar nicht hoch. Eigentlich sogar ziemlich niedrig. Das habe ich dir ja mit der Anzahl der misslungenen Dates schon erklärt.“

„Aber zehn bis zwölf Dates sind doch immerhin was“, stellte ich fest, „da könnte man sich zur Not immerhin noch arrangieren.“

„Ja, schon, aber zu diesen zwölf Dates wird es in einer Stadt nie kommen. In den Städten findet sich nämlich tatsächlich ein Frauenüberschuss, wohingegen auf dem Land ein Männerüberschuss zu verzeichnen ist.“

„Woher weißt du das alles?“

„Statistiken, Internet! Die beste Chance, noch einen abzukriegen, hätte ich in ostdeutschen Landkreisen, da dort ein signifikanter Frauenmangel herrscht. Aber will ich im Bett hören: Gloodia, isch sooch dir, du bist efach so heeß!‘?“

„Hör auf ... hör auf ...“, prustete ich lachend hervor.

„Newoohr, da gänndsch bleede wärn!“, setzte Claudia noch einen drauf. Dann platzte das Lachen gleichzeitig aus uns heraus.

„Sei froh“, sagte ich immer noch glucksend, „dass du deinen Klaus hast. Du musst also nicht gen Osten ziehen.“

„Weißt du eigentlich, dass ich verheiratete Männer riechen kann?“ Claudia überraschte mich doch immer wieder aufs Neue. Ich kommentierte ihren absonderlichen Satz allerdings lediglich mit einem gelangweilten „Aha“.

„Doch, echt jetzt. Verheiratete Männer riechen nämlich nach Weichspüler.“

„Weichspüler?“, wiederholte ich.

„Ja, du musst mal darauf achten. Du musst riechen! In der Stadt funktioniert das nicht so gut, aber zum Beispiel beimJoggen oder beim Sport. Wenn also ein Mann während des Sports oder beim Spazierengehen an dir vorbeiläuft und nach Weichspüler riecht, dann kannst du zu fünfundneunzig Prozent davon ausgehen, dass er verheiratet ist. Oder hast du schon mal einen Mann Weichspüler einkaufen sehen? Hä? Denk mal nach! Mann und Weichspüler? Welcher Mann will denn freiwillig nach Wilder Rose oder Echter Vanille oder Sommerabend riechen? Ein Mann will wie ein echter Kerl riechen, verstehst du! Testosteron und Bier. Verstehst du das?“ Claudia zwinkerte mir feixend zu.

Ich grinste. „Das leuchtet mir sogar ein“, gab ich zu.

„Ist auch so. Da verwette ich meinen Allerwertesten drauf. Denk mal drüber nach!“

„Das werde ich tun! Da ist echt was dran. Witzig. In Zukunft werde ich darauf achten. Nur, wie weiß ich denn, ob der nach Weichspüler riechende Mann verheiratet ist oder nicht?“

„Kannst ja mal nachfragen, wenn dir ein Mann mit Aroma-Therapie-Duft begegnet“, grinste Claudia frech. „Sollte er, was ich nicht glaube, zu den unverheirateten Männern gehören, die Weichspüler freiwillig benutzen, dann hast du A gleich eine Bekanntschaft gemacht, musst dir B aber gleich die Frage stellen, warum er unverheiratet ist und Weichspüler benutzt.“

„Du meinst, er könnte vielleicht anderweitig orientiert sein? Ist das nicht zu weit hergeholt? Unverheiratete Männer, die Weichspüler freiwillig benutzen, sind deiner Meinung nach auf jeden Fall schwul? Du hast Ideen. Da kann man nur staunen.“ Ich winkte ab. „Jetzt erzähl mir doch lieber, warum dir Klaus, wie du sagst, gut tut.“

„Okay, Themawechsel. Du kennst doch meinen stressigen Job. Ständig bin ich unterwegs und manchmal tagelang nicht zu Hause. Und wenn ich dann nach Hause komme, dann gibt es da jemanden, der für mich da ist, der auf mich wartet. Er tut mir einfach gut, fertig.“

„Ja, das verstehe ich.“ Ich nickte zustimmend – ich verstehe das wirklich. Alleine sein ist ziemlich doof.

„Und du?“, fragte Claudia. „Warum hast du in deinem Alter noch mal geheiratet? Du wolltest doch nach deiner gescheiterten Ehe nie mehr heiraten.“

 

„Ich? Tja, ich würde sagen, aus Liebe. Meine erste Ehe darfst du ja streng genommen nicht zählen. Ich war viel zu jung und außerdem war mir damals nicht klar, dass es bei einer Ehe darum geht, für immer und ewig mit einem Mann zusammen zu sein. Das ist doch Quatsch! Ich kann doch mit knapp zwanzig niemandem versprechen, für immer und ewig mit ihm zu leben... So ein Blödsinn!“ Ich schüttelte vehement meinen Kopf.

„Da hast du recht! Totaler Schwachsinn. So eine Entscheidung kann man mit zwanzig gar nicht treffen. Ist man in dem Alter eigentlich schon ausgewachsen?“

„Hach, ich liebe es, wenn man mir recht gibt. Und? Was willst du jetzt mit deinem Problem machen?“

„Ich hab’s vor ein paar Wochen mit einem Verhältnis versucht, aber die Männer taugen ja auch nichts mehr.“

„Was? Wie bitte? Mit einem Verhältnis?“

„Ja, war ein Versuch, aber der Typ war einfach zu dämlich. Den hab ich auf einer Geschäftsreise kennengelernt und gleich mit ins Hotel genommen. Der Sex war mittelmäßig, aber sicherlich ausbaufähig. Man hätte was draus machen können. Zumindest waren wir uns über eine Wiederholung zunächst einig. Ja, und als ich ihn dann ein paar Wochen später anrief, bekam er Muffensausen und stotterte wie ein Pennäler am Telefon rum. So nach dem Motto, er wisse jetzt nicht so genau, wie und was und wenn das seine Frau erfährt und er hat doch zwei Kinder... laber, laber ... Vollidiot!“

„Manche Männer sind schon komisch. Zuerst ein One-Night-Stand und danach schlechtes Gewissen und Arsch auf Grundeis. Da werd mal einer schlau aus den Jungs.“

„Ja, schade“, sagte Claudia. „Der Kerl sah echt gut aus. So ein südländischer Typ mit dunklen Augen“, schwärmte sie und ihr Gesicht sah dabei aus, als ob sie schon wieder im Hotelzimmer wäre.

„Hallo, Erde an Claudia. Komm mal wieder zurück! Was willst du denn jetzt mit deinem Problem machen?“, fragte ich sie nun zum x-ten Mal.

„Keine Ahnung. Abwarten?“

„Auf was willst du denn warten?“

„Darauf, dass es meinen ollen Freund mal so richtig juckt und er den ersten Schritt macht.“

„Ob sich nach deiner Beschreibung das Warten lohnt? So wie das bislang deiner Erzählung nach gelaufen ist, wirst du wohl gut und gerne noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten müssen, wenn’s dumm läuft.“

„Apropos. Was läuft denn bei dir mit dem Sex ... oder auch nicht?“, fragte Claudia grinsend.

„Öh ... ich ... nun ja ...“, begann ich stotternd, weil ich mich überrumpelt fühlte.

„Hallo! Jetzt nur nicht so schüchtern. Schieß los!“

„Ja, also so gesehen, ist bei uns alles okay, das heißt, wir haben ... äh hätten so zwei- bis dreimal die Woche Sex ...“

„Wow, ich beneide dich darum“, unterbrach mich Claudia.

„Danke ...“, sagte ich zögerlich.

„Halt mal. Hä? Wieso sagst du, hätten? Erzähl schon! Muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Das passt doch, zwei- bis dreimal die Woche. Ist doch super!“

„Mag sein, dass das passt und auch super ist, aber bei mir passt es nicht.“

„Wie jetzt? Bei dir passt es nicht? Ist dir das etwa zu oft?“

„Nein, das nicht ... oder doch ja, jetzt irgendwie schon ... also... aber es geht vielmehr darum, dass ich nichts mehr ... wie sag ich’s jetzt ... ich spüre absolut nichts mehr beim Sex. Das ist irgendwie so ... so ... Also nur so ein Rein und Raus, ohne dass ich auch nur irgendwie ein Gefühl in mir dabei hätte. Außerdem bekomme ich auch gar keinen Orgasmus mehr und überhaupt... Ich hab auch gar keine Lust mehr!“ So, jetzt ist es raus, dachte ich.

„Oh, oh ...“

„Mehr fällt dir dazu nicht ein?“

„Nein!“

„Das ist aber nicht gerade hilfreich“, sagte ich.

„Du spürst gar, gar nichts? Wie geht das denn? Ich meine, du musst doch spüren ob ein, ähm ... du weißt schon, was ... in dir drin ist oder nicht. Nichts spüren, das gibt’s doch gar nicht!“ Claudia war auffällig irritiert.

„Doch, jetzt glaub’s mir halt. Beim letzten Sex wäre es echt egal gewesen, ob mein Mann da unten sitzt und ein Lied in meine Vagina singt oder ganz was anderes macht. Nichts davon hätte ich gespürt.“

Claudia kicherte, stellte aber gleich darauf ernsthaft die Frage, ob ich deswegen schon beim Frauenarzt gewesen bin. „Vielleicht ist ja was kaputt“, sagte Claudia.

„... kaputt?“, unterbrach ich Claudia. „Meine Vagina oder mein Orgasmus-Schalter oder was?“

„Nee, jetzt mal ernsthaft. Mit kaputt meinte ich eigentlich, ob vielleicht irgendwas mit dir oder in deinem Bauch oder so nicht in Ordnung ist.“

„Dachte ich auch schon. Das beunruhigt mich auch sehr. Vielleicht ist es ja was Organisches. Weißt du, es kam so plötzlich. Von heute auf morgen war meine Lust weg. Zum einen spüre ich nichts mehr und zum anderen ist mir Sex egal geworden. So kenne ich mich gar nicht.“

„Na ja“, sagte Claudia nachdenklich. „Wenn man nichts spürt beim Sex, dann kann man auch nicht sonderlich scharf darauf sein. Ich denke mal, das eine bedingt das andere, aber letztendlich weiß ich auch nicht, was schlimmer ist. Gar kein Sex oder Sex, ohne was zu spüren.“

„Und jetzt?“, fragte ich hoffnungslos mit gefühlten Tränen in den Augen.

„Jetzt gehst du erst mal zum Frauenarzt und lässt dich durchchecken, damit du wenigstens auf der sicheren Seite bist. Und dann gibt es ja immer noch so kleine Hilfsmittel.“

„Was für Hilfsmittel?“, fragte ich neugierig.

„Ich hab letztens erst von so einem Gel gelesen. Wie hieß der Hersteller noch mal ... Dulcolax?“ Claudia dachte intensiv nach.

„Dulcolax? Ist das nicht gegen Verstopfung?“, sagte ich.

„Ja, stimmt, du hast recht“, Claudia schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Nicht Dulcolax. Duracell? Duri ... Duro... Mensch mir fällt es nicht ein. Mein Hirn hat auch schon mal besser funktioniert!“

Ich schnaubte durch die Nase. „Duracell? Das ist die Batteriewerbung mit dem Hasen. Konzentrier dich doch mal!“

„Durex! Erlebnisgel!“, hörten wir plötzlich eine Stimme hinter uns sagen.

Claudia und ich sahen uns verblüfft an und drehten uns langsam um. In der hinteren linken Ecke saß eine Enddreißigerin mit einer Frauenhochglanzzeitschrift in den Händen und sah uns grinsend an.

„Haben Sie uns etwa belauscht?“, fragte ich puterrot ob des pikanten Themas, das wir schon seit geraumer Zeit hatten. Die wird doch hoffentlich nicht alles gehört haben, dachte ich. Und... kennt die uns? Kennt die unsere Männer, kennt die unsere Namen? Wie peinlich!

„Belauschen musste ich Sie wirklich nicht“, sagte die Frau aus der Ecke. „Sie reden laut genug. Ich wollte ihnen mit meinem Einwurf nur behilflich sein. Haben Sie ein Problem damit?“

„Nöö ... nicht so richtig“, sagte Claudia gedehnt.

Wir sahen uns etwas befremdet an.

„So ein Mist“, raunte mir Claudia zu. „Kennt die uns? Kennst du die?“

„Nein“, flüsterte ich und schielte nochmals in die Ecke.

Unsere Mitwisserin bezahlte und ging in Richtung Ausgang. Als sie an unserem Tisch vorbeikam, sagte sie: „Durex – nicht vergessen! Ist echt gut, taugt was und macht richtig Spaß.“ Dann zwinkerte sie uns noch zu und ging. Hoffentlich auf Nimmerwiedersehen! Gott, wie peinlich.

Natürlich habe ich mir das Erlebnisgel in der Drogerie gleich besorgt. Als ich zu Hause ankam, war es zwar erst kurz vor siebzehn Uhr, aber ein kleiner Erlebnistest am Nachmittag konnte sicherlich nicht schaden. Nachdem ich mich meiner Jeanshose und meines Slips entledigt hatte, las ich ausführlich die Gebrauchsanweisung. Dann entnahm ich dem Spender etwas Gel (aber erst mal gaaaaanz wenig) und tupfte mir die Glibbermasse behutsam auf meine Schamlippen. Ich kniff die Augen zusammen und wartete. Es geschah nichts. Ich öffnete ein Auge und wartete weiter. Es geschah wieder nichts. Dann versuchte ich es mit einem klitzekleinem bisschen mehr Gel – man soll’s ja nicht übertreiben. Ich wartete. Es geschah immer noch nichts. Jetzt wartete ich nicht mehr länger, sondern schmierte gleich eine fette Portion von dem Gel auf meine Schamlippen. Diesmal musste ich nicht warten. Ein heftiges Bizzeln und Prickeln machte sich zwischen meinen Beinen breit. Ich zappelte circa zwölfeinhalb Sekunden wie ein Kind, das dringend Pippi muss, von einem Bein auf das andere. War das der Anfang? Geht’s jetzt los? Was passiert als Nächstes? Nichts passierte! Nach einigen Sekunden hörte es mit dem Bizzeln und Prickeln schlagartig wieder auf. Das war also das Erlebnis? Und wo ist jetzt meine Lust auf Sex? Kommt die noch? Kritisch sah ich auf meinen Schamhügel runter. Soll ich noch warten?

Ein einfaches Prickeln scheint bei mir auf jeden Fall nichts auszulösen. Jetzt war ich noch frustrierter als zuvor. Ich will doch einfach nur meinen gesunden, guten Sex zurück haben. Ich habe ein Recht auf meinen Orgasmus! Ich will meinen Körper wieder spüren. So richtig, mit Lust und Gänsehaut und Sternchen und Explosionen im Kopf und nicht nur an einer Stelle bizzelnd. Verdammt, ich will wieder eine funktionierende Frau sein! Enttäuscht setzte ich mich auf den kalten Badewannenrand. Die ersten Tränen rollten über meine Wangen und tropften auf meine nackten Schenkel. Mein Selbstwertgefühl war wirklich am Boden. Morgen gehe ich auf jeden Fall zum Frauenarzt, und der kann was erleben, dachte ich zornig ins Klopapier schniefend.

3. Kapitel

Neulich beim Frauenarzt

„Oh, Frau Marsch, das tut mir aber leid! Der Herr Doktor hat gar keinen Termin frei.“ Die Sprechstundenhilfe stöhnte durchs Telefon und blätterte hörbar wild im Terminkalender rum.

„Ich muss aber dringend mit Doktor Paules sprechen, dringend! Verstehen Sie?“, ich ließ nicht locker.

„Ist es ein Notfall?“

Meine Chance! „Ja, sehr große Not!“, sagte ich und dachte dabei wütend: Ich bekomme nämlich keinen Orgasmus mehr, weil mir ihr blöder Herr Doktor so bescheuerte Pillen verschrieben hat.

„Ja, was haben Sie denn?“

Mist! „Äh, ich habe ... ich, tja, also ich ...“

„Ah, verstehe!“, kam es aus dem Lautsprecher meines Smartphones. „Sie haben sicher einen Pilz?“

„Äh, ja. Richtig. Danke, genau!“, log ich.

„Gut, dann mache ich eine Ausnahme, kommen Sie doch so gegen fünfzehn Uhr. Kann aber sein, dass Sie ein bisschen warten müssen!“

Wieder Mist! Das kenne ich. Ein bisschen warten. Auf knappe zwei Stunden kam ich beim letzten Ein-bisschen-Warten.

„Ja, danke. Kein Problem“, log ich zum zweiten Mal, „geht in Ordnung, wir sehen uns dann um fünfzehn Uhr.“

So. Den Termin habe ich. Der kann was erleben!

Fünfzehn Uhr beim Frauenarzt, ohne Pilz. Ich warte ein bisschen und warte ein bisschen und warte ein bisschen und warte noch ein bisschen und werde nach einer Stunde und fünfzig Minuten (Bingo – ich hab’s doch gewusst!) endlich aufgerufen.

„Frau Marsch bitte in Zimmer fünf“, tönte es hohl aus dem Lautsprecher im Wartezimmer.

Der Name war Programm, Frau Marsch setzte sich in Bewegung. Wütend hackte ich meine Absätze beim Gehen in den strapazierfähigen Polyester-Teppich. Meine Mission: Ich will meinen Orgasmus wieder haben!

„Frau Marsch, guten Tag. Setzen Sie sich. Was kann ich für Sie tun? Sie haben einen Notfall?“, freundlich lächelnd, mit zum Gebet gefalteten Händen vorm Gesicht, saß mein Frauenarzt, bekleidet mit einem weißen Lacoste-Poloshirt, hinter seinem grobklotzigen Mahagonischreibtisch. Genauso (ebenfalls im weißen Lacoste-Poloshirt), nur etwas aufrechter und mit weitaus mehr Haaren auf dem Kopf, saß er vor fast zwanzig Jahren vor mir, als ich ihn zum ersten Mal aufsuchte. Damals war ich allerdings ein echter Notfall!

Bei meinem allerersten Frauenarztbesuch war ich fünfzehn, fast sechzehn! und alleine.

Nur gut, dass es Doktor Sommer aus der Bravo gab, denn ausschließlich seinetwegen hatte ich mich zu meinem ersten Gang zum Frauenarzt durchgerungen. Doktor Sommer schrieb nämlich, dass man unbedingt einen Frauenarzt aufsuchen sollte, wenn man über Sexualität mehr wissen möchte und auch, damit man auf jeden Fall richtig verhütet. Und alles, was Doktor Sommer schrieb, war richtig, denn die Bravo war unsere Bibel!

Einen festen Freund hatte ich zwar noch nicht, aber „man weiß ja nie, was kommt“, schrieb Doktor Sommer. Was hätte unsere Generation nur ohne „Sprechstunde bei Doktor Sommer“, dem Arzt, dem die Teenager vertrauten, gemacht?

So kam es also, dass ich mit fünfzehn, fast sechzehn, alleine im Wartezimmer bei einem Frauenarzt saß und nicht im Geringsten wusste, was auf mich zukam. Als ich aufgerufen wurde und dann im Besprechungszimmer saß, war mir angst und bange. Ich traute mich kaum, den Mann hinter dem Schreibtisch, also den Frauenarzt, anzuschauen.

 

Mit ruhiger Stimme stellte er mir Fragen, während ich nervös an meinen Fingern rumknibbelte. Dann schickte er mich hinter den Paravent zum „unten freimachen“ und verließ den Raum. Ich zog meine Karottenjeans und meine Unterhose, auf der Dienstag stand, obwohl Mittwoch war, zögerlich aus. Nun war ich unten frei, Gott, wie peinlich. Vom Paravent bis zum Frauenarztstuhl waren es wahrscheinlich nicht mehr als drei Meter, aber in meinem Unten-frei-Zustand erschien mir die Entfernung unüberwindbar. Mit zusammengekniffenen X-Beinen stand ich barfüßig auf dem kalten Linoleumboden und spickte durch den Schlitz im Vorhang – keiner da! Was muss ich jetzt tun? Bedrohlich stand dieses Stuhlmonstrum vor mir. Die Beinablagen, die links und rechts vom Stuhl befestigt waren, ließen Schreckliches ahnen! Die Tür ging auf und der Mann, der zuvor noch hinter dem Schreibtisch gesessen hatte, trat schwungvoll ein, um erst einmal ausgebremst stehen zu bleiben. Er stutzte und sah sich suchend um. War jetzt der richtige Zeitpunkt, um hinter dem Paravent hervorzutreten?

„Hallo?“, sagte er vorsichtig in den Raum. „Sind Sie noch da?“

„Äh, ja“, krächzte ich hinter dem Vorhang, nachdem mir vor Aufregung fast die Stimme wegblieb. „Muss ich jetzt rauskommen?“, fragte ich unsicher.

„Für eine Untersuchung wäre das sinnvoll“, sagte der Arzt schmunzelnd. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich dreh mich auch gerne noch mal um, bis Sie auf dem Stuhl sitzen. Kommen Sie, trauen Sie sich nur.“

Seine Stimme war warm, weich und ermutigend. Er drehte sich wie versprochen um. Zögerlich und ganz leise schlich ich auf Zehenspitzen los. Dann hievte ich mich auf das eiskalte Stahlgestell, dessen beige Lackierung an stark beanspruchten Stellen schon abgeblättert war. Als ich auf dem Frauenstuhl saß und meine Beine links und rechts auf die Ablage gelegt hatte (Gott, das Ganze wurde immer peinlicher), konnte ich es kaum glauben, dass ein fremder Mann seinen Kopf zwischen meine Beine steckte.

Während der Untersuchung versuchte ich nicht zu atmen und so teilnahmslos wie möglich an die Decke zu starren. Sie war weiß. Einmal lugte ich ganz kurz – äußerst bemüht, dabei nicht aufzufallen –, zwischen meine Beine. Ich sah nur einen Hinterkopf mit schwarzen Haaren. Das genügte mir schon – ich sah lieber wieder zur Decke.

„So, wir sind fertig, Sie können sich wieder anziehen“, sagte er, während er mit einem zuerst schlürfenden und dann schnalzenden Geräusch die Gummihandschuhe auszog. Wir sind fertig, sagte er. Hm, was haben wir denn gemacht? Ich lag doch nur verkrampft da und war durchgängig bemüht, wegen der Flachatmung nicht blau angelaufen vom Stuhl zu fallen ...

Seither war Herr Doktor Ebersheim für die kommenden zehn Jahre mein Frauenarzt. Wir sahen uns regelmäßig alle sechs Monate zur Untersuchung. Nach zwei Jahren hatte ich mich an ihn gewöhnt, und ich wusste auch, wie er aussah, da ich irgendwann den Mut fand, ihn während unserer Gespräche anzusehen. Doktor Ebersheim war mit den Jahren zur festen Instanz meines Frauenlebens geworden. Bis zu dem tragischen und traurigen Moment, an dem er meinte, freiwillig aus dem Leben scheiden zu müssen.

Doktor Ebersheim war der beliebteste Frauenarzt in der Stadt. Alle Frauen im Frauenarztalter waren über sein Dahinscheiden zunächst zutiefst betroffen. Das Geheimnis hierbei war, dass er unglaublich einfühlsam, behutsam und zurückhaltend war und immer warme Hände hatte. Und das Wichtigste: Er konnte zuhören! Diese Eigenschaft zählte nicht unbedingt zu den typisch männlichen, aber er, er hatte sie! Durch sein überaus großes Frauenverständnis fühlte man sich von ihm als Mann nicht bedroht. Diese bis dato nicht vorhandene Bedrohung kehrte sich allerdings rasch ins Gegenteil um, als sich nach seinem Selbstmord herausstellte, dass er schwul war.

In den Siebzigern und Achtzigern war Homosexualität weitgehend unbekannt. Ganz davon abgesehen gab es doch in unserer Stadt so was nicht! Ich erinnere mich noch genau daran, dass man 1985, als Rock Hudson (ein Bild von einem Mann!) an Aids starb, erstmals öffentlich von einer „Schwulen-Krankheit“ sprach. In den Achtzigern war man auch noch der Meinung, dass sich nur Homosexuelle und Heroinsüchtige mit Aids infizierten.

Als durchsickerte, dass sich unser Frauenarzt das Leben genommen hatte, weil er von seinem Lebensgefährten verlassen worden war, wurde aufs Heftigste spekuliert und getuschelt. Die Trauer um ihn verwandelte sich kurzerhand zuerst in Misstrauen und daraufhin in Hysterie. Schließlich war er schwul! Also musste er Aids haben! Waren nun alle seine Patientinnen durch bloße Berührung mit Aids infiziert? Frauen, die zuvor Lobeshymnen auf Doktor Ebersheim gesungen hatten, verleugneten nun aus Angst vor Diskriminierung, Patientin bei ihm gewesen zu sein. Da haben wir’s wieder: Unwissenheit erzeugt Angst.

Ob er schwul war oder nicht, ob er Aids hatte oder nicht, das beschäftigte mich weniger. Ich trauerte vielmehr um einen liebenswürdigen Menschen und einen verständnisvollen Frauenarzt. Zudem war er der einzige Mann gewesen, der außer meinen jeweiligen Intimfreunden das Recht hatte, in die Nähe meiner Schamlippen zu kommen. Ironischerweise hinterließ er als schwuler Mann dennoch unzählige, trauernde Frauen. Auch ich stand da, trauernd und frauenarztlos. Und jetzt? Nach einigen frauenarztlosen Jahren war ich der Meinung, dass eine Routineuntersuchung vielleicht nicht das Schlechteste sein könnte. Ich fühlte mich topfit und meine untere Körperhälfte war klaglos und guter Dinge. Wenn allerdings ab und an mal jemand reinschauen würde, könnte das bestimmt kein Fehler sein. Vielleicht sollte ich es mal mit einer Frauenärztin versuchen?

Eine einzige Frauenärztin gab es damals in unserer Stadt, und ich vereinbarte einen Termin. Eine gnadenlose Panne nahm ihren Lauf! Doktor Virginia Adele war eine der ersten hergeheirateten Russinnen in unserer Kleinstadt. Mein erster und einziger Besuch in ihrer Praxis wurde mir fast zum Verhängnis. Als ich in die Praxis eintrat, lief ich gegen eine Wand. Eine Wand aus Sauerkraut, Knoblauch und Körperschweiß. Mir wurde übel. Hab ich die richtige Tür zur Frauenarztpraxis erwischt oder bin ich in der Umkleidekabine einer anatolischen Jugendfußballmannschaft gelandet?

Etwas verunsichert sah ich die Sprechstundenhelferin an, die mir, hinter dem Empfangstresen sitzend, ermutigend mit einem Alles-in-Ordnung-Blick lächelnd zunickte. Nach den üblichen Formalien bat sie mich, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Als ich zögerlich die Tür zum Wartezimmer öffnete, wurden meine Schritte auch hier jäh ausgebremst. Reflexartig hielt ich den Atem an. Ich traute meinen Augen nicht.

Im Wartezimmer saßen fünf, komplett in schwarz vermummte Frauen mit den anscheinend dazugehörigen Männern, deren schwarze Haare und Bärte wild und unkontrolliert auf und aus ihrem Kopf wuchsen. Tiefschwarze Augenpaare starrten mich grimmig an, als sie mich mit meinem Minirock bekleidet in der Tür stehen sahen. Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit gewesen, wieder einmal zu atmen, was ich mich aber nicht traute. Ich lächelte angestrengt in die Runde, nickte, drehte mich um, schloss die Tür von außen und atmete vorsichtig ein ... aber nur ganz flach und nur durch den Mund. Dann ging ich zurück zur Sprechstundenhilfe, um nach der Toilette zu fragen. Sie zeigte freundlich auf eine Tür, die ich schnurstracks ansteuerte. Auch hier hing ein alles durchdringender Geruch nach fremdländischen Gewürzen fest, der allerdings durch den Meeresbrise-Klostein eine weitere Variante erhielt.

In Sekundenschnelle hatte ich die Situation erfasst. Ich stieg auf die Toilettenschüssel, riss das kleine, schmale Fensterchen auf und sog mit weit geöffnetem Mund wie eine Ertrinkende die frische Luft ein. Hätte die Sprechstundenhilfe nicht gegen die Toilettentür geklopft um mir mitzuteilen, dass ich jetzt dran wäre, dann hätte ich an diesem schmalen Fensterchen den Rest meines Lebens verbracht.