Toter Pfarrer - guter Pfarrer

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Häferle verdrehte die Augen. „Was soll ich dazu schon sagen?“, entgegnete er. „Wenn die Bischöfe das so entscheiden, dann wird das auch so gemacht.“ ‚Hierarchie!‘, dachte Kellert, ‚hab‘ ich es nicht gesagt?‘ Der Vikar sprach weiter: „Die Arbeit wird für uns bestimmt nicht leichter. Jetzt betreuen wir eben vier, oder wie hier bei uns, sechs Gemeinden, die früher irgendwann alle mal einen eigenen Pfarrer hatten.“

„Aber doch in einem Seelsorgeteam“, warf Dr. Bregnitzer ein: „Der Herr Pfarrer, Sie als Vikar, Reinhard Severin, der Diakon, und dann noch Frau Zoller, die Pastoralreferentin.“ „Natürlich, sonst ließe sich das doch gar nicht bewältigen“, bestätigte Häferle, „trotzdem sind wir nun auf sechs Gemeinden verteilt.“

„Für uns hier in Polzingen heißt das aber, dass wir nicht mehr, wie früher, zwei Gottesdienste haben, einen am Vorabend und einen sonntags um neun, sondern nur noch alle zwei, manchmal alle drei Wochen die Neun-Uhr-Messe“, warf Frau Winkler ein. „Was glauben Sie, was wir da zu hören bekamen, im Pfarrgemeinderat, als wir das den Leuten sagen mussten. Und der Herr Pfarrer erst! “

„Was denn?“, mischte sich Hannah Mellrich, hellhörig geworden, ein. „Na, wüste Beschimpfungen aller Art. Austrittsdrohungen – und einige sind dann auch tatsächlich ausgetreten. Natürlich auch Zeugnisse echten Entsetzens und tiefer Trauer. Man raubt den Leuten Liebgewonnenes. Das ihrem Leben Halt gegeben hat“, erklärte die Vorsitzende des Pfarrgemeinderates. „Aber doch nicht aus Mutwillen oder Boshaftigkeit, Frau Winkler“, gab Dr. Bregnitzer zu bedenken. „Diese Strukturreformen sind einfach unausweichlich.“ „Und wir haben doch unser Bestes dafür gegeben zu erklären, warum diese Änderungen notwendig sind“, ergänzte Vikar Häferle.

„Phhh, unausweichlich? Notwendig? Wer sagt denn das?“, gab sich Barbara Winkler nicht zufrieden. Kellert wollte dem Gespräch nun jedoch eine andere Wendung geben und übernahm das Wort: „Was für mich jetzt viel wichtiger ist: Wie stand denn Pfarrer Mooslechner zu diesen Veränderungen? Wurde er da wirklich auch persönlich beschimpft oder sogar bedroht?“

Es entstand eine kurze Stille. Diese Frage schien keiner der drei potenziell Angesprochenen beantworten zu wollen. Bregnitzer und Winkler blickten zu Vikar Häferle, der widerwillig einsah, dass er sich einer Antwort kaum entziehen konnte. „Sie müssen das so verstehen. Der Vitus, der gehörte noch einer anderen Pfarrergeneration an. Das waren die Achtundsechziger in der Kirche, die Generation, die vom Konzil geprägt war. Die einen Aufbruch wollten, politische und gesellschaftliche Veränderungen.“

Bregnitzer warf ein: „Er war aber schon ruhiger geworden, der Vitus Mooslechner. Realistischer mit den Jahren. Er war ja nur ein wenig jünger als ich. Ein guter Seelsorger wollte er sein, bei den Menschen. Mitten im Leben. So war der.“ „Genau, ein guter Seelsorger, ein verdammt guter“, schluchzte Barbara Winkler auf und wischte sich eine Träne von der rechten Wange.

Dass Vikar Häferle diese Einschätzungen so nicht teilte, war an seinem Gesicht abzulesen. Aber er sprach weiter. „Er hat sich gegen die Pläne des Bischofs gestellt, der Vitus. Gehörte zu einer Gruppe von Pfarrern, die Alternativkonzepte erarbeiten wollten. Als ob das nicht alles schon bedacht worden wäre! Jedenfalls hat er trotzdem die angeordneten Maßnahmen hier durchgeführt. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig. War persönlich nicht leicht für ihn, denke ich.“

„Wie: Er war gegen diese Veränderungen, hat sie aber selbst trotzdem mitgemacht? Habe ich das richtig verstanden?“, fragte Kellert nach. „Das haben ganz viele Pfarrer so gemacht!“, warf Frau Winkler ein. „Man schätzt, dass fast zwei Drittel aller Geistlichen gegen die Veränderungen waren – und auch immer noch sind.“ „Bitte nicht wieder so unsachlich, Frau Winkler!“, mokierte sich Dr. Bregnitzer. „Das ist doch völlig aus der Luft gegriffen, was Sie da sagen! Dafür gibt es doch gar keine Belege. Nur weil Ihnen persönlich diese Anpassungen nicht gefallen, müssen Sie doch nicht ständig mit haltlosen Behauptungen operieren.“

Noch bevor es zu einem weiteren Aufschaukeln der Emotionen kommen konnte, mischte sich Kellert wieder ein: „Und gab es nun konkrete Beschimpfungen oder Drohungen gegen Pfarrer Mooslechner persönlich?“ Die drei Angesprochenen sahen einander an. Hoben die Schultern. „Nichts Außergewöhnliches, nein“, meinte dann Barbara Winkler, nun wieder beruhigt. „Natürlich gibt es einige von den Alten, die geben dem Pfarrer die Schuld daran, dass wir keine eigenständige Pfarrei mehr sind. Die sehnen sich nach den Zeiten zurück, als St. Korbinian noch selbstständig war. Mit eigenem Pfarrer. Mit zwei regelmäßigen Gottesdiensten am Wochenende. ‚Vorabendmesse‘ und ‚Hochamt‘, schöne Namen.“

Vikar Häferle lachte auf, erntete aber nur unverständige Blicke und verstummte wieder. Barbara Winkler schüttelte kurz den Kopf, sprach dann aber weiter. „Da gibt es einige, die sagen: ‚Wenn der Herr Pfarrer sich nur genug eingesetzt hätte, wären wir heute immer noch selbstständig. Er hat sich nicht genug zur Wehr gesetzt.‘ Was vollkommen absurd ist.“ „Da stimme ich Ihnen ausnahmsweise einmal zu“, warf Dr. Bregnitzer ein.

Barbara Winkler ging über diese Bemerkung hinweg und redete weiter. „Aber das haben die ihm bis zuletzt vorgeworfen, immer wieder. Auch die alte Mesnerin, Frau Walterscheid. Sie werden sie noch kennen lernen. Und ihr Adlatus, der Hausmeister. Unzertrennlich, die beiden. Also nicht, dass die ein Paar wären, Gott bewahre. Aber hier in der Gemeinde gibt es sie nur im Duett. Witold Koslowski. Guter Hausmeister, da kann man nichts sagen. Aber konservativ bis über beide Ohren. Nun ja: ein Pole halt.“ „Frau Wagner!“, mahnte Dr. Bregnitzer. „Was soll das nun schon wieder? Diese Verallgemeinerung.“

Sie hob beschwichtigend beide Hände. „Ja, schon gut. So war das ja auch gar nicht gemeint. Aber kirchenpolitisch ist der nun einmal in den Fünfziger jahren stehen geblieben …“ „Wo gar nicht alles so schlecht war, wie Sie und Ihresgleichen es gern darstellen“, ereiferte sich der alte Arzt. Nun wurde es Kellert doch zu bunt: „Nun mal ganz ruhig, die Damen und Herren. Bitte! Habe ich das jetzt richtig verstanden, dass es also einige Leute gibt, die dem Pfarrer vorwerfen, seine Gemeinde, wie sage ich das jetzt, verraten zu haben?“

„Ganz richtig, gut zusammengefasst“, bestätigte Barbara Winkler, als gäbe sie einem ihrer Schüler eine gute Note für einen gelungenen mündlichen Beitrag. Lehrergewohnheit! „Aber nicht aggressiv. Oder bedrohlich. Diese Leute sind eben auch hierarchiegläubig, Herr Kommissar! Ein ‚Herr Pfarrer‘, das hat für sie schon noch eine Bedeutung.“ „Im Gegensatz zu Ihnen“, warf Dr. Bregnitzer ein, der eben doch auch Lust an diesem verbalen Scharmützel zu haben schien. Die Vorsitzende des Pfarrgemeinderates überhörte seinen Einwand geflissentlich. Dann fiel ihr noch etwas ein: „Moment! Drohungen gab es schon. Das sollten wir nicht ganz vergessen.“ Sie sah sich um. „Die alte Rotraud, natürlich.“

Kellert sah sie mit fragendem Blick an. „Ach so! Rotraud Zimmerer! Die alte Rotraud“, erklärte die Lehrerin. „Aber die kann man nicht so richtig ernst nehmen. Die ist schon über achtzig. Und schimpft ständig über alles und jeden. Über die Bundeskanzlerin, über den Bürgermeister, den Papst … und natürlich auch über den Pfarrer. Haben Sie die nicht auch schon einmal gesehen, hier in Polzingen? Im Sommer läuft sie doch immer laut redend durch das Dorf. Gestützt auf ihren alten Holzstock. Schimpfend und drohend. Aber die ist harmlos, die Rotraud. Die muss man einfach in Ruhe lassen.“ Richtig, die seltsame alte Frau war Kellert in der Tat schon das ein oder andere Mal aufgefallen. Da hatte er sie aber noch nicht so recht einordnen können.

7.

Dominik Thiele hatte sich derweil das Gelände von St. Korbinian angesehen. Hatte die Außenmaße der Kirche, des Pfarrhauses und des Gemeindehauses in Augenschein genommen. Nun war er in den Kirchenraum zurückgekehrt, den er gestern Mittag verlassen hatte. Die Absperrungen im Altarbereich waren schon wieder beseitigt worden. Die Kollegen von der Spurensicherung hatte ihre Arbeiten vor Ort längst beendet. Irgendjemand hatte ein Bild des Pfarrers vor den Altar gestellt. Mehrere vor dem Bild aufgebaute Kerzen erhellten die Gesichtszüge des Seelsorgers im halbdunklen Kirchenraum. Außer ihm war kein Mensch im Raum.

Doch! Aus der Bankreihe vorne rechts löste sich der Schatten einer Frau. Sie mochte Ende siebzig sein, schätzte Thiele, vielleicht auch schon Anfang achtzig. In Schwarz gekleidet. Hager. Gekrümmt. „Herr Kommissar?“, fragte sie unsicher. Als Thiele nickte, gab sie ihm schüchtern ihre zerbrechlich wirkende rechte Hand. „Mooslechner“, stellte sie sich vor, „die Schwester. Gertrud Mooslechner. Ich habe Sie mit den Polizeiwagen kommen sehen, deswegen habe ich Sie erkannt“, fügte sie mit brüchiger Stimme hinzu.

Thiele fiel auf, dass die Frau zitterte, fast einknickte, also wies er ihr einen Platz in der Bankreihe zu. „Setzen Sie sich doch, Frau Mooslechner!“ Er selbst hockte sich auf die Bank vor ihr, drehte sich etwas mühsam zu ihr hin. „Wohnen Sie denn auch hier?“, fragte er. „Ich wusste gar nicht, dass Pfarrer Mooslechner eine Schwester hat.“ Tatsächlich, das hatten sie noch gar nicht recherchiert.

„Eine? Wo denken Sie hin?“, gab Gertrud Mooslechner zurück. „Sechs Schwestern hat er gehabt, der Vitus. Unsere Eltern waren katholisch, junger Mann! Das hieß damals noch etwas, in meiner Zeit. Da hatte man so viele Kinder, wie der Herrgott es wollte. Aber ich bin die einzige, die noch lebt. Alle anderen sind schon gestorben. Waren ja auch alle schon weit über achtzig. Wissen Sie“, sie berührte ihn sacht am Unterarm, „der Vitus war ja der Jüngste. Ein Nachzügler. Da hat ja keiner mehr damit gerechnet, dass da noch ein Kind kommt! Und dann auch noch ein Junge. Unser Vater – Gott hab ihn selig! – hatte sich doch sein Lebtag einen Stammhalter gewünscht! Er sollte doch das Geschäft übernehmen. Die Korbmacherei. Dass der Herrgott ihm dann doch noch einen Bub geschenkt hat! Aber unsere Mutter hat von Anfang an gesagt: ‚Der geht nicht ins Geschäft. Das wird ein Priester!‘ So ist es dann ja auch gekommen.“

 

Sie versank in ihren Gedanken. Der Kirchenraum wurde vom unruhigen Flackern des Kerzenscheins vor dem Erinnerungsbild erhellt. Ein zarter Tannennadelduft erinnerte daran, dass Advent war. Der Raum war nur spärlich geheizt worden. Je länger man hier herumsaß, umso mehr kroch einem die lauernde Kälte scharf in die Knochen. Die alte Frau fröstelte, schickte sich aber nicht an, die Kirche zu verlassen. Das Gespräch über ihren Bruder schien ihr gut zu tun.

„Ich bin die Zweitjüngste“, nahm die alte Frau ihren Erzählfaden wieder auf, ohne darum gebeten werden zu müssen. Sie sprach die Sätze, als habe sie sie schon lange mit sich herumgetragen, fast ohne Betonung. „Und da habe ich dem Vitus den Haushalt geführt. Achtunddreißig Jahre lang. Bin unverheiratet geblieben. Und das gern. Für den Vitus eben. Und für den Herrgott. Da tut man das gern.“ Sie sah dem jungen Kommissar in die Augen, so gut das in diesem Halbdunkel möglich war.

Sie schnalzte leise mit der Zunge. „Aber ich habe Ihre Frage ja noch gar nicht beantwortet“, schalt sie sich selbst. „Ich werde ein bisschen vergesslich. Das kommt mit dem Alter ganz von selbst, glauben Sie mir. Was haben Sie noch gleich wissen wollen?“ Thiele musste selbst einen Moment lang überlegen, dann entgegnete er: „Ob Sie auch hier gewohnt haben? Im Pfarrhaus. Bei Ihrem Bruder.“

Gertrud Mooslechner schüttelt langsam den Kopf. „Nein, nein, ich wohne doch nicht hier. Nicht mehr. Schon seit sieben Jahren nicht mehr. Ich wohne im Altenheim St. Anna, drüben in Wörnsfeld. Da geht es mir gut. Da sind ja die Ordensschwestern, wissen Sie?“

Sie sah den fragenden Blick ihres Gegenübers. „Es ging nicht mehr“, erklärte sie. „Die Gicht! Sehen Sie doch hier, meine Hände!“ Sie hielt ihm die kleinen, blassen, seltsam verknoteten Hände hin. „Ich taugte ihm einfach nicht mehr als Pfarrhaushälterin. Ich war nur noch eine Belastung. Da bin ich gegangen. Er hätte mich nie selbst entlassen, dafür war er ein viel zu feiner Mensch, der Vitus.“

Erneut versank sie in einem tiefen Schweigen. Thiele ließ ihr Zeit. Ein Gespräch am Ort des Geschehens, so frisch nach der Tat! Er ahnte, dass er hier Wichtiges erfahren konnte. Aber die alte Frau sprach nicht weiter. Wie kalt es hier drinnen war! Ungeheizt und ungemütlich. ‚Hoffentlich holst du dir hier keine Erkältung‘, dachte er. ‚Und steckst dann noch den Julian an. Das fehlte gerade noch!‘ Nach einer langen Stille entschloss er sich, doch eine Frage zu stellen. „Und wer hat dann den Haushalt Ihres Bruders geführt?“ Gertrud Mooslechner zuckte richtiggehend zusammen, als die Stimme des Kommissars die Stille durchschnitt. Nur mit Mühe fand sie aus dem Reich ihrer Gedanken zurück.

Sie blinzelte Dominik Thiele an, als müsste sie sich mühsam erinnern, wer ihr da eigentlich gegenübersaß. „Niemand“, flüsterte sie dann kaum hörbar, fuhr aber mit etwas lauterer Stimme fort: „Er sagte, das könne er ganz gut allein. Und hat das ja auch irgendwie hinbekommen. ‚Für die paar Jahre‘, hat er immer gesagt. Er wollte mit Siebzig in den Ruhestand gehen, wissen Sie? Aber der Bischof hat ihn ja nicht gelassen. Bis fünfundsiebzig wollte er dann weitermachen. Was heißt ‚wollte‘? Musste! Aber dazu ist es nun ja nicht gekommen.“

„War er denn gesund, Ihr Bruder?“, hakte Thiele nach, nachdem sich die alte Frau die Augen mit einem Stofftaschentuch abgetupft hatte. „Gesund? Der Vitus?“, sie blickte überrascht auf. Überlegte kurz. „Jaja, schon! So gesund, wie man in unserem Alter eben sein kann. Die Sache mit dem Alkohol hatte er ja in den Griff bekommen …“. Unwillkürlich schlug sie sich mit der rechten Hand auf den Mund und führte den Satz nicht weiter. Offensichtlich war ihr etwas entschlüpft, was sie lieber für sich behalten hätte.

Aber Thiele hatte natürlich sofort registriert, dass hier ein heikles Feld berührt worden war. „Ein Alkoholproblem?“, fragte er nach, bemühte sich dabei, seiner Stimme jeden Anflug von Strenge, Vorwurf oder übergroßer Neugier zu nehmen. Nicht der übliche Verhörton, das war klar. „Ach, nichts“, entgegnete die alte Frau, schaute mit unklarem Blick nach oben, überlegte dann aber und korrigierte sich. „Na gut. Sie sind von der Polizei. Sie werden es sowieso erfahren. Warum dann nicht von mir? Dann sagt wenigstens niemand etwas Falsches.“

Sie seufzte, blickte sich um, beugte sich weit vor, so dass ihre dünnen Arme auf der Lehne der Vorderbank aufruhten. „Das gibt es doch so oft. Die Herren Pfarrer. Sind eben doch allein. Nach all den Jahren. Und als Schwester bist du eben auch nicht wirklich ein Freund. Ich war doch eher die Haushälterin. Doch, das war so. Ich habe es immer gewusst. Nicht eine Vertraute. So mit Fünfzig hatte der Vitus ein Problem mit dem Alkohol. Ihren Wein trinken die Herren Pfarrer ja alle gern. Da ist ja auch nichts dabei. Aber es wurde zu viel. Jeden Abend mehr als eine Flasche. Heimlich weggeräumt, damit ich es nicht sehe.“

Sie schüttelte den Kopf, versunken in der Erinnerung. „Erst wollte er es nicht wahrhaben. Als ich ihn vorsichtig darauf ansprach, wurde er richtig patzig. Unwillig, Sie verstehen schon. Hat es noch mehr vor mir zu verbergen gesucht. Brachte die leeren Flaschen nachts, wenn es dunkel war, heimlich zum Glascontainer. Warf sie vorsichtig hinein, sodass niemand etwas hören konnte. Dachte er. Ich habe es natürlich trotzdem bemerkt. Und ich war nicht die Einzige. Dann, irgendwann, ging es nicht mehr. Er kam morgens nicht mehr aus dem Bett. Hatte Kopfschmerzen. Zog sich von den Leuten zurück. Dabei hatte er doch immer so eine gute Nähe zu den Menschen. Kannte jeden. Und sie mochten ihn. Die meisten wenigstens.“

„Und dann?“, ermunterte Thiele die alte Frau, die wieder verstummt war. „Ja, dann muss ihm einer seiner Mitbrüder klargemacht haben, dass es so nicht weitergehen könne. Dass er eine Entziehungskur machen müsse. Und das hat er dann auch getan. Sich von seiner alten Gemeinde verabschiedet. War dann sechs Monate in Bad Orb, im Spessart. Wo ihn niemand kannte. In einer Spezialeinrichtung. Ich war nie dort. Aber sie haben ihm geholfen. Und dann ist er in eine andere Gemeinde versetzt worden. Hierher. Vor, ach Gott, wie lange ist das jetzt her? Zwölf Jahre? Ja, da war er gerade sechzig geworden. Und hat seitdem keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Glauben Sie mir: Keinen Tropfen! Von dieser Geschichte weiß hier in Polzingen übrigens niemand etwas. Niemand!“

Thiele dachte nach. Konnte das so stimmen? Ein Gedanke ließ ihn nicht los. „Aber als Pfarrer muss er doch Wein trinken, oder nicht?“, überlegte er. „Also ich meine: bei der Wandlung!?“ Er verfluchte sich. Ausgerechnet er musste dieses Gespräch führen! Er kannte sich doch in diesen Angelegenheiten kaum aus. Auch wenn er nun manchmal mit seiner Frau in einen Gottesdienst mitging. Ihr zuliebe. Immerhin war er ja auch katholisch geworden. Aber diese Welt war ihm nach wie vor fremd. Sagte man das so, ‚Wandlung‘? Kellert wäre hier der richtige Gesprächspartner, dachte er. Aber egal. Jetzt war er hier, jetzt musste er das Beste aus der Situation machen.

Gertrud Mooslechner blickte ihn unsicher an. Was sollte sie diesem jungen Polizeibeamten sagen? Durfte sie ihm trauen? Müsste sie ihren erst gestern verstorbenen Bruder nicht schützen? Sie schüttelte sich kurz, streckte einmal ihren krummen Rücken durch und blickte ihren Gesprächspartner an. „Sind Sie katholisch, Herr Kommissar?“, fragte sie mit erstaunlich starker Stimme. ‚Nein‘, wollte er spontan sagen, denn das war er ja sein Leben lang tatsächlich nicht gewesen, aber das stimmte ja seit letztem Jahr nicht mehr. Er korrigierte sich, bevor er seinen ersten Gedanken ausgesprochen hatte. „Ja!“, bestätigte er, und spürte, dass er tatsächlich ein bisschen rot wurde. Das konnte man im Halbdunkel des Kirchenraums aber nicht erkennen.

„Soso! Dann wissen Sie ja, dass unser Heiland tatsächlich Wein getrunken hat, damals beim letzten Abendmahl. Mit seinen Jüngern. Und dass er ihn verwandelt hat in sein Blut! So feiern wir das in jeder Heiligen Messe.“ „Ja eben, Wein. Echten Wein!“, unterbrach Thiele die alte Frau. Und spürte, dass er sich zu stark eingemischt hatte. ‚Hast du denn gar nichts von Kellert gelernt, Mensch!‘, fuhr er sich selbst in Gedanken an. ‚Lass sie erzählen!‘

Gertrud Mooslechner schien seine Unterbrechung aber nicht zu stören. Sie nahm seine rechte Hand, blickte ihm in die Augen und bat ihn: „Bitte, das, was ich jetzt sage, dürfen Sie nicht weitersagen. Das müssen Sie mir versprechen! Bitte! Der Vitus hat seit damals immer Traubensaft genommen. Auch wenn es verboten ist.“

„Wie?“ Dominik Thiele fühlte sich endgültig überfordert. Er war froh, immerhin das eingeforderte Versprechen gar nicht erst abgeben zu müssen. Das würde er nicht halten können. Aber sein Gegenüber redete einfach weiter. „Das darf man schon, in Ausnahmefällen, Traubensaft nehmen statt Wein. Gerade als Alkoholiker. Oder wenn man mit Alkoholikern zu tun hat in seiner Gemeinde. Oder im Krankenhaus. Aber eigentlich muss da der Bischof zustimmen. Einen ‚Dispens‘ nennt man das, glaube ich. So hat der Vitus das jedenfalls genannt. Und den hat er nicht eingeholt. ‚Was soll der Aufwand?‘, hat er immer gesagt. ‚Außerdem muss der Bischof auch nicht alles wissen, oder?‘ Und hat deshalb immer gut aufgepasst, dass keiner das merkte. Er wollte nicht, dass das bekannt wurde.“

Ein Gedanke blitzte in Thieles Hirn. Er musste sofort seinen Chef sprechen. Sofort! Er verabschiedete sich von der alten Frau, die erschöpft auf die Kirchenbank zurücksank, notierte sich ihre Adresse und Telefonnummer, versprach, sich bald bei ihr zu melden und eilte aus der Kirche. „Haben Sie ihn denn schon, den Täter?“, fragte Gertrud Mooslechner ihn mit matter Stimme beim Abschied als Letztes. „Noch nicht!“, gab er zurück. „Aber mein Chef kriegt sie alle. Wirklich! Und ich sage Ihnen dann Bescheid. Versprochen!“

8.

Sie liefen sich fast direkt in die Arme. Bernd Kellert und Hannah Mellrich hatten sich ebenfalls von ihren Gesprächspartnern verabschiedet und gerade auf die Suche nach ihrem Kollegen begeben. „Chef, Hannah!“, rief ihnen Dominik Thiele entgegen, als sie beim Dienstwagen zusammentrafen. „Ich habe etwas Wichtiges herausgefunden.“ Rasch berichtete er den beiden Kollegen von seinem Gespräch mit der Schwester des Ermordeten.

„Traubensaft!“, unterbrach Hannah Mellrich ihren Kollegen. „Natürlich!“ Thiele schmunzelte und nickte wortlos. Kellert blickte so, als habe er noch nichts verstanden. Hatte er auch nicht. „Traubensaft!“, wiederholte seine Mitarbeiterin in gespielt gestrengem Ton. „Darin löst sich Zyankali natürlich restlos auf. In Wein nicht. Das war doch das Erstaunliche!“

Allmählich dämmerte Kellert die Bedeutung dieser Erkenntnis. „Das wird uns die KTU natürlich bestätigen“, nickte er nun, bemüht, seine kurzfristige Begriffsstutzigkeit zu überspielen. „Das heißt dann aber doch wohl, dass der Mörder – oder die Mörderin – gewusst hat, dass Vitus Mooslechner Traubensaft benutzte. Mit Wein wäre das ja alles gar nicht möglich gewesen!“

„Vielleicht, Chef, vielleicht“, bremste Thiele die Gedanken seines Vorgesetzten. „Es kann aber auch sein, dass das jemand war, der sich damit nicht so genau auskannte. Und dann aus seiner Sicht einfach Glück hatte.“ „Schon möglich, Dominik, durchaus möglich“, räumte Bernd Kellert ein. „Du hast Recht. Langsam! Keine Möglichkeit ausschließen. Obwohl ich da kaum an Zufall glauben kann.“

„Chef! Hannah! Da ist noch etwas. Diese Schwester meinte, dass niemand hier in Polzingen wusste, dass ihr Bruder immer nur Traubensaft benutzte. Dann müsste es jemand von außerhalb gewesen sein. Jemand von früher vielleicht.“ Hannah Mellrich schaute skeptisch und schüttelte den Kopf. „Das scheint mir nun eine etwas voreilige Schlussfolgerung von dir zu sein, Dominik.“ Die beiden hatten sich von Anfang an geduzt. Und waren so vertraut miteinander, dass die junge Polizistin sich diesen Einwand erlauben durfte.

„Wieso?“, fragte er ohne alle Anzeichen von Gekränktsein. „Das kann ich euch sagen“, antwortete die junge Polizistin: „Was glaubt ihr, wie viel in so einem Ort wie Polzingen getratscht wird. Über alles und jeden. Wahrheit und Erfindung. Gerücht und Vermutung. Alles! Ständig! Ich komme zwar nicht von hier, aber aus einem ähnlichen Kaff. Das ist überall gleich. Ich bin mir sicher: Ganz schön viele Leute wussten, dass ihr Pfarrer immer Traubensaft benutzt.“

 

„Das werden wir schon noch herausbekommen“, bündelte Kellert das Gespräch. Thiele hatte den Dienstwagen mit der Fernbedienung aufgeklickt und Kellert setzte sich auf den Beifahrersitz. Nein! Er wollte sich dorthin setzen. Er hatte die Autotür geöffnet, sich hineingebeugt, dabei noch einmal kurz umgedreht, als wollte er noch etwas zu seiner Mitarbeiterin sagen, da schoss ihm ein heftig blitzender Schmerz in den Rücken. Er schrie laut auf. Griff sich ins Kreuz. Verharrte in einer halb gebückten, seltsam verdrehten Haltung. „Au! Scheiße, verfluchte!“, rief er, ohne sich zu bewegen und ohne alle Rücksicht auf die ihm selbst im Dienst wichtige sprachliche Korrektheit.

Auf der anderen Seite des Parkplatzes vor der Kirche war Dr. Bregnitzer gerade dabei, seinerseits in sein Auto zu steigen – einen alten, aber bestens gepflegten silberfarbenen Mercedes –, als er den Schrei des Kommissars hörte. Er blickte hinüber, erkannte die Situation und eilte mit raschen, aufrechten, ein wenig steifen Schritten zu dem Polizeiwagen.

„Nicht bewegen!“, riet er dem Kommissar, der diese Bemerkung überflüssig fand. Genau das konnte er nämlich ohnehin nicht. Dr. Bregnitzer betastete Schultern und Rücken und drehte diesen leicht zur Seite. „Ah!“, entfuhr es Kellert. Verdammt, das war wirklich schmerzhaft! „Oh je“, kommentierte der alte Arzt seine rasche Untersuchung. „Ein klassischer Hexenschuss, fürchte ich. Und zwar ein heftiger! Da hilft Ihnen nichts als Ruhe und Wärme. Und liebevolle Betreuung“, fügte er schmunzelnd hinzu.

Irgendwie gelang es den drei Dabeistehenden, Kellert in den BMW der Friedensberger Polizei zu verfrachten. Seine beiden Kollegen fuhren ihn die kurze Strecke nach Hause. Viel schwieriger war es, ihn aus dem Auto wieder herauszubekommen. Irgendwie gelang es ihnen. Sie nahmen ihn in die Mitte und führten ihn die Stufen zur Haustür hinauf. „Bin ich denn ein Tattergreis? So komme ich mir jedenfalls vor“, rief er unter angehaltenem Atem. „Nein, aber ein Pflegefall schon“, grinste Dominik Thiele. „Zumindest auf Zeit.“

Schließlich saß er auf dem Sessel in seinem Wohnzimmer. Hannah Mellrich hatte ihm eine Wolldecke über die Knie gelegt, die sofort von Pucki in Beschlag genommen wurde. „Warum nicht?“, kommentierte Bernd Kellert und kraulte ihr den Rücken. „Wärme soll ja helfen.“ Dominik Thiele hatte Kellerts Frau Beate angerufen, die sich sofort auf den Weg gemacht hatte. Sie würde in Kürze eintreffen und die Pflege übernehmen.

„Rechnen Sie mit vier bis fünf Tagen Ruhe“, hatte ihm Dr. Bregnitzer mitgegeben. Vier bis fünf Tage! Wie stellte der sich das vor!? Sie mussten einen Fall lösen. Jetzt! Sofort! Andererseits konnte sich Kellert wirklich nicht regen. Kein Gedanke daran, die ärztlichen Ratschläge in den Wind zu schlagen. „Es hilft nichts!“, gab er seinen beiden Kollegen mit auf den Weg. „Jetzt seid ihr in der Verantwortung! Ich weiß den Fall bei euch in guten Händen. Aber: Ich bitte um ständigen Kontakt. Ich leite die Ermittlungen! Zur Not dann eben von hier aus. Vielleicht kann der Alte euch ja doch noch den ein oder anderen Ratschlag geben.“

„Sie sind nicht alt, Chef“, gab Hannah Mellrich pflichtschuldig zurück und wechselte mit Dominik Thiele einen winzigen Blick, versehen mit dem Hauch eines Schmunzelns. Kellert hatte den Blick zwar bemerkt, verkniff sich aber einen Kommentar. „Und wir werden bestimmt nicht auf deinen Rat verzichten!“, ergänzte Thiele. „Aber erst einmal musst du dich erholen. Gönn dir Ruhe! Lass dich pflegen. Kümmere dich um dein Kätzchen“, fügte er an, da Pucki ein deutliches Schnurren hören ließ. Ihr schien die Situation zu gefallen. Aber damit war sie wohl allein.

„Dann wollen wir mal!“, ermunterte Thiele sich selbst und seine Kollegin, als sie die Haustür hinter sich zugezogen hatten. ‚Das ist jetzt dein Fall, Dominik‘, ging es ihm durch den Kopf. ‚Egal, ob Bernd Kellert sich noch immer als leitender Kommissar fühlt. Ich übernehme. Ich bin sicher, dass Dr. Jacobs das auch offiziell bestätigen wird. Auf, Dominik! Darauf hast du doch so lange gewartet. Jetzt zeig, was du kannst!‘

9.

‚Wie macht der Chef das immer?‘, fragte sich Dominik Thiele, während er den Dienstwagen durch die winterliche Dämmerung zurück zur Kirche von Polzingen steuerte. ‚Beruft alle relevanten Personen ein zu einem Gruppengespräch. Hofft, dass sich in dieser Konstellation irgendetwas ergibt, das den Fall voranbringt. Also gut, dann mache ich das auch so.‘

„Und, Hannah, wie wäre es erst mal mit einem Kaffee?“, fragte er die junge Kollegin, die rechts neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. Dort, wo sonst immer der Chef saß, Bernd Kellert. Innerlich musste er schon über sich selbst grinsen. Denn diese neue Rolle gefiel ihm durchaus. Jetzt hatte er die Verantwortung, zumindest fast. Sie hielten vor einer kleinen Bäckerei, die einen Nebenraum als Stehcafé eingerichtet hatte. Hannah Mellrich wärmte ihre Hände an einem Cappuccino, Thiele kaute auf einem ziemlich stark gesüßten Gebäckteilchen herum, nippte ab und zu an seinem Espresso.

Hannah Mellrich war sich ihrerseits nicht so sicher, ob ihr diese neue Konstellation gefiel. Kellert hatte immer eine professionelle Distanz gewahrt, fast schon zu sehr, hatte sie manchmal gedacht. Aber letztlich war ihr das lieber gewesen als zu große Nähe. Bei Dominik Thiele war sie sich da nicht so sicher. Klar, der war erst seit zwei Jahren verheiratet, glücklich, wie es schien, und war frisch Vater geworden. Aber seine Blicke waren nicht immer eindeutig lesbar.

‚Also los!‘, sagte sie sich. ‚Frag ihn nach seiner Familie!‘ „Und, was macht euer kleiner Sonnenschein?“, begann sie das Gespräch. „Julian?“, nahm Thiele, ganz der stolze Vater, den Faden gleich auf. „Prächtig! Doch, dem geht’s gut. Allerdings brüllt er viel. Koliken, sagt der Doktor. Wird sich von selbst legen. Kann aber dauern. Und ist schon anstrengend. Vor allem nachts.“

Er hatte diese Satzfetzen halb kauend, halb schluckend eingeworfen, nahm nun den letzten Schluck seines Espresso und fuhr dann fort: „Für Verena ist es nicht ganz leicht. Ist ja jetzt völlig ans Haus gebunden. Und sie vermisst ihre Schule, die Arbeit. Sie ist ja total gern Lehrerin. Doch, das soll es geben!“, setzte er nach, als er Hannah Mellrichs skeptisches Stirnrunzeln bemerkte. „‚Man sieht mich plötzlich nur noch als Mutter‘, klagt Verena immer. ‚Du auch!‘, wirft sie mir vor. ‚Ich spiele plötzlich überhaupt keine eigene Rolle mehr. Nicht als ich. Nur noch als ‚Mutter von‘.“ Dominik Thiele hob die Augenbrauen, runzelte die Stirn. „Also: Wir müssen uns neu finden. Und Verena hat ja Recht: Mit der Zweisamkeit ist es nun auch vorbei. Da ist immer der Kleine dazwischen. Geht immer vor. Soll er ja auch, süß wie er ist. Ehrlich. Aber trotzdem: Da muss man sich schon umstellen.“

Er zwinkerte ihr mehrdeutig zu. Genau das hatte sie befürchtet. ‚Sorry, nicht mit mir!‘, dachte sie. Obwohl ihr Dominik Thiele sympathisch war. Aber sie hatte an ihrer alten Arbeitsstelle in Speyer eine längere Affäre mit einem ihrer Kollegen gehabt. Mit einem verheirateten Vorgesetzten. Die eine Erfahrung reichte ihr. Nicht zuletzt deshalb hatte sie sich nach Friedensberg versetzen lassen. „So, dann wollen wir mal!“, gab Thiele das Zeichen zum Aufbruch.

Für vierzehn Uhr hatten sie die Personen in das Gemeindehaus bestellt, die in St. Korbinian arbeiteten. Als sie drei Minuten zu spät ankamen, wartete ein etwa sechzigjähriger Mann vor der Tür, genüsslich an seiner Pfeife ziehend. „Kaiser“, stellte er sich vor, „Karsten Kaiser! Bin hier der Organist. Nebenberuflich, versteht sich.“ Er sprach ziemlich schnell, abgehackt und durch die Nase. Man musste schon genau hinhören, um ihn zu verstehen. Aber er kam nicht von hier. Sein Tonfall war unverkennbar norddeutsch. Er lächelte freundlich und wies den beiden Polizisten den Weg.