Die Rhetorik-Matrix

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II. Strukturen unseres Denkens

Bevor wir uns der Rhetorik zuwenden, sind einige zentrale Ausführungen zu den neuen psychologischen und neurobiologischen Erkenntnissen über die Wirkmechanismen unseres Gehirns vorauszuschicken. Vieles von dem, was in den letzten Jahrzehnten im Kommunikationsprozess psychologisch untersucht und in vielen Einzelstudien detailliert analysiert wurde, trägt dazu bei, auch wichtige rhetorische Fragestellungen ganz neu zu sehen und zu beantworten. Häufig ist es dabei so, dass die klassische Rhetorik mit ihren Jahrtausende alten Erkenntnissen durchaus zu richtigen Schlüssen kam und kommt. Die dahinterliegenden (häufig unbewussten) Wirkmechanismen blieben aber verborgen und können erst heute verstanden werden.

Gerade die Bedeutung der unbewusst aktivierten neuronalen Denkprozesse wird in ihrem Umfang erst allmählich richtig begriffen. Daraus lassen sich für die Rhetorik und die rhetorische Wirksamkeit als analytischer Wissenschaft wichtige Aussagen generieren. Es wird aber auch klar, mit welchem Instrumentarium man daran gehen kann, die rhetorische Wirksamkeit noch intensiver zu verbessern. Besonders was sorgfältig vorbereitete Rednerauftritte in der Öffentlichkeit betrifft, können die Folgen dieser Entwicklung als revolutionär eingestuft werden. Davon kann nicht nur der „rhetorische Leistungssport“ profitieren – schon wer als einfacher „rhetorischer Aktivist“ unterwegs ist, kann seine Wirkung mit einigen grundlegenden neuen Erkenntnissen signifikant verbessern. Für dieses Ziel müssen wir allerdings im Folgenden einige wesentliche Grundsätze zur Psychologie des Redens intensiv beackern und uns Punkt für Punkt voranarbeiten (s.a. Wartenburger, Sprache und Gehirn, S. 196ff.).

1. Zwei Sinnes- und Aktionssysteme

Das Reden ist ein psychisch-physischer Vorgang, der zwei Sinnes- und Aktionssysteme beim Redner/Sender und zwei Sinnes- und Aktionssysteme beim Zuschauer/Rezipienten aktiviert. Diese zwei Sinnes- und Aktionssysteme produzieren zum einen (natürlich) den bewussten Sprechvorgang. Hinzu treten aber eine Fülle von Aktivitäten der unbewussten Verarbeitung von rhetorisch relevanten Aktionen und Signalen. Die revolutionäre Erkenntnis der Neurobiologie war, dass das Ausmaß der unbewussten Verarbeitung von Eindrücken und die Generierung von Erkenntnissen daraus den Umfang der bewussten Gedankenarbeit um ein Vielfaches übersteigen. Dies kann mithilfe von Scans der Denkprozesse in modernen MRTs gemessen werden (vgl. Eagleman, Inkognito, S. 57ff., S. 59ff.; ders., The Brain, S. 45ff.). Dieser Prozess der „verkörperlichten Kognition“ („Embodied Cognition“) im Unterbewusstsein ist der eigentliche Kernmechanismus (vgl. Wehling, S. 21f.) für das Denken und Sprechen. Unterbewusstsein und Bewusstsein widmen sich parallel dem Ziel, eine Rede zu produzieren und den Redner ganzheitlich diese Aufgabe bewältigen zu lassen.

Der Redner nutzt also nicht nur bewusst seine Stimme – er ist auch ganzheitlich darauf eingestellt, zu reden, gesehen und gehört zu werden. Sein nonverbales Körperverhalten – also die Gesamtheit der körperbezogenen Transaktionen als Oberbegriff zur Körpersprache – ist daher automatisch – und zumeist unbewusst – überdurchschnittlich aktiviert. Es gibt eine wesentliche rhetorische Sondersituation, in der ein Redner diesen Zustand buchstäblich am eigenen Leib erfährt: Es ist die Situation, in der er subjektiv glaubt oder fürchtet, seine Rede gehe schief – also die Empfindung des Lampenfiebers. Kurt Tucholsky hat diese Empfindung in einem berühmten Zitat in treffende Worte gefasst: „Ein Podium ist eine unbarmherzige Sache – da steht der Mensch nackter als im Sonnenbad“ (Tucholsky, Ratschläge für einen guten Redner, abgedruckt in Lay, S. 257).

Den zwei Sinnes- und Aktionssystemen des Redners entsprechen die beiden Sinnes- und Aktionssysteme des Rezipienten/Zuschauers: Er hört und sieht dem Redner bewusst zu und analysiert und reflektiert den Gesamteindruck in seinem Denken. Aber auch beim Rezipienten werden die meisten empfangenen Reize unbewusst verarbeitet: Die menschliche Erzeugung von Wirklichkeit ist weit überwiegend eine Denkleistung des Unterbewusstseins (Eagleman, The Brain, S. 45ff.). Durch den Mechanismus der sogenannten Spiegelneutronen findet eine überwiegend unbewusste kognitive Simulation statt, die von Elisabeth Wehling so treffend beschrieben wird: „Wir begreifen, was einer sagt, indem unser Gehirn so tut, als würden wir selbst es sagen“ (Wehling, S. 23).

Klassisches Beispiel dafür ist die berühmte Untersuchung zu der Frage, welche Eindrücke wesentlich für die Einschätzung eines Redners sind: Ist es der bewusst aufgenommene Inhalt des gesprochenen Wortes? Oder sind es vielmehr die Faktoren Stimme und Mimik sowie das Aussehen? Wir wissen mittlerweile eines sicher, auch wenn die Untersuchungen hierzu im Einzelnen unterschiedliche Prozentsätze gebracht haben: Unser Zuhörer-Eindruck wird zu einem wesentlichen Anteil durch die nonverbalen Faktoren beeinflusst, sicher zu mehr als 50 Prozent. Der Anteil des bewusst wahrgenommenen Inhalts unserer Rede hat in Studien selten mehr als 25 Prozent erreicht. Moderne Neurolinguisten und Verhaltenspsychologen gehen aufgrund ihrer Forschungen sogar so weit, dass sie dem bewussten Denken nur 2 Prozent der gesamten Denkleistung zubilligen (vgl. Wehling, S. 48ff. mit weiteren Nachweisen). Eine wirkungsvolle Präsentation der nonverbalen „Show“ für unseren Redeinhalt ist daher ausschlaggebend für den Erfolg als Redner.

2. Zwei Regelkreise

Die Steuerung des Redevorganges erfolgt im Gehirn über zwei „Regelkreise“, deren Bedeutung erst in den letzten Jahrzehnten eingehend erforscht wurde. Das Modell des Denkens über zwei Regelkreise bzw. „Systeme“ hat insbesondere das wirtschaftspsychologische Weltbild radikal verändert. Einer der prominentesten Vertreter dieser wirtschaftspsychologischen Schule ist der Psychologe Daniel Kahneman, der für die Entwicklung und Beschreibung dieses Modells im Jahr 2002 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt.

Daniel Kahneman und die zwei Systeme

Das Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahneman erschien 2011 in den USA und ist seitdem eines der meistgelesenen Bücher zur sogenannten Verhaltensökonomie und Wirtschafts- und Kognitionspsychologie. Das Buch beruht auf den jahrzehntelangen Studien, die Kahneman mit seinen Kollegen, vor allem Amos Tversky (†) und Richard Thaler, erarbeitet hat. Kahneman und Thaler haben für ihren Anteil an den bahnbrechenden neuen Erkenntnissen der Wirtschaftspsychologie 2002 und 2017 unabhängig voneinander den Nobelpreis erhalten. Eines der zentralen Werke von Richard Thaler ist „Nudge – wie man kluge Entscheidungen anstößt“, das ebenfalls 2011 erschienen ist.

Daniel Kahneman ist 1934 in Tel Aviv geboren und war als Hochschullehrer sowohl in Israel als auch in den USA tätig. Er widmete sich während seines gesamten wissenschaftlichen Wirkens in unterschiedlichsten Fragestellungen und Sachverhalten vor allem der Frage, wie das menschliche Denken – letztlich evolutionsbedingt – Entscheidungen trifft, die von rein mathematischen oder logischen Modellen abweichen. Das von ihm mitentwickelte und entscheidend propagierte Modell der „zwei Systeme“ ist für das Verständnis von menschlichen Denkgewohnheiten und Entscheidungstendenzen von epochaler Bedeutung. Kahneman gelang es, die wesentlichen Handlungseigenschaften der beiden Systeme so konkret zu fassen, dass sie zur Erklärung menschlicher Entscheidungen sogar mit mathematischen bzw. statistischen Funktionen beschrieben werden können. Damit ist er einer der Väter der sogenannten Verhaltensökonomik (vgl. Beck, Behavioral Economics, S. 25f.; Beispiel zur Beschreibung der sog. Endowment-Funktion S. 174).

Diese modellhafte Arbeitsstruktur unseres Denkens lässt sich wie folgt kurz beschreiben:

System 1 ist das unbewusst arbeitende, kognitive System, das laufend alle Eindrücke unserer Sinnesorgane „bemustert“, bewertet und vergleicht und in das vorhandene ungeheuer vielfältige Netzwerk unserer inneren neuronalen Verdrahtungen bei Bedarf integriert (vgl. Rappmund, Manipulation, S. 64, S. 69ff.). Daniel Kahneman (S. 33f.) weist System 1 die permanente „Generierung von Eindrücken, Intuitionen, Absichten und Gefühlen“ zu. Jeder von uns hat dieses Leben und Handeln in einem fast „automatischen“ Zustand erlebt: ob beim Autofahren, der Morgentoilette oder Situationen, in denen etwa im Beruf Entscheidungen und Handlungen wie von selbst erfolgen – ein Zustand, der von einigen Wissenschaftlern auch als „Flow“ beschrieben wird. Dieses Verhalten geht in der Regel auf die jahrzehntelangen Routinen zurück, die ein Mensch sich permanent aneignet, wieder aufruft, Schritt für Schritt erweitert – mit anderen Worten bewusst, aber noch viel häufiger unbewusst lernt.

Auch das Erlernen der Muttersprache ist eine der größten Leistungen des kindlichen Gehirns, die überwiegend unbewusst über beobachtendes Hören, spielerisches Üben hin zum Erwerb und der Anwendung erster Wörter bis zu ersten Sätzen erfolgt. (Eingehend zum Prozess des Sprachbegreifens auch Wehling, S. 20ff., Eagleman, S. 100ff.; zum allgemeinen Forschungsstand Viciano, „Der Baby-Code“, SZ vom 13.10.2017, S. 14.) Die dabei gemessenen internen Verarbeitungsgeschwindigkeiten sind ungeheuer schnell und laufen im Bereich von einigen 100 Millisekunden ab (vgl. Rappmund, Manipulation, S. 77f., Eagleman, S. 87ff.).

Mit anderen Worten: Auch der Prozess des Sprechens von der Wortfindung bis hin zur Satzbildung läuft überwiegend unbewusst ab. Die Sprachbildung im Gehirn folgt einem unbewussten Regelmuster, das bei einem Redner jahrzehntelang eingeübt ist. Infolge dieser jahrelangen Übung sind die Ergebnisse der Spracherzeugung zwar in der Regel durchaus verständlich. Man sollte sich aber davor hüten, nur noch „automatisch, unbewusst“ zu sprechen. Die unbewussten Fehlleistungen, die daraus resultieren, sind legendär. Seit Sigmund Freud sie in seinem berühmten Werk zur Psychopathologie des Alltagslebens analysiert hat, wissen wir zunehmend, welche Macht der unbewussten Gedanken selbst in einem unbedeutenden Versprecher zum Ausdruck kommen kann. Wehe also, Sie würden als Redner unkontrolliert unbewusst sprechen. Selbst der Volksmund kennt die Maxime: Unbewusstes Sprechen ist zu vermeiden – System 2 ist einzuschalten. Mit anderen Worten: Reden ist Silber – Schweigen (und Bedenken) ist Gold.

 

System 2 ist das bewusst arbeitende kognitive System, das letztlich für Konzentration und Aufmerksamkeit steht. Es ist notwendig, um sich bewusst auf die Gedankenführung und die Argumentation eines Redners zu konzentrieren und sie zu analysieren; das System ist aktiviert, wenn rhetorische Fragen gestellt werden und wir der Tendenz folgen, sie zu richtig zu beantworten. Das bewusste System 2 wird zum Beispiel bei uns als Zuhörern aktiviert, wenn uns etwas Unangenehmes oder Unnormales am Redner auffällt und wir uns plötzlich darauf konzentrieren, weil es uns tatsächlich in den Bann zieht.

Wer je den Sketch des Kabarettisten Loriot mit der Nudel in seinem Gesicht sah oder eine/-n Redner/-in vor sich hat, dessen Hosentüre geöffnet oder deren Make-up sichtbar verlaufen ist – der weiß, wie intensiv die Konzentration auf solche Details unsere Aufmerksamkeit fesselt und alles andere vergessen lässt. Dies gilt etwa auch für die beliebte Aufforderung: „Denken Sie jetzt nicht an einen weißen Elefanten!“ In diesem Moment kann der Redner weiter sprechen, was er will – Sie sind bzw. Ihr System 2 ist „gebannt“, der Rest wird von System 1 so erledigt, dass Sie sonst nichts mehr merken (hören, Umgebung beachten etc.): Sie denken an den weißen Elefanten!

Und natürlich leitet das bewusste System 2 den Redner, der bewusst Sätze und Argumente aktivieren muss, der das Auditorium im Blick hält, der Gesten gezielt einsetzt und die Stimmhöhe und das Tempo steuert. Vieles läuft dabei immer noch im Unterbewusstsein durch System 1 gesteuert ab: dies gilt etwa für die Stimmbildung, das Atmen, die Körperhaltung. Der Gesamtverlauf der Rede jedoch ist System 2 untergeordnet, das gezielt Schwerpunkte setzt, Konzentration verwendet und die „rhetorische Oberleitung und Überwachung“ bei sich hält (vgl. Kahneman, S. 34ff.). Dabei ist die psychologische Wissenschaft dem Prozess der Spracherzeugung zwar auf der Spur, aber noch lange nicht am Ergebnis angelangt (dann wäre der im Gehirn generierte Sprachprozess im Experiment nämlich jederzeit reproduzierbar – und davon sind wir wohl noch Jahrzehnte entfernt). Das Wunderwerk des menschlichen Gehirns mit seinen mehr als einhundert Billionen Nervenzellen (Neuronen), seinen synaptischen Verschaltungen, die von wenigen Punkten bis hin zur Aktivierung ganzer Hirnareale reichen, arbeitet im Wesentlichen autonom und außerhalb der bewussten Wahrnehmung. Diese Vorgänge lassen sich daher vorerst nur teilweise beschreiben, unsere Erkenntnisse dazu sind allerdings für die Rhetorik von enormer Bedeutung: Man stellt in unserem Gehirn das multiple Zusammenarbeiten eines enorm vielgliedrigen neuronalen Netzwerkes fest, das für die Vielzahl von phonologischen, prosodischen, syntaktischen und semantischen Informationen eines Redevorganges notwendig ist. Dies lässt weiter darauf schließen, dass intern sogenannte synaptische Musterprozesse und Musterverarbeitungen ablaufen, die viel mit intern abgelegten und gespeicherten Zuständen und Wahrnehmungen, aber auch Reflexen und Reaktionen zu tun haben, die ein Mensch über Jahre und Jahrzehnte hinweg erworben hat (vgl. Wartenburger, Sprache und Gehirn, S. 189ff.).

Es ist existenziell wichtig, dass auch der unbewusste Erwerb dieser „mustergestützten“ Denkprozesse für das Sprechen auf das neuronale Speichern zurückgeht und damit eines der wichtigsten Elemente von Lernen durch aktives Merken, wenn auch unbewusst, darstellt (vgl. Eagleman, S. 100f.). Mit anderen Worten: Was das Unterbewusstsein sich nicht merkt, das kann der Mensch gar nicht lernen! Oder drastisch für die Gegenwart gesagt: Wer nur Bilder auf dem IPad wischt, sie aber nicht aktiv oder sprachlich verarbeitet, wird keinen mustergestützten Merkprozess in seinen Neuronen verankert haben und auf dieses Detail des Denkens auch nicht so leicht oder gar nicht zugreifen können.

Bitte beachten Sie dabei, dass die Verwendung der Begriffe „System 1“ und „System 2“ ein Kunstgriff ist, also ein Modell, das der Veranschaulichung dessen dient, was im Gehirn mit unbewusst ablaufenden und den damit korrelierenden bewussten Prozessen vor sich geht. Es sind dies – das möchte ich betonen – Fiktionen, die ausnahmslos der besseren Verständlichkeit der psychologischen Prozesse dienen, indem sie sie anhand eines plausiblen Modells bildhaft darstellen (vgl. Kahneman, S. 103f.).

Das bewusst arbeitende System 2 und das unbewusst arbeitende System 1 stehen miteinander in einem sehr komplizierten Prozess der Zusammenarbeit. Wichtig ist die wissenschaftliche Erkenntnis, dass das bewusste System 2 zwar „Chef im Ring“ ist, etwa wenn es um komplizierte Denkkprozesse wie den abstrakten Aufbau einer Rede geht. Es lässt sich aber von System 1 in wesentlich größerem Umfang beeinflussen, als man gemeinhin glauben möchte: System 1 bietet permanent aus dem ungeheuren Schatz seiner unbewusst gespeicherten Eindrücke Optionen an, um vorhandene Sachverhalte und Unklarheiten verstehen und beantworten zu können. Diese Optionen sind prinzipiell nicht mathematisch korrekt bearbeitet – nein: die Optionen basieren auf der Annahme, dass sich damit ein erkannter Sachverhalt plausibel und wahrscheinlich lösen lässt. Damit haben wir die zentrale Leistung der sogenannten Heuristik des menschlichen Denkens angesprochen: Es ist, „technisch definiert, ein einfaches Verfahren, das uns hilft, adäquate, wenn auch oftmals unvollkommene Antworten auf schwierige Fragen zu finden“ (Kahneman, S. 127), indem wir Schlussfolgerungen aus Informationen ziehen.

Heuristik: Wie unser Gehirn Entscheidungen trifft

Heuristik bezeichnet Strategien des Denkens, wie mit unvollständigen Informationen mit relativ großer Genauigkeit eine Entscheidung zu einer – durchaus schwierigen – Frage getroffen wird, ohne dafür zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen (vgl. Gigerenzer, S. 380; Kahneman, S. 127ff.). Das menschliche Denken verwendet dazu u.a. folgende bekannte Instrumente: Versuch und Irrtum (trial and error); Wiedererkennung (Rekognitionsheuristik); operationales Entscheiden „mit einem guten Grund“ („One-Reason-Decision-Making“ bzw. „Take the Best“) oder soziale Information (Was machen deine Freunde/Vorbilder?). Gerd Gigerenzer zählt auch die sogenannten „Faustregeln“ dazu. Er weist in seinem Buch „Risiko“ nach, dass das weit verbreitete Urteil, Heuristiken seien „zweitbeste Lösungen“, unzutreffend ist.

Ein berühmtes Beispiel sind die geometrischen und dreidimensionalen Täuschungen, mit denen man in populärwissenschaftlichen Abhandlungen gerne konfrontiert wird: Unterschiedlich lange Pfeile (die doch gleich lang sind), dreidimensionale Täuschungen und das bivalente Bild von Hexe oder Schönheit zählen dazu. Eagleman betont, dass auch diesen Täuschungen der unbewusste Eindruck des sogenannten mühelosen Erkennens zugrunde liegt. In all diesen Fällen schlägt unser Unterbewusstsein keinen Alarm, also hat das bewusste System 2 keinerlei Anlass, kritisch zu reflektieren (vgl. Eagleman, S. 32ff.). Seien wir uns bewusst, dass gerade die sprachliche Kommunikation, und damit auch die Rede, ohne solche unbewussten heuristischen Vorgänge, ohne plausible Abkürzungen und Scheinbeweise schlichtweg nicht denkbar ist: System 1 glaubt und akzeptiert bereits das, was plausibel erscheint und mit den vorhandenen Modellen verträglich. Dabei kann es nachweislich mathematisch und auch erkenntnisbezogen gewaltig falsch liegen. Die von Kahneman (vgl. S. 136) beschriebenen Fehlermerkmale des heuristischen und intellektuellen Denkens in System 1 sind für sich genommen kaum zu glauben. Aber wer sie liest, muss sich eingestehen: System 1 ist ein geradezu omnipräsentes und leider auch omnipotentes Tool, um Lösungen anzubieten, die man gerne akzeptiert, bis man ernüchtert vom Gegenteil belehrt wird. Und das passiert in einer Rede bzw. rhetorischen Situation leider viel zu oft.

Das Pralinenexperiment: Dividende durch Schokolade

Ein wichtiges Beispiel zur „Verführbarkeit“ mit messbarem Effekt liefert ein Experiment des amerikanischen Psychologen David Strohmetz (nach Dutton, Gehirnflüsterer, S. 110f.): In einem Restaurant wurden die Gäste in vier Gruppen eingeteilt. Zum Abschluss des Essens, und vor dem Bezahlen, brachte die Bedienung der ersten Gruppe keine Praline, der zweiten Gruppe eine und der dritten Gruppe zwei Pralinen. Bei der vierten Gruppe gab es folgenden Clou: Zunächst brachte die Bedienung eine Praline, ging dann weg, wandte sich um, als hätte sie es sich anders überlegt – und legte dann noch eine zweite Praline auf den Tisch. Die zentrale Frage war, welchen Einfluss das Verhalten der Bedienung auf die Großzügigkeit der Trinkgelder haben könne.

Das Ergebnis war verblüffend: Verglichen mit der Kontrollgruppe 1 (ohne Praline) zahlten diejenigen, die eine Praline erhalten hatten, durchschnittlich 3,3 Prozent höheres Trinkgeld. Bei zwei Pralinen waren es 14,1 Prozent – und bei der Gruppe mit der auffälligen Übergabe der zweiten Praline stieg das Trinkgeld um kaum glaubhafte 23 Prozent im Verhältnis zu Gruppe 1. Der scheinbar unerklärliche Sinneswandel – „Mensch, Leute, für euch zwei statt eine“ – ist eine nicht erwartete Geste der Wertschätzung, die unmittelbar unser unbewusstes Denken anrührt und positiv stimmt. Durch nonverbales Verhalten wurde unmittelbar das Belohnungsverhalten angeregt. Eine Praline für 10 Cent und eine kleine Geste brachten eine enorme Dividende.

Wir werden diesen und andere Effekte noch bei der Analyse wichtiger Strategien der Argumentation und scheinlogischer Schlüsse intensiv bearbeiten. Und wir werden sehen: Auch das unbewusste System 1 der Zuhörer ist mit Inhalten des Redners einverstanden, die mit den plausiblen Eigenerfahrungen übereinstimmen, auch wenn sie nicht wirklich richtig sind! Und dies gilt auch dann, wenn wir „rhetorische Pralinen verteilen“ …

Lieber angehender Redner: Dies ist kein Appell an Sie, die Unwahrheit zu sagen! Aber es rechtfertigt die rhetorische Neigung, mit Plausibilität – rhetorisch geschickt verpackt – weiter zu kommen und effektiv zu sein.

Die Erkenntnis, dass das bewusste System 2 durch die unbewussten Plausibilitätslösungen von System 1 massiv beeinflusst werden kann, ist aber nur die eine Seite der Medaille: Natürlich können wir mit gezielten Eingriffen des bewusst arbeitenden und entsprechend trainierten System 2 wichtige Effekte nutzen, um das unbewusste System 1 massiv seinerseits zu beeinflussen oder auch zu manipulieren. Lassen Sie uns dazu drei Interventionsmethoden näher betrachten, die mittlerweile psychologisch gesicherte Erkenntnisse darstellen.