Paul Guenther und seine Schule in Geithain

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1.3 Arbeitsjahre in Thalheim und Chemnitz


Bild 6: Mutter Therese Guenther (r), Paul Guenther (2. v. l.) vor dem Geburtshaus „an der Heiste“ in Geithain, um 1885

Guenther blieb auch nach den Limbacher Jahren in der Gegend. Die Großstadt Chemnitz bot vielen Arbeit und manchen jungen Mann zog es zu dieser Zeit vom Land oder der Kleinstadt in die großen Industriezentren. Über die Lebensjahre Paul Guenthers von 1878 bis 1890 war lange Zeit praktisch nichts bekannt. Im Vorwort der Stiftungsurkunde schreibt er lediglich: „Nach gründlicher theoretischer und praktischer Ausbildung auf der Wirkschule in Limbach und in den hervorragenden Chemnitzer Strumpffabriken wanderte ich 1890 nach Amerika aus.“ (18) Eher zufällig und über private Kontakte ergab sich im Jahr 2000 eine Verbindung zu Herrn Rudi Hofmann, Heimatforscher aus Hohenstein-Ernstthal. Seinen Forschungen, insbesondere den Hinweisen auf Quellen im Chemnitzer Stadtarchiv (26), verdanken wir die folgende fast lückenlose Auflistung der Wohnanschriften Paul Guenthers bis zum entscheidenden Jahr 1890. Er besuchte die Eltern und damit Geithain gelegentlich, Lebensmittelpunkt war aber die Gegend Chemnitz/Thalheim. Das Bild 6 gehört wieder zu den Seltenheiten und stammt abermals von Werner Pechstein.

1874 wohnte Paul Guenther zunächst bei einem Onkel in Burgstädt. Ab November 1875 finden sich im Chemnitzer Meldebuch (26) verschiedene Adressen, jeweils mit Angabe der Familie, bei der der junge Mann „in Logis“ wohnte. Wichtig erscheint die folgende Eintragung: „16. August 1880 Abmeldung nach Geithain“. Doch schon kurze Zeit danach war er ab 15. November 1880 in Thalheim gemeldet. Der „Eisenhammer“ in Thalheim (heute Zwönitztalstraße 29) war bereits seit längerer Zeit stillgelegt, als sich 1880 einige Thalheimer Strumpfwirker selbstständig machten, hier Räume mieteten und auf schon veralteten Paget-Maschinen Strümpfe herstellten. (27) Diese Maschinen waren Wirkstühle, deren erste Form Arthur Paget 1857 erfunden hatte.

Bild 7: Der „Eisenhammer“ in Thalheim, historische Aufnahme

Bild 8: Gasthof Alter Eisenhammer, um 2005

Bild 9: Paget-Wirkstuhl, um 1860

Quelle: www.KulturBüro, 10.02.2016

Schödel/Reutlingen

Guenther erfuhr über Freunde, was sich dort im Thalheimer Eisenhammer tat, und nahm die Arbeitsgelegenheit wahr. In Geithain hätte er in seinem Fach nie Arbeit gefunden. Offenbar lebte er sich in Thalheim schnell ein. So wurde er beispielsweise 1882 Taufpate des Carl Richard Hahn. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Guenther sicher nicht, dass dieser Junge mit 18 Jahren in die USA auswandern und bei ihm in Dover Arbeit finden würde. Vier Jahre lebte und arbeitete Paul Guenther in Thalheim. Dann meldet er sich abermals in Chemnitz an. Mehrere Jahre bis zu seiner Auswanderung wohnte er im Hause seines Arbeitgebers, dem Maschinenbauer Türke in der Zwickauer Straße 74 III. Die Verbindungen zum nahe gelegenen Thalheim rissen nie ab und wirkten Jahrzehnte lang (s. S. 50). Erwähnenswert ist, dass mehrere Thalheimer vor Jahren schon in die USA ausgewandert waren und sich in Dover/N.J. niedergelassen hatten, darunter auch Verwandte seines Patensohnes! Hier finden wir wieder einen Anhaltspunkt für den Entschluss Guenthers, auszuwandern.

1.4 Die Auswanderung nach Amerika

Paul Guenther wanderte 1890 in die USA aus. Das Jahr seiner Auswanderung kannten die Geithainer von Anfang an. Warum er sich dazu entschloss, wann und wie die Auswanderung erfolgte und weitere Details waren aber über lange Zeit in Geithain völlig unbekannt. In den fast 30 Jahren bis zu seinem (mutmaßlichen) ersten Geithain-Besuch 1919 entstanden in der Kleinstadt abenteuerliche Gerüchte. Er habe Deutschland als blinder Passagier auf einem Schiff verlassen und er sei ohne das Wissen seiner Eltern heimlich aus Chemnitz verschwunden. Das war alles noch relativ harmlos. Man munkelte jedoch auch in Richtung strafrechtlicher Gründe. Die Gerüchte verstummten in den Jahren nach 1925. Guenther wurde als Schulstifter gefeiert, und Fragen zu stellen zu Details seiner Chemnitzer/Thalheimer Jahre oder zur Auswanderung galt als nicht opportun. In den 45 Jahren nach 1945 sollte bekanntlich der Name des Schulstifters ganz aus der Stadtöffentlichkeit verschwinden, was schließlich auch fast gelang. Ernsthafte Nachforschungen konnten erst nach 1990 beginnen. Eine Anfrage beim Historic Emigration Center in Hamburg ergab, dass im Jahr 1890 in den vollständig erhaltenen Passagierlisten der Name Paul Guenther nicht vertreten war. Blieb noch Bremerhaven. Dort wurden jedoch bei Bombenangriffen am Ende des Zweiten Weltkrieges alle Unterlagen, auch die zu 1890, vernichtet. Die oben schon erwähnten Verbindungen zu einem Heimatforscher in Hohenstein-Ernstthal brachten schließlich die entscheidenden Ergebnisse: alle Wohnanschriften Guenthers in Thalheim und Chemnitz! Das Wichtigste jedoch war die Entdeckung eines Eintrags im Meldebuch der Stadt Chemnitz vom 4. Februar 1890 zum „Kaufmann Paul Guenther, Chemnitz, Zwickauer Straße 74 III: Abgemeldet nach New York, Paß erhalten.“ (26) Dem Gerücht vom heimlichen oder gar fluchtartigen Verlassen seiner Heimat war damit der Boden entzogen. Im Februar oder März 1890 und wahrscheinlich von Bremerhaven aus reiste er in die USA aus. Das war der Kenntnisstand bis zum Jahr 2013. Seitdem wissen wir es ganz genau: Er ist am 20. Februar 1890 von Bremerhaven aus auf dem Schnelldampfer „SMS Saale“ nach New York in die USA ausgewandert. Das wird durch die Abschrift eines Dokuments (offensichtlich Antrag auf Erteilung eines Reisepasses) nachgewiesen. (28) Wir verdanken diese Kopie Herrn Ralf Niemann. In seiner Arbeit als Kirchner von Sankt Nikolai ergaben sich mit Besuchern des Kirchenarchivs gelegentlich Gespräche. Herrn Niemanns „historisches Gespür“ führte schließlich bei einer Besucherin zum oben genannten Erfolg.

Was waren die Motive des Dreißigjährigen, diesen lebenswichtigen Schritt zu gehen? Zu allen Zeiten sind Deutsche in die USA ausgewandert. „Mehr als fünf Millionen Deutsche brachen allein zu Zeiten der Massenauswanderung zwischen 1820 und 1920 in die USA auf, um ein neues Leben zu beginnen.“

(www.zeit.de/zeit-geschichte/massenauswanderung, 02.02.2016)

Die Zahl der deutschen Auswanderer war in Notzeiten besonders hoch. Die Statistik der Auswanderungszahlen weist in den 1880/90er Jahren ein Minimum aus. So gesehen ist die Auswanderung Paul Guenthers keinesfalls dem Trend entsprechend. Nach der Reichsgründung 1871, in der Zeit, da Deutschland und insbesondere auch Sachsen einem Höhepunkt in der Entwicklung von Wirtschaft, Naturwissenschaft und Technik zustrebten, wanderten relativ wenig Deutsche in die USA aus.

Bild 10a: Von Bremerhaven auf Schnelldampfer SAALE – Baujahr 1886, Besatzung: 190, Passagiere: 974 – nach New York

Ob die Auswanderung ein spontaner oder lange vorbereiteter Schritt war, ob die Eltern die Pläne des Sohnes kannten, ob sie überrascht wurden, ob und wie sie ihn beraten haben – auch diese Fragen sind im Detail noch offen. Ein Hans Bauer (2) schreibt 1925: „Besonders gut kam Paul Guenther in Geithain nicht voran. Und als seine Neigung zum weiblichen Geschlecht eine sogenannte Jugendsünde im Gefolge hatte, wurde er in der kleinen Stadt scheel angesehen. Seine Eltern hielten es für das Beste, wenn der Junge Geithain den Rücken kehrte und versuchte, jenseits des Ozeans ein neues Leben zu beginnen.“ An anderer Stelle heißt es bei Bauer: „Vater und Mutter Guenther konnten zunächst nichts Gutes berichten. Paul hat tüchtig zu kämpfen. Immer von Neuem will er Geld hinübergeschickt haben. Es wird ihm nichts geschenkt. Vielleicht war es doch ein Fehler, dass wir ihn gehen ließen.“ Ob die „scheelen Blicke“ ein Grund für die Auswanderung waren, ist sehr zweifelhaft.

Wahrscheinlicher klingt schon das zweite Zitat, jedenfalls für die allererste Zeit in Dover. Ohne Kenntnis der Landessprache und mit einfacher Volksschulbildung ist der Anfang in völlig neuer Umgebung für niemanden leicht und gleicht in vielem einem „Herumtappen im Nebel“.

Auf der Basis des gegenwärtigen Wissens lassen sich aber einige Gründe angeben, die zusammengenommen letztlich zum Auswanderungsentschluss geführt haben:

1 Guenther war acht Jahre alt, als ein Gotthelf Fischer aus dem Nachbarhaus (später Fleischerei Gleisberg) nach Amerika auswanderte. (29) Zwischen Haus- und Wohnungsnachbarn gab es damals eine wesentlich bessere Kommunikation als heutzutage. Mit Sicherheit tauschte man sich über die Briefe Gotthelfs an die Eltern Fischer aus. Es gab einen relativ häufigen Briefverkehr. Eine Geithainer Verwandte der Fischers (Frieda Berkhan, geb. Fischer) wanderte als junges Mädchen mit ihrer Mutter 1916 zu ihrem Onkel Gotthelf in die USA aus. (30)

 

2 Auf den hohen Anteil ausländischer Schüler in Limbach, darunter auch aus den USA, wurde oben schon hingewiesen. Das war, zumal für einen Jugendlichen aus der Kleinstadt Geithain, durchaus nichts Selbstverständliches! Offen und neugierig war der Schüler Guenther. Das gemeinsame Lernen mit ausländischen Schülern trug ein Übriges dazu bei, Interesse am Ausland, insbesondere an Amerika, wachzurufen.

3 Die letzten Jahre vor seiner Auswanderung arbeitete Guenther nicht mehr als einfacher Strumpfwirker direkt an der Maschine. Die Bezeichnung „Kaufmann“ im Vermerk des Chemnitzer Meldeamtes (26) sowie die unmittelbare Verbindung zum Textilmaschinenbau (er wohnte im Hause seines Arbeitgebers, des Maschinenbauers Türke) machen seine berufliche Höherentwicklung deutlich. Gut möglich, dass er viele Verkaufsgespräche mit Exporteuren sächsischer Textilmaschinen geführt hatte. Mit 30 Jahren besaß er nach solider Ausbildung auch vielfältige praktische Erfahrungen. Nun fühlte er sich wohl auch sicher für größere Herausforderungen!

4 Eine letzte, aber keinesfalls weniger wichtige Motivation für die Entscheidung, in Amerika sein Glück zu versuchen, waren aber die vielfältigen Beziehungen der Thalheimer zu ihren bereits ab den 1870er Jahren nach New Jersey ausgewanderten Verwandten. Die Familie seines Patensohnes Carl Richard Hahn steht beispielhaft für viele Thalheimer Familien. Zwei Hahn-Brüder, Max und Otto, Onkel des Patensohnes, lebten schon seit 1875 in Dover/N.J. und galten dort als ausgezeichnete Facharbeiter. Sie werden später mit ihrer Erfindung eine wichtige Rolle als Meister in Paul Guenthers Fabriken in Dover spielen. Carl Richard wandert als Achtzehnjähriger 1900 aus. Mutter Ida Auguste zog 1908, nach dem Tode ihres Mannes, mit fünf Kindern zu ihrem ältesten Sohn nach Dover. (27)

1.5 Die ersten Jahre in Dover/N.J.

Die ersten Jahre in der neuen Heimat nach 1890 waren nicht leicht, obwohl Paul Guenther hier Landsleute aus der Chemnitzer Gegend vorfand. Dover/N.J. war damals eine Kleinstadt mit etwa 6.000 Einwohnern. Inzwischen sind Dover und die Nachbarstadt Rockaway fast zusammengewachsen. In Dover allein leben heute rund 15.000 Menschen. Bis New York sind es ca. 60 Kilometer. (10, 12)

Als Paul Guenther nach Dover kam, mietete er sich ein Zimmer im oberen Stockwerk eines Hauses, in dem der Häusermakler Schwarz sein Büro hatte. Das Gebäude, Haus 28–30 North Sussex Street, steht heute noch, natürlich etwas um- und ausgebaut. Seit nunmehr über 100 Jahren ist es im Besitz der Familie Schwarz. Von dem über 90-jährigen Sydney Schwarz erhielt der in Kanada lebende Herr Sommer bei seinem Besuch 1991 in Dover die historische Aufnahme vom alten „Schwarz-Block“. Der Enkel des ersten Herrn Schwarz betreibt heute in dem Haus ebenfalls eine Immobilienfirma. (12)


Bild 10b: Möbliertes Zimmer im Hause des Maklers Schwarz in Dover/N.J.


Bild 10c: Haus des Häusermaklers Schwarz, Aufnahme 1996

Nicht nur die Unterkunft war gesichert. Paul Guenther fand auch Arbeit in seinem Beruf als Strumpfwirker. Und trotzdem könnte es sein, dass ihm der Anfang nicht leicht gefallen ist, weil „ihm nichts geschenkt wird“, wie die Mutter (s. o.) sich geäußert haben soll. Vielleicht haben ihm die Eltern dann und wann doch etwas „Geld hinübergeschickt“. Sicher hat er die erste Zeit als ganz einfacher Strumpfwirker in verschiedenen Fabriken der Gegend um Dover hart gearbeitet. Unglaubwürdig sind Erzählungen, wonach er die verschiedensten Tätigkeiten einschließlich der des Tellerwäschers ausgeübt hat. Das sind Legenden, die sich nachträglich um Leute ranken, die in ihrem Leben einen ungewöhnlichen Aufstieg nahmen. Die über zehnjährige Berufserfahrung in der deutschen Strumpfwirkerei konnte Paul Guenther nun mit den Methoden und Formen amerikanischer Produktion in der gleichen Branche vergleichen. Und abermals „von der Pike auf“! Kein Wunder, dass später, als er Chef über mehrere Fabriken war, über ihn erzählt wurde: „Es macht ihm gar nichts aus, beim Rundgang durch die Produktionshalle das Jackett auszuziehen, die Ärmel hochzukrempeln und selbst an der Maschine nach dem Defekt zu suchen oder eine Feineinstellung vorzunehmen.“ (10) Er wird sein Fach verstanden, fleißig und zuverlässig gearbeitet haben und bald zum Vorarbeiter bzw. später zum Produktionsleiter befördert worden sein.

Nach sechs Jahren harter Arbeit und Sparen fühlte sich Paul Guenther wohl so weit gesichert, dass die Gründung einer eigenen Familie nicht weiter hinausgeschoben werden musste. Er heiratete 1896 Olga Mechel, eine gebürtige Berlinerin und mit Bruder Richard ebenfalls um 1890 in die USA eingewandert. Beziehungen der jungen Familie Guenther zu der Berliner Verwandtschaft haben mit Sicherheit bestanden. Als nicht zutreffend erwies sich die Annahme, die in Berlin existierende Güntherstraße stünde im Zusammenhang mit der Familie Paul Guenther. 1897 wurde die Tochter Margarethe geboren. Sie blieb das einzige Kind der Guenthers. Das später erbaute große Wohnhaus der Guenthers in Rockaway bei Dover nannte der Hausherr „Villa Margarethe“.


Bild 11: Olga und Paul Guenther, 1898

Mit den amerikanischen Formen des Wirtschaftslebens so einigermaßen vertraut, wagte Guenther 1896 den Schritt zur Selbstständigkeit. In Paterson bei Dover gründete er die erste, ganz kleine Strickerei. Die befreundete Familie Reinhardt aus Dover lieh ihm 400 Dollar. Vielleicht wurde von den Eltern auch ein kleiner Beitrag zum Startkapital geleistet. Ohne Risiko wird es nicht angefangen haben. Aber das Geschäft ließ sich ganz gut an. Bald zog er um in ein größeres Gebäude der Swiss Knitting Co., wo er einige Räume mietete. Mit drei Mitarbeitern und zwei älteren Maschinen wurden Seidenstrümpfe, ein Produkt mit großer Zukunft, produziert. Doch lassen wir an dieser Stelle Paul Guenther selbst zu Wort kommen: „Nachdem ich dort als einfacher Strumpfwirker und sodann als Fabrikationsleiter tätig gewesen bin, gelang es mir, eine kleine Fabrik zu mieten, in der ich mit einigen alten Maschinen den eigenen Betrieb eröffnete. Durch Anschaffung neuer Maschinen wuchs in kurzer Zeit die Leistungsfähigkeit meines Betriebes und dadurch auch mein Kundenkreis so bedeutend, dass ich in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre meine erste eigene Fabrik bauen konnte. Diese vergrößerte sich im Laufe der Jahre so, dass sie jetzt (1919, G.S.) mit ihren Beamten- und Arbeiterhäusern einen besonderen Stadtteil von Dover/N.J. bildet.“ (18)

1.6 Aufstieg zum größten Strumpfproduzenten der USA-Ostküste


Bild 12: Modeschlager „Onyx Pointex“

Die weitere rasante Entwicklung des Guentherschen Unternehmens in den folgenden Jahren ist bemerkenswert. „Guenthers Full Fashioned Silk Hosiery“ wurde zu einem Begriff in der Branche! Und wieder spielte Thalheim im Erzgebirge eine Rolle. Zwei seiner Meister, die Brüder Max und Otto Hahn (s. S. 51), erfanden eine neue Methode des Fersenstrickens bei Seidenstrümpfen. Der „Onyx Pointex“, ein langer Zwickel von der Ferse zur Wade hinauf, wurde zu einem Modeschlager, weil er – nach Meinung von Werbefachleuten – das Damenbein schlanker erscheinen ließ! Die amerikanische Textiltechnik entwickelte sich ebenso rasch wie die deutsche bzw. die sächsische. Der Gegend um Chemnitz entsprach in Amerika der Staat New Jersey, in dem traditionell Textilindustrie zu Hause war. Der Handwirkstuhl wurde ab etwa 1860 weltweit mehr und mehr durch die Wirkmaschine, eine Erfindung Cottons, abgelöst. Die Produktivität nahm in der Wirk- und Strickindustrie enorm zu.

Das neue Jahrhundert begann für Paul Guenther sehr verheißungsvoll. Seine Waren waren wegen ihrer Qualität beliebt und am Markt bekannt. Die Nachfrage stieg enorm. Investitionen waren angesagt. Und es wurde gebaut. An der Oakstreet und der Kingstreet in Dover wuchsen in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende Fabrikgebäude empor, der Umsatz und die Zahl der Beschäftigten stiegen rasant. Die Gebäude ähnelten in ihrem Äußeren sehr den Fabriken, wie wir sie aus der Gegend um Burgstädt, Hartmannsdorf und Limbach kennen.

Die Ursachen seines großen Erfolges sind vielgestaltig. Da ist die Persönlichkeit selbst: zielstrebig, ausdauernd, sehr gut entwickelte Kombinations- und Koordinationsfähigkeiten, gründlich und fleißig. Das Verbinden der Erfahrungen aus Deutschland mit denen in Amerika wurde entscheidend. Natürlich war auch die Zeit reif für sein Produkt, die Seidenstrümpfe. Er verstand es, gut ausgebildete Facharbeiter aus der Chemnitzer Gegend zu gewinnen. Die beeindruckende Auswanderungs-„Dynamik“ im Dorf Thalheim wird auf Seite 50 gesondert dargestellt. Die Textilmaschinen aus dem Vogtland (VOMAG Plauen) und der Chemnitzer Region galten damals als Weltspitze und wurden von Guenther importiert. Ein Monteur aus Plauen wurde viel später sein Schwiegersohn. Das Firmenrezept – die besten Seidenstrümpfe aus den besten Rohstoffen mit den besten Maschinen und den besten Arbeitern herzustellen – ging mehr als auf! Qualität und modischer Geschmack bildeten stets eine Einheit.

Die historischen Aufnahmen sowie die Fotos Herrn Sommers aus dem Jahre 1991 vermitteln recht gut, welche Bedeutung Guenther und seine Fabriken für die kleine Stadt Dover hatten.

Bild 13: Kreuzung King-/Elmstreet in Dover/N.J., 1912


Bild 14: Kreuzung King-/Elmstreet in Dover, 1996


Bild 15: Guenther’s Hosiery Factory, Dover/N.J., um 1905


Bild 16: Büroeingang in der Oak-Street, 1991

Parallel zu dem Bau neuer Fabriken nach 1900 erfolgte der Erwerb von Konkurrenzfirmen in der Umgebung von Dover. Das Ursprungs- und Hauptwerk war die Onnyx Hosiery Incorporation. 1912 erwarb er die Wharton Textile Co. in Dover, 1914 kam die Passaic Co. (Seidenstrumpfproduktion) mit 300 Beschäftigten dazu und 1923 kaufte Guenther die Emery & Beeres Co. Inc. in New York. Die Gesamtzahl der Beschäftigten betrug zuletzt über 1.000. 1927 verkaufte er seine Fabriken an den Gotham Konzern in New York. Er beteiligte sich an der Pyramid Hosiery Co. seines ehemaligen Mitarbeiters und Freundes Henry Fischer. Nach 1945 war die Fabrik an der King Street im Besitz der weltbekannten Firma Mc Gregor Sportswear. Sie dient heute in erster Linie als Lagerhaus. Andere ehemalige Guenther-Fabrikgebäude wurden ebenfalls zu Lager- oder Bürogebäuden. Eine Reihe weiterer Häuser wurden im Laufe der Jahrzehnte abgerissen. Die Textilindustrie in Dover und Umgebung verschwand allmählich – ein ähnlicher Prozess, wie er sich später in der Chemnitzer Gegend vollzog. Gutes Management, solide fachlich-technische und betriebswirtschaftliche Arbeit erlaubten Guenther die Herstellung von Waren zu Preisen, die kein anderer unterbieten konnte. (10, 22) So zählte er nach Beginn des 20. Jahrhunderts bald zu den einflussreichsten Wirtschaftsmanagern im amerikanischen Osten. Für die Stadt Dover stellten die Guentherschen Fabriken einen Wirtschaftsfaktor ersten Ranges dar. Aber auch und gerade sein soziales Engagement trug wesentlich dazu bei, dass er in der Stadt und auch weit über deren Region hinaus große Achtung und Verehrung genoss. (10)