Spessartblues

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»Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben«, erklärte Frau Schönbrunn mit mühsam beherrschter Stimme.

»Wen vermissen Sie denn?«, fragte er in einem väterlichen Tonfall, der der Frau etwas die Erregung nehmen sollte.

Hastig sprudelte Theresa ihr Anliegen heraus. Der Polizeibeamte hörte ihr aufmerksam zu und unterbrach sie nicht. Irgendwann ging ihr die Luft aus und sie atmete durch.

»Frau Schönbrunn, wenn ich das richtig verstanden habe, vermissen Sie Ihre Tochter erst seit heute Morgen?«

»Ganz so stimmt das nicht, ich habe lediglich erst heute früh ihre Abwesenheit bemerkt. Wahrscheinlich ist sie schon gestern Nacht aus der Wohnung verschwunden.«

Der Polizist wiegte den Kopf. »Gute Frau, Sie sagen, Ihre Tochter ist fünfzehn Jahre alt. Wahrscheinlich mitten in der Pubertät. Ich will Ihnen mal sagen, welche Erfahrungen wir hier in Karlstadt mit derartigen Vermisstenfällen haben. Ich bin bereits seit mehr als zehn Jahren in dieser Polizeidienststelle tätig. Bis jetzt hatten wir vor ungefähr acht Jahren einen Fall, in dem ein Mädchen tatsächlich verschwunden war. Alle anderen Anzeigen erledigen sich von selbst, weil die betreffenden Teenager innerhalb von achtundvierzig Stunden reumütig wieder zu Hause auftauchen.

Ich habe selbst eine Tochter und ich weiß, welche Sorgen man sich macht, wenn das Mädchen einmal ausbleibt. Sie haben gesagt, Ronja war auf einer Party. Ich denke mir, sie ist pünktlich nach Hause gekommen, damit sie zufrieden waren, und dann ist sie ganz einfach wieder abgehauen. Wahrscheinlich hat ihr auf der Feier irgendein Junge den Kopf verdreht und sie wollte nicht als spießig dastehen, weil sie pünktlich nach Hause musste.« Er lächelte ihr beruhigend zu. »Gehen Sie heim und warten Sie ab. Vielleicht ist sie jetzt schon dort und wartet darauf, dass Sie Ihr den Kopf waschen.« Er lächelte verbindlich, dann fuhr er fort: »Sollte wider Erwarten das Mädchen nach zwei Tagen tatsächlich noch nicht aufgetaucht sein, dann kommen Sie bitte wieder her und ich nehme Ihre Anzeige auf. Mehr kann ich im Augenblick leider nicht für Sie tun.«

»Aber …!« Theresa Schönbrunn wollte aufbegehren, weil der Beamte ihrer Meinung nach die Sache zu leichtnahm. Sie riss sich dann aber zusammen, weil ihr klar war, dass der Polizist im Augenblick nichts unternehmen würde. Aus ihrer gerichtlichen Praxis wusste sie, es waren Fristen zu beachten, ehe der Polizeiapparat in Gang gesetzt wurde, um eine vermisste Person zu suchen. Sie bedankte sich knapp und verließ das Gebäude. Draußen stand sie für einen Augenblick verloren auf der Straße herum und blickte sich ratlos um. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass sie im Augenblick mit ihrem Latein am Ende war. Alles in ihr schrie danach, etwas zu unternehmen. Aber was? Als sie vor sechzehn Jahren schwanger wurde, war sie gerade mal neunzehn Jahre alt gewesen. Nur vier Jahre älter als Ronja heute. Für Theresas alleinerziehende Mutter, die sich und ihre Tochter mit mehreren Jobs durchbrachte, brach damals eine Welt zusammen. Für Theresa war von Anfang an klar, dass sie dieses Kind behalten wollte. Gegen die Widerstände ihrer Mutter. Der Vater war eine Partybekanntschaft gewesen. Ein Austauschstudent aus Colorado, der vor Ronjas Geburt schon wieder in die Staaten zurückgekehrt war. Mit Hilfe ihrer Mutter, die ihre Enkelin dann abgöttisch liebte, kam sie einigermaßen über die Runden. Eine deutliche Besserung trat ein, als sie eine Halbtagsstelle beim Amtsgericht in Gemünden angeboten bekam und Ronja eine Kita besuchen konnte. Mittlerweile war Ronja sehr selbständig, so dass sie selbst ganztags arbeiten konnte. Obwohl sie mit vierunddreißig Jahren noch eine recht junge Mutter war, spielten Männer in ihrem Leben keine Rolle mehr. Ronja war ihr Leben!

Sie riss sich aus ihren Gedanken und hastete zu ihrem Auto. Vielleicht hatte der Polizeibeamte recht und Ronja war zwischenzeitlich tatsächlich wieder da. Nur mühsam konnte sie sich auf den Verkehr konzentrieren. Zuhause angekommen, schloss sie hoffnungsfroh die Tür auf, fand jedoch nur eine menschenleere Wohnung vor. Völlig verzweifelt überlegte sie, wen sie um Hilfe bitten könnte.

5

Simon Kerner verließ mit den beiden Schöffen im Gefolge seinen Sitzungssaal. Draußen verabschiedete er sich von ihnen und dem Staatsanwalt, dann eilte er in sein Dienstzimmer zurück, das er durch den separaten Eingang betrat. Das Klopfen an der Verbindungstür zu seinem Sekretariat riss ihn aus seinen Gedanken. Auf seine Aufforderung hin trat Frau Huber zur Tür herein.

»Herr Kerner, Herr Hansen wäre dann da.«

Kerner musste eine Sekunde überlegen, dann war er mit seinen Gedanken wieder voll bei der Sache. Der neue Richter trat heute seinen Dienst in Gemünden an.

»Ah, schön, er soll hereinkommen!«

Kerner erhob sich und trat dem hochgewachsenen Mann entgegen, der das Büro betrat. Christian Hansen war der vom Präsidenten des Landgerichts angekündigte zusätzliche Richter. Kerner wusste aus seiner Personalakte, dass Hansen nach seinem Examen erst einige Jahre in Hamburg als Rechtsanwalt arbeitete, bevor er in den Staatsdienst eintrat und sich erst vor Kurzem nach Bayern hatte versetzen lassen.

Hansens Händedruck war fest, sein Blick offen, er trug einen kurz gehaltenen Vollbart, der ihn älter erscheinen ließ, als er laut Personalakte war. Er überragte Kerner um einige Zentimeter und wirkte sehr sportlich.

»Herzlich willkommen hier in Gemünden, Herr Hansen. Kommen Sie rein und nehmen Sie Platz.« Kerner wies ihn zum Besprechungstisch. Es klopfte. Unaufgefordert kam Kerners Sekretärin herein und stellte ein Tablett mit Geschirr und einer Thermoskanne auf den Tisch. »Vielen Dank«, erklärte Kerner, »ich schenke selbst ein.«

Frau Huber zögerte einen Augenblick, dann beugte sie sich zu ihrem Chef herab und flüsterte halblaut: »Herr Kerner, entschuldigen sie bitte, aber Frau Schönbrunn aus der Abteilung für Zivilsachen hat um einen dringenden Termin bei ihnen gebeten.«

Simon Kerner sah seine Sekretärin etwas irritiert an. »Sie wissen aber, dass ich in der nächsten Zeit beschäftigt bin.«

»Ist mir klar«, gab Sie zurück, »aber es scheint wirklich sehr dringend zu sein, sonst würde ich Ihnen das jetzt nicht sagen.«

Kerner merkte, wie unangenehm es seiner Mitarbeiterin war, ihn vor seinem Besucher mit dieser Angelegenheit bedrängen zu müssen. Da er Frau Huber kannte, war ihm klar, dass es ein wirklich sehr wichtiger Anlass sein musste.

»Gut, sobald ich etwas Luft habe, gebe ich Ihnen Bescheid.«

Sie nickte dankbar und eilte hinaus.

»Als Behördenleiter ist man offenbar immer beschäftigt«, stellte sein Besucher fest und lächelte verständnisvoll.

»Da haben sie recht! Es ist wichtig, dass man für das Personal immer ein offenes Ohr hat. – Aber nun zu Ihnen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Sie bei uns zu haben. Wir sind eigentlich personell notorisch unterbesetzt, aber in der letzten Zeit war die Situation durch einige personelle Schwierigkeiten im richterlichen Bereich dieser Behörde besonders angespannt. Aber das ist ja nun Gott sei Dank vorbei.«

Er deutete fragend auf die Kaffeekanne. »Sie trinken eine Tasse mit?«

Hansen bejahte und hielt Kerner seine Tasse hin, die dieser füllte.

»Erzählen Sie mal«, begann Kerner das Gespräch, »in welchem Bereich waren Sie an Ihrer letzten Dienststelle tätig?«

Die beiden unterhielten sich einige Zeit über verschiedene Aspekte der Versetzung nach Gemünden. Wobei Kerner auffiel, dass Hansen etwas einsilbig wurde, sobald das Gespräch private Bereiche berührte. Kerner verstand aber, dass man nicht gleich am ersten Tag in einer neuen Behörde sein Privatleben offenlegte. Wenig später führte Kerner Hansen im ganzen Haus herum, machte ihn mit den Örtlichkeiten vertraut und stellte ihn dem Personal vor. Am Ende brachte er ihn in sein zukünftiges Dienstzimmer und ließ ihn dann alleine, damit er sich einrichten konnte.

Auf dem Weg zurück in sein Büro nahm Kerner den Weg über sein Vorzimmer.

»Frau Huber, Sie können Frau Schönbrunn sagen, dass ich jetzt Zeit für sie habe.« Er überlegte einen Moment, dann fuhr er fort: »Haben Sie eine Ahnung, um was es geht?«

Die Sekretärin schüttelte den Kopf. »Nichts Konkretes. Sie war nur hier und wollte Sie dringend sprechen. Ich hatte den Eindruck, dass sie etwas bedrückte. Wie es aussah, hatte sie wohl auch geweint.«

»Wenn ich mich nicht täusche, ist sie alleinerziehend …«, überlegte Kerner laut. Frau Huber nickte und griff zum Telefonhörer. Kerner ging in sein Zimmer. Hoffentlich stand ihm kein neuer Ausfall ins Haus. Die Personalsituation war wahrlich angespannt genug.

Einige Minuten später klopfte es erneut. Auf seine Aufforderung hin kam Frau Schönbrunn herein. Kerner ging ihr entgegen und schüttelte ihr die Hand. Sofort sah er die Einschätzung seiner Sekretärin bestätigt. Die junge Frau hatte dunkle Ringe unter den geröteten Augen. Kerner geleitete sie zu einem Stuhl und setzte sich neben sie. Mit einfühlsamer Stimme fragte er: »Liebe Frau Schönbrunn, was kann ich für Sie tun?«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als bei ihr auch schon die Tränen flossen. Sie fasste in die Tasche ihrer Jeans und zog ein zerknülltes Papiertaschentuch heraus. Kerner ließ ihr Zeit, sich wieder zu fassen.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Kerner«, stieß sie schließlich mit zitternder Stimme hervor, »dass ich Sie mit meinen Problemen belästige. Aber … aber ich weiß einfach nicht mehr weiter …!«

»Machen Sie sich keine Gedanken. Wenn ich irgendwie kann, werde ich Ihnen selbstverständlich helfen. Was ist denn geschehen? Sind Sie krank?«

 

Die Frau schüttelte den Kopf. »Meine Tochter Ronja ist … verschwunden.« Ein neuerliches Schluchzen unterbrach ihre Rede.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Kerner vorsichtig nach.

Immer wieder von heftigem Schluchzen unterbrochen, schilderte ihm Frau Schönbrunn das unerklärliche Verschwinden ihrer Tochter und die Reaktion des Polizisten.

»Wie sie mir sagten, steckt ihre Tochter mitten in der Pubertät. Ich habe ja keine Kinder, aber ist es nicht so, dass Teenager in diesem Alter manchmal zu unüberlegten, sprunghaften Handlungen neigen?«, wandte Kerner ein.

Die Frau schüttelte heftig den Kopf.

»Meine Ronja hat sicher schon den einen oder anderen Unsinn angestellt, aber sie würde niemals so lange von zuhause wegbleiben und mich im Ungewissen lassen. Deshalb befürchte ich, dass etwas Schlimmes passiert ist. Ich kann doch nicht abwarten und nichts tun! Auf meine Arbeit kann ich mich nicht konzentrieren. Auf der anderen Seite werde ich verrückt, wenn ich nur untätig daheim herumsitze!«

Kerner nickte verständnisvoll, dann erhob er sich. »Das kann ich verstehen. Frau Schönbrunn, bleiben Sie bitte sitzen, ich werde mal mit dem Leiter der Polizeiinspektion telefonieren. Vielleicht kann ich erreichen, dass die Beamten auch vor Ablauf der üblichen achtundvierzig Stunden bei ihren Streiffahrten die Augen etwas offenhalten. Beschreiben Sie mir doch bitte einmal Ihre Tochter, insbesondere die Kleidung, die sie zuletzt getragen hat.«

Frau Schönbrunn zog ein Foto aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch, dabei bemühte sie sich die Kleidung zu beschreiben, die Ronja an dem Abend getragen hatte. Kerner machte sich einige Notizen, dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und griff zum Telefonhörer. Dienstlich hatte er häufiger mit Polizeihauptkommissar Lenzen, dem Leiter der Polizeiinspektion, zu tun, daher hatte er seine Telefonnummer auch als Kurzwahl eingespeichert.

Kerner wechselte mit dem Polizeibeamten ein paar Floskeln, dann kam er zur Sache. Er schilderte ihm die Problematik und bat um Auskunft, ob irgendwelche Erkenntnisse über einen eventuellen Unfall eines nicht identifizierbaren jungen Mädchens vorliegen. Während er in den Hörer lauschte, ließ Frau Schönbrunn ihn nicht aus den Augen, aber Kerners Miene blieb neutral. Schließlich bat er seinen Gesprächspartner nach dem Mädchen Ausschau halten zu lassen.

»Ich faxe Ihnen ein Bild des Mädchens zu«, erklärte er am Ende des Gesprächs, bedankte sich und legte wieder auf. Anschließend nahm er das Foto, öffnete die Tür zu seinem Vorzimmer und bat Frau Huber das Bild an die Polizeiinspektion Karlstadt zu faxen. Danach kam er zum Besprechungstisch zurück und setzte sich wieder neben Frau Schönbrunn.

»Also, bei der Polizeiinspektion Karlstadt liegen keinerlei Informationen über einen Unfall oder dergleichen vor, worin ein junges Mädchen verwickelt war. Hauptkommissar Lenzen hat mir versichert, dass er seine Polizeistreifen anweisen wird, nach Ronja Ausschau zu halten. Die Beamten kennen ja die diversen Treffpunkte im Landkreis, an denen Jugendliche zusammenkommen. Sobald er etwas weiß, wird er mich informieren. – Frau Schönbrunn, es ist mir klar, dass Sie in Ihrem jetzigen Zustand nicht arbeiten können. Deshalb würde ich sagen, Sie gehen jetzt erst mal nach Hause. Womöglich taucht Ihre Tochter plötzlich wieder auf, dann wäre es sicher gut, wenn Sie daheim sind. Sie können sich darauf verlassen, sobald ich etwas weiß, werde ich Sie anrufen.« Er legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm.

Frau Schönbrunn nickte etwas gefasster, schnäuzte sich die Nase und erhob sich.

»Herr Kerner, ich danke Ihnen vielmals, dass Sie mich angehört und mit der Polizei gesprochen haben. Sie haben sicher recht, es ist wohl besser, wenn ich jetzt nach Hause gehe. Obwohl mich dieses Warten fast verrückt macht. Aber ich könnte mich im Augenblick sowieso nicht auf meine Arbeit konzentrieren.«

»Sie werden sehen, dass sich die ganze Sache in Wohlgefallen auflösen wird«, versuchte Kerner etwas Zuversicht zu verbreiten. Er stand auf und brachte die Frau zur Tür. Als sie draußen war, ließ er sich nachdenklich in seinen Bürostuhl fallen. Er hatte ihr nicht alles weitergegeben, was der Polizeibeamte ihm gesagt hatte. Offenbar gab es im Zuständigkeitsbereich der Polizeiinspektion Lohr am Main vor einer Woche einen ähnlichen Fall. Ein Vater hatte die unerklärliche Abwesenheit seiner 15-jährigen Tochter angezeigt. Kerner hoffte, dass die beiden Mädchen schnell gefunden wurden. Komischerweise signalisierte ihm sein Bauchgefühl etwas anderes, obwohl er dieses Gefühl nicht rational begründen konnte. Kerner war es gewohnt, auf seine innere Stimme zu achten, die ihn während seiner Militärzeit immer wieder vor diversen Gefahren bewahrt hatte.

Er setzte sich seufzend an seinen Schreibtisch zurück und machte sich daran, sein soeben verkündetes Urteil zu diktieren.

6

Als Ronja erwachte, war ihre erste Empfindung heftige Übelkeit. Hinzu kam ein schrecklich pochender Kopfschmerz, der ihr das Gefühl gab, es würde ihr gleich der Schädel zerspringen. Das blendende Licht einer Deckenlampe tat ein Übriges, um diesen Zustand unerträglich zu machen. Sie registrierte, dass sie auf einem Bett lag. Ehe ihr Gehirn seinen Dienst wieder voll aufnehmen konnte, schoss der Inhalt ihres Magens nach oben. Instinktiv richtete sie sich auf, um sich nicht ins Bett erbrechen zu müssen. Der sofort eintretende heftige Schwindel verstärkte noch ihre Übelkeit. Sie ergriff einen neben dem Bett stehenden Plastikeimer und erbrach sich würgend hinein. Der ekelhafte Geruch des Erbrochenen regte den Würgereiz zusätzlich an. In immer neuen Wellen ergoss sich ihr Mageninhalt in das Behältnis. Als sie schon glaubte, sie würde sich die Seele aus dem Leib würgen, ließ die Übelkeit langsam nach. Keuchend stellte sie den Eimer ab, wischte sich mit der Hand über den Mund, dann ließ sie sich völlig erschöpft zurück auf das Lager fallen. Vor ihren geschlossenen Augen drehte sich alles. Mit dem Erwachen der Lebensgeister kamen auch die Gedanken. Was war geschehen? Wo war sie? Langsam hob sie den Kopf und sah an sich herunter. Sie war völlig angekleidet. Sie erinnerte sich, diese Klamotten gestern auf einer Party getragen zu haben. Der fensterlose Raum mit zwei Türen, in dem sie sich befand, war ihr völlig fremd. Ein weiteres Bett im Raum stand leer an der anderen Wand. Diese beiden Betten waren die einzigen Möbelstücke in dem Zimmer, dessen Wände mit vergilbten gemusterten Tapeten beklebt waren. Am Fuße des Bettes ging eine Tür ab, eine weitere erkannte sie an der anderen Schmalseite des Zimmers.

Ronjas erster Versuch aufzustehen, misslang ihr wegen des Schwindels. Sie musste sich vorerst damit begnügen, sich nur aufzusetzen. Mit dem Rücken an den Kopfteil des Bettes gelehnt, wartete sie darauf, dass das Drehen im Kopf nachließ. Der automatische Griff zur Gesäßtasche ihrer Jeans, in der sie für gewöhnlich ihr Smartphone verwahrte, ging ins Leere. Auf dem Bett lag es ebenfalls nicht. Es war weg! Mit zunehmender Gedankenklarheit mischte sich in ihren desolaten Zustand eine Art von Beklemmung. Sie verspürte ein unterschwelliges Gefühl von Gefahr. Sie versuchte sich zu erinnern.

Der Besuch der Party ihres Judotrainers Moritz mit ihrer Freundin Emma fiel ihr wieder ein. Auf der Fete gefiel es ihr richtig gut. Die Leute und die Musik waren cool und sie und ihre Freundin hatten richtig Spaß. Als sie das nächste Mal auf ihr Smartphone sah, erschrak sie. Kurz nach zweiundzwanzig Uhr! Sie hatte ihrer Mutter hoch und heilig versprochen, um dreiundzwanzig Uhr zuhause zu sein. Sie suchte unter den Gästen nach ihrer Freundin. Emmas Zeitlimit war dasselbe wie ihres. In diesem Moment ging die Wohnungstür auf und ein später Gast kam herein. Sie konnte es sich nicht erklären, aber der Anblick des blonden Jungen verschlug ihr regelrecht den Atem. Unauffällig beobachtete sie ihn. Er war schlank und trotzdem muskulös. Unter seinem eng anliegenden T-Shirt war das Spiel der Muskeln deutlich zu erkennen. Seine auffallend blauen Augen durchforschten den Raum, ehe er mit elastischen Schritten dem Gastgeber folgte und sich am Tisch mit den Getränken bediente. Ronja verlor ihn aus den Augen, als Emma sie in einen angrenzenden Raum zerrte, weil sie tanzen wollte. Hier schallten aus einer leistungsfähigen Stereoanlage diverse Songs. Für den Augenblick waren Gedanken an Aufbruch vergessen. Einige Zeit tanzten die beiden Freundinnen selbstvergessen in wilden Zuckungen durch den Raum. Als ihnen dann irgendwann die Luft ausging, taumelten sie ins Wohnzimmer zurück, um sich Getränke zu holen. Emma wurde von einer Gruppe Gleichaltriger angesprochen und in ein Gespräch verwickelt. Ronja mischte sich einen Fruchtcocktail. Plötzlich ritt sie der Teufel. Ein schneller Blick zeigte ihr, dass sie unbeobachtet war. Schnell schüttete sie sich einen Schuss Gin mit ins Glas.

Sie fuhr heftig zusammen, als sie hinter sich ein Räuspern hörte.

»Na, hat die Mami das erlaubt?«

Der blonde Junge stand hinter ihr und grinste über das ganze Gesicht. Dabei funkelten seine blauen Augen spöttisch.

»Dafür brauche ich keine Erlaubnis!«, gab Ronja schnippischer zurück als beabsichtigt.

»Ich bin Jens«, erklärte der Junge und stieß, ihr zuprostend, mit seinem Glas gegen Ronjas. »Ich habe auf jeden Fall nichts gesehen. So wie du aussiehst, bist du doch sicher schon sechzehn. Wie heißt du?«

»Ronja.« Sie ärgerte sich über sich selbst, weil ihre Stimme in diesem Moment etwas schrill klang. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Eine wirkliche Sechzehnjährige wäre da sicher cool geblieben. Zum Glück war die Beleuchtung dämmrig, so dass das nicht auffiel.

»Schöner Name. Kennst du Moritz näher?«

»Er ist mein Judotrainer.«

Er hob offensichtlich beeindruckt die Augenbrauen. »Du machst also Kampfsport. Muss man sich da fürchten?« Er hob scherzhaft die Hände vors Gesicht.

Sie lachte. »Nein, bestimmt nicht! Ich habe erst den gelben Gürtel. Machst du auch Judo?«

Jetzt lachte Jens. »Nein, um Gottes willen. Ich sollte es mir aber vielleicht überlegen. Wenn man dann so sportlich und durchtrainiert aussieht wie du …« Er zwinkerte ihr zu. Dabei legte er wie beiläufig seine Hand auf ihren Rücken. Erneut stieg eine heiße Welle in ihre Wangen. Die Stelle, an der er sie berührte, brannte wie Feuer.

»Hast du Lust zu tanzen?«, fragte er und wies mit der Hand ins Nebenzimmer.

Ronja nickte. Zu mehr wäre sie nicht in der Lage gewesen. Wie auf Wolken schwebte sie mit weichen Knien neben Jens her. Gerade lief ein rhythmischer Rocksong aus und es folgte eine einschmeichelnde Ballade von RAZZ, einem Newcomer der Szene. Jens zog sie ganz langsam in seine Arme, dabei ruhten seine Hände locker auf ihrem Rücken. Trotzdem fühlte sie überdeutlich die Wärme, die seine Handflächen ausstrahlten. Sie schloss die Augen und gab sich ganz der Musik und ihren Gefühlen hin. Nach einigen Tanzschritten legte er seine Wange gegen ihre. Sie spürte seine Hände jetzt deutlicher.

Ronja hatte sich verknallt! Wie ein Blitzstrahl war ein bisher unbekanntes Gefühl durch ihren Körper gefahren und brachte ihr Inneres in Aufruhr. Da war Aufregung, Zittern, weiche Knie und trotzdem eine Euphorie unbekannten Ausmaßes. Diese Empfindung erschreckte sie, weil sie sie nicht einordnen konnte. Sie hatte auf diesem Gebiet praktisch keine Erfahrungen. Bisher war sie über eine Schwärmerei für ihren jungen Mathelehrer nicht hinausgekommen. Eine Empfindung, die sie mit mehreren Klassenkameradinnen teilte. Ständiges Tuscheln und Kichern auf dem Pausenhof waren die Folge. Es war gleichermaßen lustig, aufregend und prickelnd. Aber in keiner Weise mit dem zu vergleichen, was ihr hier widerfuhr. Hier erlebte sie ein Gefühl, das ihr ganz alleine gehörte.

Nachdem sie eine ganze Weile im Tanz versunken waren, löste sich Jens von ihr, fasste sie bei der Hand und führte sie wortlos aus dem Raum. Sie folgte ihm über einen Flur zu einer Tür, die Jens ohne Zögern öffnete. Sie befand sich in einem dämmerigen Zimmer, durch dessen Fenster lediglich das Licht der Straßenbeleuchtung fiel. Wie Ronja beiläufig feststellte, schien es sich um eine Art Arbeitszimmer zu handeln. An einer Wand stand eine Couch, auf der sich beide niederließen. Ronja befand sich im Augenblick in einer Art Traum, der sie völlig willenlos machte. Mit geschlossenen Augen registrierte sie seine Fingerkuppen, die mit sanften Berührungen die Konturen ihres Gesichtes nachzeichneten. Sie folgten den Bögen ihrer Augenbrauen, fuhren sanft über ihren Nasenrücken und brachten ihre Lippen zum Glühen. Als schließlich sein Mund federleicht den ihren berührte, verlor Ronja jegliches Gefühl für Zeit und Raum.

 

Es dauerte etwas, ehe sie bemerkte, dass er sich etwas von ihr gelöst hatte. Sie öffnete die Augen und sah in die seinen, die selbst in dem schwachen Licht von dem kräftigen Blau nichts eingebüßt hatten. Jens musterte sie.

»Ich hoffe, du bekommst keinen Ärger mit deinem Freund?«

Es dauerte einen Moment, bis sie den Inhalt seiner Frage verstand. Schließlich schüttelte sie nachdrücklich den Kopf.

»Ich habe keinen Freund.«

Jens hob verwundert die Augenbrauen. »So ein hübsches Mädchen und hat keinen Freund? Das kann ich fast nicht glauben.«

»Ganz ehrlich nicht!«, beeilte sie sich zu versichern. Seine Schmeichelei ging ihr runter wie Öl.

Plötzlich stand Jens auf. »Bleib hier sitzen, ich hole uns nur schnell etwas zu trinken. Du hast doch sicher auch Durst.« Sie nickte. Tatsächlich hatte sie einen trockenen Mund. Jens winkte ihr kurz zu, dann verließ er das Zimmer. Ronja lehnte sich auf der Couch zurück und legte den Kopf in den Nacken. Innerlich aufgewühlt von ihren Gefühlen, betrachtete sie die Schattenmuster, die die Straßenlampen an die Decke warfen. Ganz im Hintergrund ihres Gehirns meldete sich kaum hörbar eine warnende Stimme. War das, was sie hier tat, richtig? Kopfschüttelnd drängte sie das Wispern zurück. Sie war schließlich kein Kind mehr, was Jens mit seinem Interesse an ihrer Person bewies. Ehe sie sich weiter damit auseinandersetzen musste, ging die Tür wieder auf und Jens kam, zwei Gläser balancierend, herein. Wortlos ließ er sich wieder neben Ronja nieder und gab ihr ein Getränk in die Hand. Sie hörte das leise Klirren von Eiswürfeln.

»Ich hoffe, ich habe deinen Geschmack getroffen. Es ist auch ein kleiner Schuss Gin mit drin.«

Er stieß mit seinem Glas gegen das ihre und sie nahm einen kräftigen Schluck des kühlen Getränks. Es schmeckte ganz ausgezeichnet und durstig, wie sie war, trank sie gleich noch einmal nach. Sehr schnell merkte sie die Wirkung des Alkohols. Anscheinend war in ihrem Drink doch mehr Gin als nur ein kleiner Schuss.

Plötzlich waren draußen auf dem Flur Stimmen und leises Kichern zu hören. Einen Augenblick später rumpelte es an der Tür und sie wurde aufgerissen. Herein kamen, eng umschlungen, ein Junge und ihre Freundin Emma. Ronja zuckte erschrocken zurück.

»Scheiße! Besetzt!«, stieß der Junge hervor, machte mit einer schwungvollen Wendung auf dem Absatz kehrt und verschwand mit Emma wieder nach draußen.

»So etwas Blödes«, ärgerte sich Ronja.

»Wieso?«

»Das eben war meine Freundin Emma.«

»Ja und?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie den Mund halten wird. Meine Mutter …« Sie verstummte.

Jens ging auf Abstand. »Du, ich möchte nicht, dass du zu Hause Ärger bekommst. Ich dachte, in deinem Alter hängt man nicht mehr am Rockzipfel seiner Mutter.«

»So ist es ja auch nicht«, beeilte sich Ronja hastig zu versichern. »Es ist nur wegen der Schule. Normalerweise lässt sie mich deswegen sonntags nicht weg. Ich habe ihr versprochen bis dreiundzwanzig Uhr zu Hause zu sein.«

Jens warf einen Blick auf das Leuchtziffernblatt seiner Armbanduhr.

»Dann musst du ja wohl gleich los. Schade, ich habe dich erwachsener und unabhängiger eingeschätzt. Ich dachte, unser Abend würde jetzt erst beginnen. Eigentlich wollte ich dir gerade vorschlagen, von hier zu verschwinden.«

Für Ronja war die Reaktion des Jungen wie eine kalte Dusche. Wie der Sturz aus dem Himmel in die tiefste Verzweiflung. Fieberhaft dachte sie darüber nach, wie sie es einrichten könnte, damit sie mit Jens länger zusammen sein konnte.

»Ich … ich könnte mit Emma jetzt gehen. Dann wäre ich mit nur geringer Verspätung zu Hause. Meine Mutter hat sicher nichts dagegen, wenn ich mich dann gleich ins Bett lege. Wenn sie weiß, dass ich zu Hause bin, legt sie sich auch schlafen. Sie muss ja auch morgen früh bald aufstehen. Wenn sie dann eingeschlafen ist, kann ich mich wieder davonschleichen. Die nächsten paar Stunden bekommt sie sicher nichts mehr mit. Sie schläft sehr tief.« Sie sah Jens hoffnungsvoll an. Der überlegte einen Augenblick, dann nickte er zustimmend.

»Gib mir deine Adresse, dann werde ich mit meinem Wagen in der Nähe eurer Wohnung auf dich warten. Aber nicht länger als eine Stunde. Wenn du bis dahin nicht gekommen bist, vergessen wir die ganze Sache.«

Ronja sprang auf und gab ihm einen schnellen Kuss, dann nannte sie ihm ihre Adresse.

»Ich hole jetzt Emma, dann verschwinden wir von hier. Bis später. Ich komme bestimmt!«

»Wie gesagt, eine Stunde«, wiederholte er.

Ronja eilte aus dem Raum und suchte Emma, die sich eng umschlungen mit dem Jungen von vorhin auf der Tanzfläche bewegte. Ronja tippte ihr auf die Schulter.

»Emma, es ist Zeit zu gehen! Wenn ich zu spät komme, krieg ich Ärger … und du auch.«

Emma löste ihr Gesicht vom Hals des Jungen, an den sie sich geschmiegt hatte.

»Es ist doch noch Zeit« brummte sie ärgerlich.

Ronja tippte mit dem Finger auf das Display ihres Smartphones. »Wir sind jetzt schon zu spät.«

Widerwillig löste sich Emma aus den Armen des jungen Burschen.

»Tschüss, Timmi, mach’s gut.«

»Man sieht sich«, gab Timmi etwas enttäuscht zurück, verzog sich dann aber an die Bar.

Wortlos liefen die beiden Freundinnen auf dem Nachhauseweg nebeneinander her. Im Augenblick hatte keine das Bedürfnis, sich über den Abend zu unterhalten. Beim Verabschieden an Ronjas Haustür meinte Emma eindringlich: »Ich denke, über die Party gibt es zuhause nicht viel zu erzählen.«

Ronja nickte. »Das sehe ich genauso. Gute Nacht!«

Die beiden umarmten sich kurz, dann gingen sie auseinander.

Als Ronja die Wohnung betrat, sah sie aus dem Wohnzimmer das flimmernde Licht des Fernsehapparats. Sie stellte sich unter den Türrahmen und musterte ihre schlafende Mutter, die in ihrem Fernsehsessel saß und die Füße hochgelegt hatte.

»Hallo Mama, ich bin da und lege mich gleich ins Bett.«

»Na ja, fast pünktlich«, gab Frau Schönbrunn etwas schläfrig zurück. »Ich hoffe, es war schön. Schlaf gut!«

Ronja winkte ihr kurz zu und verschwand im Bad. Wenig später schloss sie die Tür ihres Zimmers hinter sich und legte sich mit Kleidern ins Bett. Ihr Herz schlug ihr bis hinauf zum Hals. Sie hatte so etwas noch nie gemacht. Und trotzdem war sie fest entschlossen, die Sache durchzuziehen.

Bald hörte sie auch ihre Mutter das Bad betreten. Wenig später schloss sie die Tür ihres Schlafzimmers.

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