Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Fünftes Kapitel

Aber kaum ein oder zwei Stun­den fand der Kör­per des Dok­tors in ei­nem un­ru­hi­gen, angst­vol­len Schlum­mer Be­täu­bung. Als er in dem dun­keln, dump­fi­gen Zim­mer mit den fest­ver­schlos­se­nen Fens­tern er­wach­te, emp­fand er, noch ehe sei­ne Ge­dan­ken sich wie­der zu­recht ge­fun­den, je­nen schmerz­haf­ten Druck, je­nes see­li­sche Un­be­ha­gen und Zer­schla­gen­sein, mit dem uns der Kum­mer aus dem Schla­fe weckt. Das Un­heil, das uns am Abend zu­vor er­schüt­tert, ver­wun­det hat, scheint sich wah­rend der Ruhe uns­rem Leib mit­ge­teilt zu ha­ben, den es wie Fie­ber durch­glüht und matt und elend macht. Plötz­lich kam ihm al­les wie­der zum Be­wusst­sein und er setz­te sich has­tig im Bet­te auf.

Lang­sam wie­der­hol­te er sich Wort für Wort al­les, was er drau­ßen bei den krei­schen­den Si­re­nen ge­dacht und ge­fol­gert hat­te. Je mehr er über­leg­te, de­sto mehr wuchs die Ge­wiss­heit. Wie eine ge­wal­ti­ge Hand, die uns mit sich fort­reißt und uns er­würgt, zog sein lo­gi­sches Den­ken ihn zu der un­er­träg­li­chen Wahr­heit.

Er hat­te Durst und Hit­ze; sein Herz klopf­te hef­tig. Er stand auf, um sein Fens­ter zu öff­nen und Atem zu schöp­fen; als er durchs Zim­mer ging, drang durch die Wand ein lei­ses Geräusch an sein Ohr.

Hans schlief im Ne­ben­zim­mer und schnarch­te fried­lich. Er konn­te schla­fen, er! Er ahn­te nichts, er woll­te nichts er­ra­ten! Ein Mann, der ihre Mut­ter ge­kannt, hin­ter­ließ ihm sein Ver­mö­gen, und er steck­te das Gelb ein und fand die Sa­che ganz ge­recht und na­tür­lich.

Reich und ver­gnüg­lich schlief er, ah­nungs­los, dass sein Bru­der vor Jam­mer und Elend fast zu­sam­men­brach, ah­nungs­los, dass ihn ein wil­der Zorn er­fass­te ge­gen den zu­frie­de­nen, sorg­lo­sen Schnar­cher.

Ges­tern noch hät­te er an sei­ne Tür ge­klopft, wäre ein­ge­tre­ten, hät­te sich ans Bett ge­setzt und hät­te dem ver­wun­dert drein­schau­en­den, schlaf­trun­ke­nen Bru­der ge­sagt: »Hans, du darfst dies Ver­mächt­nis nicht an­neh­men; wenn du’s tä­test, wür­de man mor­gen uns­re Mut­ter ver­däch­ti­gen und ihre Ehre an­tas­ten.«

Heu­te konn­te er nicht mehr spre­chen; er konn­te Hans nicht sa­gen, dass er ihn nicht für den Sohn ih­res Va­ters hielt. Jetzt galt es, die von ihm ent­deck­te Schmach für sich be­hal­ten, sie in sei­nem Her­zen be­gra­ben, der gan­zen Welt den Schand­fleck ver­hül­len, kei­nen, kei­nen et­was da­von ah­nen las­sen, nicht ein­mal sei­nen Bru­der, vor al­lem nicht sei­nen Bru­der.

Die lee­re Furcht vor dem Ge­re­de der Leu­te war es nicht mehr, die ihn er­füll­te; an die öf­fent­li­che Mei­nung dach­te er nicht. Wenn er, er al­lein die Mut­ter rein und un­schul­dig wüss­te, so könn­te die Welt sei­net­we­gen sie ver­kla­gen und be­schimp­fen! Aber wie soll­te er Tag für Tag ihr be­geg­nen, um sie sein, mit ihr le­ben, und so oft er sie an­sah, dar­an den­ken, dass sie in den Ar­men ei­nes Frem­den ge­ruht, ein Kind von ihm emp­fan­gen?

Wie ru­hig und hei­ter sie trotz­dem war, wie si­cher in ih­rem gan­zen We­sen! War es denk­bar, dass eine Frau wie sie, eine Frau mit rei­ner See­le und ehr­li­chem Sinn, von der Lei­den­schaft hin­ge­ris­sen, sün­di­gen könn­te, ohne dass spä­ter ihr Ge­wis­sen sich ge­rührt, das Be­wusst­sein ih­rer Schuld sie ge­quält hät­te?

Ja – das Ge­wis­sen! Frei­lich muss­te es ge­spro­chen ha­ben, frei­lich muss­ten in der ers­ten Zeit Ge­wis­sens­bis­se sie ge­mar­tert ha­ben, dann aber hat­ten sie sich ver­wischt, wie al­les sich ver­wischt und ver­weht! Ge­wiss, sie hat­te ihre Schuld be­weint, und nach und nach sie ver­ges­sen. Ist denn nicht al­len Frau­en jene glück­li­che Gabe des Ver­ges­sens in so ho­hem Maße ei­gen, dass sie nach we­nig Jah­ren den Mann kaum wie­der­er­ken­nen, der ih­ren Mund ge­küsst, dem sie sich zu ei­gen ge­ge­ben? Der Kuss durch­bebt sie wie ein Blitz­strahl, die Lei­den­schaft zieht vor­über wie ein Ge­wit­ter, dann, wie der Him­mel wie­der hei­ter und blau wird, kehrt das Le­ben in sein al­tes Ge­lei­se zu­rück. Erin­nert man sich ei­ner Wet­ter­wol­ke?

Pe­ter konn­te nicht mehr im Zim­mer blei­ben. Dies Haus, das Haus sei­nes Va­ters droh­te über ihm zu­sam­men­zu­stür­zen! Er fühl­te das Dach auf sich las­ten; die Mau­ern woll­ten ihn er­sti­cken. Ein bren­nen­der Durst quäl­te ihn, und er zün­de­te sei­ne Ker­ze an, um in der Kü­che ein Glas fri­schen Was­sers zu ho­len.

Er ging die zwei Trep­pen hin­un­ter, und als er mit dem ge­füll­ten Was­ser­krug wie­der her­auf­stieg, setz­te er sich, im Hemd wie er war, auf eine Trep­pen­stu­fe, wo ein star­ker Luft­zug über ihn her strich, und trank, ohne Glas, in lan­gen, durs­ti­gen Zü­gen, wie ein au­ßer Atem ge­kom­me­ner Läu­fer. Als sei­ne Schrit­te sich nicht mehr ver­neh­men lie­ßen, emp­fand er die tie­fe Stil­le des Hau­ses, in wel­cher er bald die lei­ses­ten Töne un­ter­schied. Erst schlug die Uhr im Spei­se­zim­mer, und ihr Ti­cken schi­en ihm von Se­kun­de zu Se­kun­de lau­ter und kräf­ti­ger zu wer­den. Dann hör­te er aber­mals ein Schnar­chen, aber das kur­ze, müh­sa­me, har­te Schnar­chen des Al­ters, ohne Zwei­fel das sei­nes Va­ters, und er schreck­te förm­lich zu­sam­men, als ihm ur­plötz­lich, wie von au­ßen in ihn hin­ein­ge­tra­gen, der Ge­dan­ke kam, dass die­se bei­den Män­ner, die un­ter ei­nem Da­che schnarch­ten, Va­ter und Sohn, ein­an­der völ­lig fremd wa­ren! Kein Band des Blu­tes, auch nicht das ent­fern­tes­te, ver­band sie, und das wuss­ten sie nicht! Sie ver­kehr­ten herz­lich mit­ein­an­der, sie küss­ten sich, sie freu­ten sich und be­trüb­ten sich über die näm­li­chen Din­ge, wie wenn das näm­li­che Blut in bei­der Adern flös­se, und doch konn­ten zwei an den ent­ge­gen­ge­setz­ten Po­len ge­bo­re­ne Men­schen ein­an­der nicht frem­der sein, als die­ser Va­ter und die­ser Sohn. Sie glaub­ten sich zu lie­ben, weil eine fest­wur­zeln­de Lüge sie ver­band. Eine Lüge war es, die die­se Va­ter- und Soh­nes­lie­be her­vor­rief, eine Lüge, die auf­zu­de­cken ein Ding der Un­mög­lich­keit war, und von der viel­leicht nie ein Mensch Kennt­nis er­hal­ten wür­de, nie­mand als er, der ech­te Sohn.

Und den­noch, wenn er sich täusch­te? Wie es er­grün­den? Ach! Wenn eine auch noch so un­be­deu­ten­de Ähn­lich­keit be­stan­den hät­te zwi­schen Hans und sei­nem Va­ter, eine je­ner merk­wür­di­gen, ge­heim­nis­vol­len Ähn­lich­kei­ten, die sich vom Urah­nen zum Ur­u­ren­kel fort­pflan­zen, der Welt zei­gend, dass gan­ze Ge­schlech­ter­rei­hen von ei­nem Kus­se her­stam­men! Für ihn als Arzt hät­te es ja nur ei­ner un­be­deu­ten­den Klei­nig­keit be­durft, die Bie­gung der Nase, die Form des Kie­fers, die Stel­lung der Au­gen, die Art der Zäh­ne oder der Haa­re, ja, we­ni­ger noch hät­te ge­nügt, um sein ge­üb­tes Auge die­se Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit er­ken­nen zu las­sen, eine Be­we­gung, eine Ge­wohn­heit, eine Art und Wei­se, sich zu ge­ben, eine auf den Sohn über­tra­ge­ne Ge­schmacks­rich­tung, ir­gend ein cha­rak­te­ris­ti­scher Zug.

Er such­te und such­te und konn­te nicht das Ge­rings­te ent­de­cken. Aber viel­leicht hat­te er bis­her, so­lan­ge er kei­nen Grund ge­habt, nach sol­chen Fin­ger­zei­gen der Na­tur zu for­schen, schlecht be­ob­ach­tet, schlecht er­fasst.

Lang­sam ging er nun die Trep­pe vollends hin­auf, mit mü­dem Schritt, im­mer nach­sin­nend. Als er an der Tür von sei­nes Bru­ders Schlaf­zim­mer vor­über­kam, blieb er auf ein­mal ste­hen, die Hand nach der Klin­ke aus­ge­streckt. Ein hef­ti­ges Ver­lan­gen, Hans so­fort an­zu­se­hen, sei­ne Züge zu stu­die­ren, ihn im Schlaf zu be­lau­schen, wo al­les Ruhe ist, wo das Ge­sicht fried­lich, ab­sichts­los, ohne die Gri­mas­se des Le­bens sich zeigt, er­fass­te ihn mit Macht. Er woll­te ihm das Ge­heim­nis sei­ner Züge im Schlaf ent­rei­ßen; wenn ir­gend eine be­ach­tens­wer­te Ähn­lich­keit vor­han­den, so konn­te sie ihm nicht ent­ge­hen.

Aber was sa­gen, falls Hans er­wach­te? Wie ihm die­sen Be­such er­klä­ren?

Die Fin­ger fest um die Tür­klin­ke ge­legt, blieb er ste­hen, sich auf einen Vor­wand, einen Grund für sei­nen Be­such be­sin­nend.

Da fiel ihm ein, dass er vor acht Ta­gen sei­nem Bru­der ein klei­nes Fläsch­chen mit Opi­um ge­gen Zahn­schmer­zen ge­lie­hen hat­te. Er konn­te ja sa­gen, dass er heu­te Nacht eben­falls an die­sem Übel lei­de und sei­ne Me­di­zin zu­rück­ver­lan­gen wol­le. Er trat also ein, vor­sich­tig, schlei­chend, wie ein Dieb.

Mit halb­ge­öff­ne­tem Mund lag Hans da und schlief sei­nen ge­sun­den, tie­fen Kin­der­schlaf. Der blon­de Bart und das dich­te, gold­far­bi­ge Haar ho­ben sich leuch­tend von dem wei­ßen Lin­nen. Er er­wach­te nicht, aber er hör­te auf zu schnar­chen.

Über ihn ge­beugt, starr­te Pe­ter ge­spannt, gie­rig in sein Ge­sicht. Nein, die­ser jun­ge Mann hat­te kei­ne Ähn­lich­keit mit Ro­land, und aber­mals stieg die Erin­ne­rung an das ver­schwun­de­ne Mi­nia­tur­bild in ihm auf. Er muss­te es fin­den! Vi­el­leicht konn­te ein Blick dar­auf alle Zwei­fel lö­sen.

Ob er die auf ihn ge­hef­te­ten Au­gen läs­tig emp­fand, oder ob er das Licht der Ker­ze durch die ge­schlos­se­nen Li­der fühl­te, der Bru­der warf sich un­ru­hig hin und her. So­fort zog sich der Dok­tor zu­rück und schlich lei­se auf den Ze­hen nach der Tür, die er ge­räusch­los hin­ter sich zu­zog; dann kehr­te er in sein Zim­mer zu­rück, leg­te sich aber nicht wie­der zu Bett.

Lang­sam kam der Tag her­an. Eine nach der an­de­ren gab die Stand­uhr im Spei­se­zim­mer, de­ren Klang tief und ernst war, als ob das klei­ne Rä­der­werk eine Kir­chen­glo­cke ver­schluckt hät­te, die Stun­den an. Durch das öde, schwei­gen­de Trep­pen­haus, durch Wän­de und Tü­ren drang ihre Stim­me, um all­mäh­lich in den Zim­mern zu ver­hal­len, wo sie bei den Schla­fen­den nur tau­be Ohren fand, Pe­ter ging wie ein Per­pen­di­kel zwi­schen Fens­ter und Tür sei­ner klei­nen Stu­be auf und ab. Was soll­te er tun? Um die­sen Tag im Kreis der Sei­nen zu ver­le­ben, fühl­te er sich zu ver­stört, zu er­schüt­tert. Bis mor­gen we­nigs­tens muss­te er al­lein sein, sich fas­sen, ru­hi­ger wer­den, Kräf­te sam­meln für das All­tags­le­ben, dem er sich nicht ent­zie­hen konn­te, das er wie­der auf­neh­men muss­te.

 

Wohl und gut! Er konn­te ja nach Trou­ville fah­ren und den Men­schen­schwarm auf der Düne um­her­krab­beln se­hen. Das war eine Zer­streu­ung, muss­te sei­nen Ge­dan­ken eine an­de­re Rich­tung ge­ben, und er ge­wann da­bei Zeit, um sich auf all das Ent­setz­li­che, das sei­ner harr­te, vor­zu­be­rei­ten.

So­bald der Mor­gen däm­mer­te, klei­de­te er sich an. Der Ne­bel hat­te sich zer­streut; das Wet­ter war schön, sehr schön. Da der Damp­fer nach Trou­ville nicht vor neun Uhr ab­fuhr, so über­leg­te der Dok­tor, dass er vor der Ab­fahrt sei­ner Mut­ter adieu sa­gen, sie küs­sen müs­se.

Er war­te­te die Zeit ab, zu der sie in der Re­gel auf­stand, und ging dann die Trep­pe hin­un­ter. Als er vor ih­rer Schlaf­zim­mer­tür stand, poch­te sein Herz zum Zer­sprin­gen, und er muss­te ste­hen blei­ben, um Atem zu ho­len.

Die Hand, die er auf das Tür­schloss ge­legt, war so un­si­cher und kraft­los, dass es schi­en, als ob sie nicht im­stan­de wäre, die­sen klei­nen Dienst des Öff­nens zu ver­rich­ten. Er klopf­te an. Die Stim­me der Mut­ter frag­te: »Wer ist’s?«

»Ich, Pe­ter!«

»Was willst du?«

»Dir gu­ten Mor­gen sa­gen, weil ich mit ein paar Freun­den nach Trou­ville hin­über­fah­re und den Tag dort zu­brin­ge.«

»Ja – ich bin noch im Bett!«

»Gut, gut, lass dich nicht stö­ren. Ich sehe dich heu­te Abend noch, wenn ich heim kom­me.«

Er hoff­te los­zu­kom­men, ohne sie ge­se­hen, ohne den er­lo­ge­nen Kuss auf ihre Wan­ge ge­drückt zu ha­ben, der ihm das Herz schon im Voraus schwer mach­te.

Al­lein sie rief: »Nur einen Au­gen­blick! Ich ma­che dir auf. Du musst war­ten, bis ich wie­der im Bett bin.«

Er hör­te den Tritt ih­rer blo­ßen Füße auf dem Fuß­bo­den, dann das lei­se Geräusch des Rie­gels.

»He­rein!« rief sie.

Er trat ein. Sie saß auf­recht im Bett, wäh­rend der Va­ter, den in ein sei­de­nes Tuch gehüll­ten Kopf nach der Wand ge­kehrt, be­harr­lich wei­ter schlief. Ihn weck­te nichts. Um ihn wach zu krie­gen, muss­te man ihm min­des­tens den Arm aus­rei­ßen. An den Ta­gen des Fisch­fangs fiel dem vom Ma­tro­sen Pa­pa­gris wach ge­klin­gel­ten Dienst­mäd­chen die schwe­re Auf­ga­be zu, ihn aus die­ser blei­er­nen Ruhe auf­zu­rüt­teln.

Auf sie zu­ge­hend, fass­te Pe­ter sei­ne Mut­ter fest ins Auge, und ihm war plötz­lich, als ob er sie nie zu­vor ge­se­hen hät­te.

Sie bot ihm die Wan­ge; er küss­te sie zwei­mal und setz­te sich dann auf einen nie­dern Stuhl.

»Hast du dich ges­tern Abend zu die­sem Aus­flug ent­schlos­sen?« frag­te sie.

»Ja, ges­tern Abend.« »Du kommst doch zu Tisch zu­rück?«

»Ich weiß es nicht. Ihr dürft kei­nes­falls auf mich war­ten.«

Neu­gie­rig und ver­wun­dert forsch­te er in ih­ren Zü­gen. Die­se Frau war sei­ne Mut­ter! Die­ses Ge­sicht, das er von Kind­heit auf, von der Stun­de an, da sein Auge se­hen ge­lernt, ge­kannt, dies Lä­cheln, die­se Stim­me, al­les Alt­ver­trau­te er­schi­en ihm plötz­lich neu und völ­lig an­ders, als er es bis jetzt ge­se­hen. Er be­griff mit ein­mal, dass er, frag­los lie­bend, sie nie an­ge­se­hen hat­te. Und doch war sie es, doch kann­te er jede kleins­te Ein­zel­heit in ih­ren Zü­gen, al­lein zum Be­wusst­sein ka­men ihm die­se Ein­zel­hei­ten heu­te zum ers­ten Mal. Die angst­vol­le Span­nung und Auf­merk­sam­keit, mit der sein Blick dies ge­lieb­te Haupt um­fing, zeig­te sie ihm an­ders als sonst, mit Zü­gen und ei­nem Aus­druck, wie er sie nie wahr­ge­nom­men.

Er stand auf, um sich zu ver­ab­schie­den, da, plötz­lich dem un­über­wind­li­chen Ver­lan­gen nach Auf­klä­rung über das, was ihm seit ges­tern das Herz zer­fraß, nach­ge­bend, be­merk­te er: »Sag ein­mal, ich mei­ne mich zu er­in­nern, dass frü­her in Pa­ris ein Bild die­ses Herrn Mar­schall bei uns im Sa­lon hing.«

Sie zö­ger­te einen Au­gen­blick – oder er bil­de­te sich we­nigs­tens ein, dass sie zö­ge­re. Dann sag­te sie: »Ja, al­ler­dings.«

»Was ist denn aus dem Bil­de ge­wor­den?«

Wie­der hät­te ihre Ant­wort ra­scher er­fol­gen kön­nen.

»Dies Bild … ja, war­te ein­mal … ich weiß wahr­haf­tig nicht recht … viel­leicht habe ich es in mei­nem Schreib­tisch.«

»Es wäre sehr nett von dir, wenn du da­nach su­chen woll­test.«

»Ja­wohl, na­tür­lich. Wes­halb willst du es ha­ben?«

»Ach! Mir liegt nichts dar­an! Ich mein­te nur, es wäre pas­send, es Hans zu ge­ben, und müss­te ihm Freu­de ma­chen.«

»Ge­wiss, du hast recht; das ist ein lie­ber, gu­ter Ge­dan­ke. Ich wer­de da­nach se­hen, so­bald ich auf­ge­stan­den bin.«

Und er ging.

Der Him­mel strahl­te in wol­ken­lo­ser Bläue; kein Lüft­chen rühr­te sich. Al­les schi­en fröh­lich zu sein; die Ge­schäfts­leu­te eil­ten zur Ar­beit; die Be­am­ten in ihre Kanz­lei­en; die jun­gen Ar­bei­te­rin­nen in ihre Lä­den. Ein­zel­ne summ­ten Me­lo­di­en vor sich hin; der hel­le Son­nen­schein stimm­te je­den Men­schen hei­ter.

Die Pas­sa­gie­re ström­ten schon nach dem Damp­fer für Trou­ville. Pe­ter setz­te sich ganz hin­ten auf eine Bank.

»Hat mei­ne Fra­ge nach dem Bil­de sie be­un­ru­higt, oder nur über­rascht?« frag­te er sich. »Hat sie es ver­räumt, oder ver­steckt? Weiß sie, wo es ist, oder weiß sie es nicht? Und wenn sie es ver­steckt hat, wes­halb und wozu hat sie es ge­tan?«

Und im­mer dem näm­li­chen Ge­dan­ken­gang nach­hän­gend, von Fol­ge­rung zu Fol­ge­rung ge­hend, ge­lang­te er zu dem Ende:

Das Bild, ein Por­trait des Freun­des, des Ge­lieb­ten, war frei für al­ler Au­gen im Sa­lon ge­blie­ben, bis zu dem Tage, da die Frau, die Mut­ter, lan­ge, ehe ein an­de­rer et­was ge­ahnt, be­merkt hat­te, dass ihr Sohn die­sem Bil­de glich. Lan­ge viel­leicht schon hat­te sie nach die­ser Ähn­lich­keit ge­forscht; nach­dem sie eine sol­che ent­deckt, ent­ste­hen, wach­sen ge­se­hen, muss­te sie fürch­ten, dass die­sel­be auch ei­nem frem­den Blick auf­fal­len könn­te, und sie hat­te ei­nes Abends das ver­rä­te­rische Bild­chen weg­ge­nom­men und ver­bor­gen, da sie nicht den Mut ge­habt, es zu ver­nich­ten.

Und Pe­ter ent­sann sich ganz deut­lich, dass die Mi­nia­ture lan­ge, lan­ge Zeit vor ih­rem Weg­zug von Pa­ris ver­schwun­den ge­we­sen. Sie war ent­fernt wor­den, sag­te er sich jetzt, als der sich ent­wi­ckeln­de Bart sei­nes Bru­ders dem­sel­ben plötz­lich eine große Ähn­lich­keit mit dem blon­den jun­gen Mann, der aus dem Gol­d­rah­men her­vor­lä­chel­te, ver­lie­hen hat­te.

Das Schiff fuhr ab und die Be­we­gung stör­te Pe­ter aus sei­nem Hin­brü­ten auf und zer­streu­te ihn ein we­nig. Er er­hob sich und blick­te um sich.

Der klei­ne Damp­fer fuhr zum Ha­fen hin­aus, wand­te dann nach links und steu­er­te pus­tend und schnau­bend der fer­nen Küs­te zu, die man durch den mor­gend­li­chen Duft schim­mern sah. Da und dort rag­te das rote Se­gel ei­ner un­be­weg­lich auf der spie­gel­glat­ten See lie­gen­den, schwer­fäl­li­gen Fi­scher­bar­ke wie ein Fels­block aus dem Was­ser, und die Sei­ne, die sich ge­mäch­lich von Rou­en her­un­ter­wälzt, er­schi­en wie ein brei­ter Mee­res­arm, der zwei Nach­bar­küs­ten trennt.

In we­ni­ger als ei­ner Stun­de hat­te man Trou­ville er­reicht, und da es eben Ba­de­zeit war, be­gab sich Pe­ter so­fort an den Strand, der von wei­tem wie ein lang­ge­streck­ter Gar­ten voll bun­ter, leuch­ten­der Blu­men aus­sah.

Vom Ha­fen­ein­gan­ge bis zu den Ro­ches-Noi­res wim­mel­te es auf dem gel­ben Dü­nen­san­de von bunt­far­bi­gen Son­nen­schir­men, Hü­ten in al­len mög­li­chen und un­mög­li­chen For­men, Toi­let­ten al­ler Art, die, teils in Grup­pen vor den Ka­bi­nen ste­hend, rei­hen­wei­se dem Mee­re ent­lang wan­delnd, oder da und dort zer­streut, in der Tat rie­si­gen Blu­men­bü­scheln auf ei­ner un­er­mess­li­chen Wie­se gli­chen. Und die fri­schen Men­schen­stim­men, de­ren Klang weit durch die rei­ne Luft drang, das Krei­schen der Kin­der, die ge­ba­det wur­den, das glo­cken­hel­le La­chen der jun­gen Da­men, das Ru­fen und Re­den, al­les ge­sell­te sich dem gleich­mä­ßi­gen Brau­sen der Bran­dung und ward vom Mor­gen­win­de als ein un­un­ter­bro­che­nes, ein­för­mi­ges, ver­schwom­me­nes Geräusch dem An­kömm­ling ent­ge­gen­ge­tra­gen.

Pe­ter durch­schritt die fröh­li­che Men­ge und war da­bei ein­sa­mer, ver­lo­re­ner, iso­lier­ter, den Men­schen fer­ner ge­rückt, dem Ver­sin­ken in sei­ne qual­vol­le Ge­dan­ken­welt nä­her, als wenn man ihn drau­ßen hun­dert Mei­len weit von der Küs­te vom Deck ei­nes Schif­fes ins Was­ser ge­schleu­dert hät­te. Er streif­te an ih­nen vor­über, er hör­te ein­zel­ne Re­den, ohne sie zu ver­ste­hen, er sah, ohne zu ge­wah­ren, wie die Män­ner mit den Frau­en spra­chen, die Frau­en den Män­nern zu­lä­chel­ten.

Mit ei­nem Schla­ge aber, wie ein plötz­li­ches Er­wa­chen, kam’s, dass er sei­ner Um­ge­bung inne ward und ihn zu­gleich ein lei­den­schaft­li­cher Hass ge­gen die­se Leu­te er­griff, die alle froh und glück­lich zu sein schie­nen.

Von ei­nem neu­en Ge­dan­ken be­seelt, dräng­te er sich jetzt durch die Grup­pen, blieb ste­hen, blick­te ein­zel­nen nach. All die­se viel­far­bi­gen Toi­let­ten, die den ein­för­mig gel­ben Sand mit Blu­men­pracht be­deck­ten, die­se hüb­schen Stof­fe, die durch­sich­ti­gen Spit­zen­schir­me, die er­küns­tel­te Schlank­heit der eng ge­fes­sel­ten Tail­len, die tau­send klei­nen und großen Mo­de­tor­hei­ten, von dem nied­li­chen Schuh­werk bis zu der aben­teu­er­li­chen Hut­form, die ver­füh­re­ri­sche An­mut der Be­we­gun­gen, der Stim­me, des La­chens, die gan­ze Sum­me der Ko­ket­te­rie, die sich auf die­ser öden Düne zur Schau stell­te, be­rühr­te ihn plötz­lich als ein Aus­druck weib­li­cher Ver­derbt­heit. All die­se sorg­fäl­tig ge­schmück­ten Frau­en woll­ten ge­fal­len, ver­lo­cken, ver­füh­ren. Für die Män­ner ent­fal­te­ten sie all ihre Rei­ze, für alle Män­ner, nur nicht für den Gat­ten, denn die­sen brauch­te man ja nicht mehr zu er­obern. Für den Lieb­ha­ber von heu­te oder den von mor­gen, für den zu­fäl­lig Be­geg­nen­den, schon be­merk­ten, viel­leicht er­war­te­ten Un­be­kann­ten hat­ten sie sich ge­schmückt. Und die­se Män­ner, die, dicht ne­ben ih­nen sit­zend, Aug’ in Auge, Mund an Mund zu ih­nen spra­chen, sie an sich lock­ten und be­gehr­ten, stell­ten ih­nen, trotz­dem sie so nah­bar und er­reich­bar drein­schau­ten, nach wie ei­nem flüch­ti­gen, schwer zu er­ha­schen­den Wild.

Die­ser wei­te Strand war also nichts andres als ein Tem­pel der Lust, wo die einen sich ver­kauf­ten, die an­de­ren sich ver­schenk­ten, die einen um ihre Küs­se feil­schen lie­ßen, die an­de­ren sie frei ge­währ­ten, und all die­se Frau­en hat­ten nur den einen Ge­dan­ken, et­was zu bie­ten und be­gehrt zu se­hen, was nicht mehr ihr Ei­gen war, was längst an­de­ren ge­hör­te. Und da­bei sag­te er sich, dass es über­all auf der Welt das­sel­be Lied sei.

Sei­ne Mut­ter hat­te es ge­macht wie die an­de­ren, das war al­les! Wie die an­de­ren – nein! Es gab Aus­nah­men und zwar vie­le, sehr vie­le! Was er hier vor sich sah, wa­ren rei­che, lau­nen­haf­te, aben­teu­er­lus­ti­ge Da­men: sie ge­hör­ten alle mit­ein­an­der der vor­neh­men ga­lan­ten Welt oder auch der nicht vor­neh­men ga­lan­ten an, die ehr­ba­ren Bür­gers­frau­en, die sa­ßen wohl ver­wahrt in ih­ren Häu­sern, ih­nen be­geg­ne­te man nicht auf dem Sand, den die klei­nen Füß­chen der Mü­ßig­gän­ge­rin­nen fest­trip­pel­ten.

Die Flut kam und trieb die vor­ders­te Li­nie der Ba­den­den land­ein­wärts. Meh­re­re Grup­pen er­ho­ben sich has­tig und flo­hen, ihre Stüh­le mit sich neh­mend, vor den gelb­li­chen, mit weißem Schaum, wie mit Spit­zen ver­bräm­ten Wo­gen. Die mit ei­nem Pferd be­spann­ten Ba­de­kar­ren spu­te­ten sich eben­falls, aufs Tro­cke­ne zu kom­men, und auf dem bret­ter­be­leg­ten Spa­zier­weg, der sich von ei­nem Ende der Küs­te zum an­de­ren hin­zieht, ent­stan­den jetzt zwei ein­an­der fort­wäh­rend be­geg­nen­de, zu­sam­men­sto­ßen­de, sich ge­gen­sei­tig hem­men­de Men­schen­strö­me, die sich lang­sam vor­wärts scho­ben. Pe­ter, dem dies Drän­gen und Schie­ben und Sto­ßen auf die Ner­ven ging, mach­te, dass er aus dem Ge­trie­be kam, eil­te dem Städt­chen zu und trat in ein ein­fa­ches Wein­haus ein, um zu früh­stücken.

Nach­dem er Kaf­fee ge­trun­ken, mach­te er sich’s vor der Tür mit Hil­fe von zwei Stüh­len be­hag­lich, und da er in der Nacht so gut wie gar nicht ge­schla­fen hat­te, schlum­mer­te er jetzt im Lin­den­schat­ten ein.

 

Nach ein paar Stun­den der Ruhe schüt­tel­te er sich, reck­te die Glie­der und ent­deck­te, dass es höchs­te Zeit sei, wenn er das Schiff er­rei­chen woll­te. Et­was steif von der nicht eben be­que­men Lage, in der er so lan­ge ver­harrt war, mach­te er sich auf den Weg. Jetzt woll­te er nach Hau­se, er woll­te wis­sen, ob sei­ne Mut­ter Mar­schalls Bild ge­fun­den habe. Ob sie wohl da­von an­fan­gen wür­de, oder ob er da­nach wür­de fra­gen müs­sen? Wenn sie eine zwei­te Fra­ge ab­war­te­te, so hat­te sie einen ge­hei­men Grund, ihm das Bild nicht zu zei­gen.

So­bald er aber in sein Zim­mer zu­rück­ge­kehrt war, konn­te er sich nicht ent­schlie­ßen, die Trep­pe wie­der hin­un­ter­zu­ge­hen zu den Sei­ni­gen. Er litt na­men­los. Sein Herz hat­te noch nicht Zeit ge­fun­den, sich zu be­ru­hi­gen. Schließ­lich raff­te er sich auf und be­trat das Spei­se­zim­mer in dem Au­gen­blick, als die an­de­ren sich zu Tisch setz­ten.

Auf al­len Ge­sich­tern lag eine Fei­er­tags­stim­mung.

»Nun,« sag­te Herr Ro­land, »geht’s vor­wärts mit eu­ren Ein­käu­fen? Ich für mei­nen Teil will kein Stück­chen se­hen, eh’ al­les fix und fer­tig ist.«

»O ja, wir sind schon ziem­lich weit,« er­wi­der­te sei­ne Frau. »Nur muss man sich al­les zwei­mal über­le­gen, da­mit man nichts Un­prak­ti­sches macht. Die Fra­ge des Mo­bi­li­ars kos­tet uns viel Nach­den­ken.«

Sie hat­te samt ih­rem Soh­ne den gan­zen Tag in Mö­bel­hand­lun­gen und bei Ta­pe­zie­rern ver­bracht. Ihr ge­fie­len die glän­zen­den, ein we­nig lau­ter ins Auge fal­len­den Stof­fe, Hans da­ge­gen war für vor­neh­me Ein­fach­heit, und bei je­dem ein­zel­nen Mus­ter­fleck hat­ten bei­de ihre Grün­de und An­schau­un­gen im­mer wie­der weit­läu­fig er­ör­tert. Die Mut­ter mach­te gel­tend, dass dem pro­zess­lus­ti­gen Kli­en­ten gleich beim Ein­tre­ten in das War­te­zim­mer im­po­niert wer­den müs­se, dass er den Ein­druck von Reich­tum emp­fan­gen sol­le.

Im Ge­gen­satz dazu wünsch­te Hans, dem es durch­aus um eine ge­bil­de­te, rei­che, ele­gan­te Kli­en­tel zu tun war, eine sol­che durch eine Um­ge­bung in gu­tem, fei­nem Ge­schmack für sich ein­zu­neh­men.

Von der Sup­pe an er­neu­te sich die­ser end­lo­se Streit, der mit all sei­nen Für und Wi­der den gan­zen Tag ge­dau­ert hat­te.

Va­ter Ro­land hat­te kei­ner­lei selbst­stän­di­ge An­sicht. Er wie­der­hol­te nur: »Ich will von gar nichts hö­ren. Ich sehe mir die Ge­schich­te erst an, wenn sie fer­tig ist.«

Nun wand­te sich Frau Ro­land an ih­ren Äl­tes­ten.

»Lass ein­mal hö­ren, wie du dar­über denkst, Pe­ter!« bat sie.

Sei­ne Ner­ven wa­ren so über­reizt, dass er am liebs­ten mit ei­nem Fluch geant­wor­tet hät­te. Er nahm sich in­des zu­sam­men und sag­te im tro­ckens­ten Ton, in dem aber doch ein gu­ter Teil Er­re­gung vi­brier­te: »O! Ich bin ganz der An­sicht mei­nes Bru­ders. Je ein­fa­cher, de­sto bes­ser; Ein­fach­heit ist auf dem Ge­bie­te des Ge­schmackes, was Recht­schaf­fen­heit im Cha­rak­ter ist.«

»Man darf aber nicht au­ßer acht las­sen,« ent­geg­ne­te die Mut­ter, »dass wir in ei­ner Han­dels­stadt le­ben und dass Ge­schäfts­leu­te den fei­ne­ren Ge­schmack in der Re­gel nicht mit Löf­feln ge­ges­sen ha­ben.«

»Und was hat das zu sa­gen? Ist es ein Grund, selbst ein Dumm­kopf zu sein, weil an­de­re es sind? Wenn mei­ne Zeit­ge­nos­sen ver­rückt oder un­red­lich sind, muss ich des­halb ih­rem Bei­spiel fol­gen? Eine Frau wird doch wahr­haf­tig nicht dar­um einen Fehl­tritt be­ge­hen, weil ihre Nach­ba­rin­nen Lieb­schaf­ten ha­ben!«

»Du scheinst die Mö­bel­fra­ge vom Stand­punkt der Mora­lis­ten auf­zu­fas­sen,« be­merk­te Hans la­chend.

Pe­ter sag­te nichts dar­über, und Mut­ter und Sohn ver­tief­ten sich wie­der in Stof­fe, Lehn­stüh­le und Vor­hän­ge.

Er fass­te bei­de ins Auge, wie er heu­te früh vor der Ab­fahrt nach Trou­ville sei­ne Mut­ter an­ge­se­hen hat­te; wie ein Frem­der, der sei­ne Beo­b­ach­tun­gen an­stellt, be­trach­te­te er sie und er fühl­te sich in der Tat in eine ihm gänz­lich un­be­kann­te Fa­mi­lie ver­setzt.

Der Va­ter auch gab ihm zu den­ken und er­reg­te sei­ne Ver­wun­de­rung. Die­ser di­cke, plum­pe, schlaf­fe, un­be­deu­ten­de, selbst­zu­frie­de­ne Mensch, das war sein Va­ter, der sei­ni­ge! Nein, nein, Hans hat­te auch nicht einen Zug von ihm.

Sei­ne Fa­mi­lie! Seit zwei Ta­gen hat­te eine frem­de bös­wil­li­ge, kal­te To­ten­hand alle Ban­de, die die­se vier We­sen an­ein­an­der ge­fes­selt ge­hal­ten, eins nach dem an­de­ren ge­löst und zer­ris­sen.

Es war aus, das Tisch­tuch zer­schnit­ten. Er hat­te kei­ne Mut­ter mehr, denn er konn­te sie nicht mehr lieb ha­ben, seit die un­be­ding­te, gläu­bi­ge Ver­eh­rung, de­ren das Kin­der­herz be­darf, zer­stört war; er hat­te kei­nen Bru­der mehr, denn die­ser war das Kind ei­nes Frem­den. Was ihm blieb, war ein Va­ter, aber er moch­te sich an­stel­len, wie er woll­te, lie­ben konn­te er den plum­pen Mann nicht.

Plötz­lich frag­te er: »Mama, hast du das Bild ge­fun­den?«

»Was für ein Bild?« gab sie, ihn er­staunt an­bli­ckend, zu­rück.

»Mar­schalls Por­trait.«

»Nein … das heißt, ja … ge­fun­den habe ich es nicht, aber ich glau­be mich zu ent­sin­nen, wo ich’s habe.«

»Was denn?« frag­te Va­ter Ro­land.

»Ein Mi­nia­tur­bild von Mar­schall, das frü­her in un­serm Wohn­zim­mer in Pa­ris hing. Ich habe ge­dacht, es wäre nett für Hans, es zu be­sit­zen.«

»Ja na­tür­lich, ver­steht sich!« rief der Va­ter. »Ich er­in­ne­re mich ganz ge­nau dar­an und habe es erst Ende vo­ri­ger Wo­che ge­se­hen. Dei­ne Mut­ter hat­te es mit ver­schie­de­nen Pa­pie­ren, die sie zu ord­nen schi­en, aus ih­rem Schreib­tisch ge­nom­men. Don­ners­tag oder Frei­tag muss es ge­we­sen sein. … Du weißt doch noch, Lui­se? Ich war eben dar­an, mich zu ra­sie­ren, da hast du es aus ei­ner Schub­la­de ge­nom­men und mit ei­nem gan­zen Stoß Brie­fe, die du nach­her zum großen Teil ver­brannt hast, auf einen Stuhl ne­ben dich hin­ge­legt. Hm! Son­der­ba­rer Zu­fall, dass du zwei oder drei Tage, ehe die Erb­schaft kam, das Ding un­ter die Fin­ger krie­gen muss­test! Wenn ich an Vor­be­deu­tun­gen und der­lei Zeug glau­ben woll­te, das wäre so was!«

Frau Ro­land er­wi­der­te mit voll­kom­me­ner Ruhe: »Ja, ja, ich weiß, wo es ist; ich wer­de es auf der Stel­le ho­len.«

Sie hat­te also die Un­wahr­heit ge­sagt! Es war eine Lüge ge­we­sen, als sie ih­rem Sohn am Mor­gen er­wi­dert hat­te: »Ich weiß nicht mehr recht … viel­leicht, dass es in mei­nem Schreib­tisch ist.«

Vor we­nig Ta­gen hat­te sie es in der Hand ge­hal­ten, an einen an­de­ren Ort ge­legt, an­ge­se­hen, und dann wie­der in dem ge­hei­men Schub­fach ver­bor­gen mit den Brie­fen … sei­nen Brie­fen.

Pe­ter sah die Mut­ter an, die ge­lo­gen hat­te. Er sah sie an mit der aufs höchs­te ge­stei­ger­ten Em­pö­rung ei­nes be­tro­ge­nen Soh­nes, dem man sein Hei­ligs­tes ge­stoh­len hat, und mit der Ei­fer­sucht ei­nes Man­nes, der nach lan­ger Blind­heit einen schmach­vol­len Ver­rat ent­deckt. Wenn er der Gat­te die­ser Frau ge­we­sen wäre, er, der ihr Sohn war, er hät­te sie bei der Hand, bei den Schul­tern, an den Haa­ren ge­packt, zu Bo­den ge­wor­fen, ge­schla­gen, mit Fü­ßen ge­tre­ten, zer­malmt, durch­bohrt! Und er konn­te nichts sa­gen, nichts tun, nichts be­wei­sen, nichts ent­hül­len. Er war der Sohn, ihm stand die Ra­che nicht zu, ihn hat­te man nicht hin­ter­gan­gen.

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