Aber kaum ein oder zwei Stunden fand der Körper des Doktors in einem unruhigen, angstvollen Schlummer Betäubung. Als er in dem dunkeln, dumpfigen Zimmer mit den festverschlossenen Fenstern erwachte, empfand er, noch ehe seine Gedanken sich wieder zurecht gefunden, jenen schmerzhaften Druck, jenes seelische Unbehagen und Zerschlagensein, mit dem uns der Kummer aus dem Schlafe weckt. Das Unheil, das uns am Abend zuvor erschüttert, verwundet hat, scheint sich wahrend der Ruhe unsrem Leib mitgeteilt zu haben, den es wie Fieber durchglüht und matt und elend macht. Plötzlich kam ihm alles wieder zum Bewusstsein und er setzte sich hastig im Bette auf.
Langsam wiederholte er sich Wort für Wort alles, was er draußen bei den kreischenden Sirenen gedacht und gefolgert hatte. Je mehr er überlegte, desto mehr wuchs die Gewissheit. Wie eine gewaltige Hand, die uns mit sich fortreißt und uns erwürgt, zog sein logisches Denken ihn zu der unerträglichen Wahrheit.
Er hatte Durst und Hitze; sein Herz klopfte heftig. Er stand auf, um sein Fenster zu öffnen und Atem zu schöpfen; als er durchs Zimmer ging, drang durch die Wand ein leises Geräusch an sein Ohr.
Hans schlief im Nebenzimmer und schnarchte friedlich. Er konnte schlafen, er! Er ahnte nichts, er wollte nichts erraten! Ein Mann, der ihre Mutter gekannt, hinterließ ihm sein Vermögen, und er steckte das Gelb ein und fand die Sache ganz gerecht und natürlich.
Reich und vergnüglich schlief er, ahnungslos, dass sein Bruder vor Jammer und Elend fast zusammenbrach, ahnungslos, dass ihn ein wilder Zorn erfasste gegen den zufriedenen, sorglosen Schnarcher.
Gestern noch hätte er an seine Tür geklopft, wäre eingetreten, hätte sich ans Bett gesetzt und hätte dem verwundert dreinschauenden, schlaftrunkenen Bruder gesagt: »Hans, du darfst dies Vermächtnis nicht annehmen; wenn du’s tätest, würde man morgen unsre Mutter verdächtigen und ihre Ehre antasten.«
Heute konnte er nicht mehr sprechen; er konnte Hans nicht sagen, dass er ihn nicht für den Sohn ihres Vaters hielt. Jetzt galt es, die von ihm entdeckte Schmach für sich behalten, sie in seinem Herzen begraben, der ganzen Welt den Schandfleck verhüllen, keinen, keinen etwas davon ahnen lassen, nicht einmal seinen Bruder, vor allem nicht seinen Bruder.
Die leere Furcht vor dem Gerede der Leute war es nicht mehr, die ihn erfüllte; an die öffentliche Meinung dachte er nicht. Wenn er, er allein die Mutter rein und unschuldig wüsste, so könnte die Welt seinetwegen sie verklagen und beschimpfen! Aber wie sollte er Tag für Tag ihr begegnen, um sie sein, mit ihr leben, und so oft er sie ansah, daran denken, dass sie in den Armen eines Fremden geruht, ein Kind von ihm empfangen?
Wie ruhig und heiter sie trotzdem war, wie sicher in ihrem ganzen Wesen! War es denkbar, dass eine Frau wie sie, eine Frau mit reiner Seele und ehrlichem Sinn, von der Leidenschaft hingerissen, sündigen könnte, ohne dass später ihr Gewissen sich gerührt, das Bewusstsein ihrer Schuld sie gequält hätte?
Ja – das Gewissen! Freilich musste es gesprochen haben, freilich mussten in der ersten Zeit Gewissensbisse sie gemartert haben, dann aber hatten sie sich verwischt, wie alles sich verwischt und verweht! Gewiss, sie hatte ihre Schuld beweint, und nach und nach sie vergessen. Ist denn nicht allen Frauen jene glückliche Gabe des Vergessens in so hohem Maße eigen, dass sie nach wenig Jahren den Mann kaum wiedererkennen, der ihren Mund geküsst, dem sie sich zu eigen gegeben? Der Kuss durchbebt sie wie ein Blitzstrahl, die Leidenschaft zieht vorüber wie ein Gewitter, dann, wie der Himmel wieder heiter und blau wird, kehrt das Leben in sein altes Geleise zurück. Erinnert man sich einer Wetterwolke?
Peter konnte nicht mehr im Zimmer bleiben. Dies Haus, das Haus seines Vaters drohte über ihm zusammenzustürzen! Er fühlte das Dach auf sich lasten; die Mauern wollten ihn ersticken. Ein brennender Durst quälte ihn, und er zündete seine Kerze an, um in der Küche ein Glas frischen Wassers zu holen.
Er ging die zwei Treppen hinunter, und als er mit dem gefüllten Wasserkrug wieder heraufstieg, setzte er sich, im Hemd wie er war, auf eine Treppenstufe, wo ein starker Luftzug über ihn her strich, und trank, ohne Glas, in langen, durstigen Zügen, wie ein außer Atem gekommener Läufer. Als seine Schritte sich nicht mehr vernehmen ließen, empfand er die tiefe Stille des Hauses, in welcher er bald die leisesten Töne unterschied. Erst schlug die Uhr im Speisezimmer, und ihr Ticken schien ihm von Sekunde zu Sekunde lauter und kräftiger zu werden. Dann hörte er abermals ein Schnarchen, aber das kurze, mühsame, harte Schnarchen des Alters, ohne Zweifel das seines Vaters, und er schreckte förmlich zusammen, als ihm urplötzlich, wie von außen in ihn hineingetragen, der Gedanke kam, dass diese beiden Männer, die unter einem Dache schnarchten, Vater und Sohn, einander völlig fremd waren! Kein Band des Blutes, auch nicht das entfernteste, verband sie, und das wussten sie nicht! Sie verkehrten herzlich miteinander, sie küssten sich, sie freuten sich und betrübten sich über die nämlichen Dinge, wie wenn das nämliche Blut in beider Adern flösse, und doch konnten zwei an den entgegengesetzten Polen geborene Menschen einander nicht fremder sein, als dieser Vater und dieser Sohn. Sie glaubten sich zu lieben, weil eine festwurzelnde Lüge sie verband. Eine Lüge war es, die diese Vater- und Sohnesliebe hervorrief, eine Lüge, die aufzudecken ein Ding der Unmöglichkeit war, und von der vielleicht nie ein Mensch Kenntnis erhalten würde, niemand als er, der echte Sohn.
Und dennoch, wenn er sich täuschte? Wie es ergründen? Ach! Wenn eine auch noch so unbedeutende Ähnlichkeit bestanden hätte zwischen Hans und seinem Vater, eine jener merkwürdigen, geheimnisvollen Ähnlichkeiten, die sich vom Urahnen zum Ururenkel fortpflanzen, der Welt zeigend, dass ganze Geschlechterreihen von einem Kusse herstammen! Für ihn als Arzt hätte es ja nur einer unbedeutenden Kleinigkeit bedurft, die Biegung der Nase, die Form des Kiefers, die Stellung der Augen, die Art der Zähne oder der Haare, ja, weniger noch hätte genügt, um sein geübtes Auge diese Zusammengehörigkeit erkennen zu lassen, eine Bewegung, eine Gewohnheit, eine Art und Weise, sich zu geben, eine auf den Sohn übertragene Geschmacksrichtung, irgend ein charakteristischer Zug.
Er suchte und suchte und konnte nicht das Geringste entdecken. Aber vielleicht hatte er bisher, solange er keinen Grund gehabt, nach solchen Fingerzeigen der Natur zu forschen, schlecht beobachtet, schlecht erfasst.
Langsam ging er nun die Treppe vollends hinauf, mit müdem Schritt, immer nachsinnend. Als er an der Tür von seines Bruders Schlafzimmer vorüberkam, blieb er auf einmal stehen, die Hand nach der Klinke ausgestreckt. Ein heftiges Verlangen, Hans sofort anzusehen, seine Züge zu studieren, ihn im Schlaf zu belauschen, wo alles Ruhe ist, wo das Gesicht friedlich, absichtslos, ohne die Grimasse des Lebens sich zeigt, erfasste ihn mit Macht. Er wollte ihm das Geheimnis seiner Züge im Schlaf entreißen; wenn irgend eine beachtenswerte Ähnlichkeit vorhanden, so konnte sie ihm nicht entgehen.
Aber was sagen, falls Hans erwachte? Wie ihm diesen Besuch erklären?
Die Finger fest um die Türklinke gelegt, blieb er stehen, sich auf einen Vorwand, einen Grund für seinen Besuch besinnend.
Da fiel ihm ein, dass er vor acht Tagen seinem Bruder ein kleines Fläschchen mit Opium gegen Zahnschmerzen geliehen hatte. Er konnte ja sagen, dass er heute Nacht ebenfalls an diesem Übel leide und seine Medizin zurückverlangen wolle. Er trat also ein, vorsichtig, schleichend, wie ein Dieb.
Mit halbgeöffnetem Mund lag Hans da und schlief seinen gesunden, tiefen Kinderschlaf. Der blonde Bart und das dichte, goldfarbige Haar hoben sich leuchtend von dem weißen Linnen. Er erwachte nicht, aber er hörte auf zu schnarchen.
Über ihn gebeugt, starrte Peter gespannt, gierig in sein Gesicht. Nein, dieser junge Mann hatte keine Ähnlichkeit mit Roland, und abermals stieg die Erinnerung an das verschwundene Miniaturbild in ihm auf. Er musste es finden! Vielleicht konnte ein Blick darauf alle Zweifel lösen.
Ob er die auf ihn gehefteten Augen lästig empfand, oder ob er das Licht der Kerze durch die geschlossenen Lider fühlte, der Bruder warf sich unruhig hin und her. Sofort zog sich der Doktor zurück und schlich leise auf den Zehen nach der Tür, die er geräuschlos hinter sich zuzog; dann kehrte er in sein Zimmer zurück, legte sich aber nicht wieder zu Bett.
Langsam kam der Tag heran. Eine nach der anderen gab die Standuhr im Speisezimmer, deren Klang tief und ernst war, als ob das kleine Räderwerk eine Kirchenglocke verschluckt hätte, die Stunden an. Durch das öde, schweigende Treppenhaus, durch Wände und Türen drang ihre Stimme, um allmählich in den Zimmern zu verhallen, wo sie bei den Schlafenden nur taube Ohren fand, Peter ging wie ein Perpendikel zwischen Fenster und Tür seiner kleinen Stube auf und ab. Was sollte er tun? Um diesen Tag im Kreis der Seinen zu verleben, fühlte er sich zu verstört, zu erschüttert. Bis morgen wenigstens musste er allein sein, sich fassen, ruhiger werden, Kräfte sammeln für das Alltagsleben, dem er sich nicht entziehen konnte, das er wieder aufnehmen musste.
Wohl und gut! Er konnte ja nach Trouville fahren und den Menschenschwarm auf der Düne umherkrabbeln sehen. Das war eine Zerstreuung, musste seinen Gedanken eine andere Richtung geben, und er gewann dabei Zeit, um sich auf all das Entsetzliche, das seiner harrte, vorzubereiten.
Sobald der Morgen dämmerte, kleidete er sich an. Der Nebel hatte sich zerstreut; das Wetter war schön, sehr schön. Da der Dampfer nach Trouville nicht vor neun Uhr abfuhr, so überlegte der Doktor, dass er vor der Abfahrt seiner Mutter adieu sagen, sie küssen müsse.
Er wartete die Zeit ab, zu der sie in der Regel aufstand, und ging dann die Treppe hinunter. Als er vor ihrer Schlafzimmertür stand, pochte sein Herz zum Zerspringen, und er musste stehen bleiben, um Atem zu holen.
Die Hand, die er auf das Türschloss gelegt, war so unsicher und kraftlos, dass es schien, als ob sie nicht imstande wäre, diesen kleinen Dienst des Öffnens zu verrichten. Er klopfte an. Die Stimme der Mutter fragte: »Wer ist’s?«
»Ich, Peter!«
»Was willst du?«
»Dir guten Morgen sagen, weil ich mit ein paar Freunden nach Trouville hinüberfahre und den Tag dort zubringe.«
»Ja – ich bin noch im Bett!«
»Gut, gut, lass dich nicht stören. Ich sehe dich heute Abend noch, wenn ich heim komme.«
Er hoffte loszukommen, ohne sie gesehen, ohne den erlogenen Kuss auf ihre Wange gedrückt zu haben, der ihm das Herz schon im Voraus schwer machte.
Allein sie rief: »Nur einen Augenblick! Ich mache dir auf. Du musst warten, bis ich wieder im Bett bin.«
Er hörte den Tritt ihrer bloßen Füße auf dem Fußboden, dann das leise Geräusch des Riegels.
»Herein!« rief sie.
Er trat ein. Sie saß aufrecht im Bett, während der Vater, den in ein seidenes Tuch gehüllten Kopf nach der Wand gekehrt, beharrlich weiter schlief. Ihn weckte nichts. Um ihn wach zu kriegen, musste man ihm mindestens den Arm ausreißen. An den Tagen des Fischfangs fiel dem vom Matrosen Papagris wach geklingelten Dienstmädchen die schwere Aufgabe zu, ihn aus dieser bleiernen Ruhe aufzurütteln.
Auf sie zugehend, fasste Peter seine Mutter fest ins Auge, und ihm war plötzlich, als ob er sie nie zuvor gesehen hätte.
Sie bot ihm die Wange; er küsste sie zweimal und setzte sich dann auf einen niedern Stuhl.
»Hast du dich gestern Abend zu diesem Ausflug entschlossen?« fragte sie.
»Ja, gestern Abend.« »Du kommst doch zu Tisch zurück?«
»Ich weiß es nicht. Ihr dürft keinesfalls auf mich warten.«
Neugierig und verwundert forschte er in ihren Zügen. Diese Frau war seine Mutter! Dieses Gesicht, das er von Kindheit auf, von der Stunde an, da sein Auge sehen gelernt, gekannt, dies Lächeln, diese Stimme, alles Altvertraute erschien ihm plötzlich neu und völlig anders, als er es bis jetzt gesehen. Er begriff mit einmal, dass er, fraglos liebend, sie nie angesehen hatte. Und doch war sie es, doch kannte er jede kleinste Einzelheit in ihren Zügen, allein zum Bewusstsein kamen ihm diese Einzelheiten heute zum ersten Mal. Die angstvolle Spannung und Aufmerksamkeit, mit der sein Blick dies geliebte Haupt umfing, zeigte sie ihm anders als sonst, mit Zügen und einem Ausdruck, wie er sie nie wahrgenommen.
Er stand auf, um sich zu verabschieden, da, plötzlich dem unüberwindlichen Verlangen nach Aufklärung über das, was ihm seit gestern das Herz zerfraß, nachgebend, bemerkte er: »Sag einmal, ich meine mich zu erinnern, dass früher in Paris ein Bild dieses Herrn Marschall bei uns im Salon hing.«
Sie zögerte einen Augenblick – oder er bildete sich wenigstens ein, dass sie zögere. Dann sagte sie: »Ja, allerdings.«
»Was ist denn aus dem Bilde geworden?«
Wieder hätte ihre Antwort rascher erfolgen können.
»Dies Bild … ja, warte einmal … ich weiß wahrhaftig nicht recht … vielleicht habe ich es in meinem Schreibtisch.«
»Es wäre sehr nett von dir, wenn du danach suchen wolltest.«
»Jawohl, natürlich. Weshalb willst du es haben?«
»Ach! Mir liegt nichts daran! Ich meinte nur, es wäre passend, es Hans zu geben, und müsste ihm Freude machen.«
»Gewiss, du hast recht; das ist ein lieber, guter Gedanke. Ich werde danach sehen, sobald ich aufgestanden bin.«
Und er ging.
Der Himmel strahlte in wolkenloser Bläue; kein Lüftchen rührte sich. Alles schien fröhlich zu sein; die Geschäftsleute eilten zur Arbeit; die Beamten in ihre Kanzleien; die jungen Arbeiterinnen in ihre Läden. Einzelne summten Melodien vor sich hin; der helle Sonnenschein stimmte jeden Menschen heiter.
Die Passagiere strömten schon nach dem Dampfer für Trouville. Peter setzte sich ganz hinten auf eine Bank.
»Hat meine Frage nach dem Bilde sie beunruhigt, oder nur überrascht?« fragte er sich. »Hat sie es verräumt, oder versteckt? Weiß sie, wo es ist, oder weiß sie es nicht? Und wenn sie es versteckt hat, weshalb und wozu hat sie es getan?«
Und immer dem nämlichen Gedankengang nachhängend, von Folgerung zu Folgerung gehend, gelangte er zu dem Ende:
Das Bild, ein Portrait des Freundes, des Geliebten, war frei für aller Augen im Salon geblieben, bis zu dem Tage, da die Frau, die Mutter, lange, ehe ein anderer etwas geahnt, bemerkt hatte, dass ihr Sohn diesem Bilde glich. Lange vielleicht schon hatte sie nach dieser Ähnlichkeit geforscht; nachdem sie eine solche entdeckt, entstehen, wachsen gesehen, musste sie fürchten, dass dieselbe auch einem fremden Blick auffallen könnte, und sie hatte eines Abends das verräterische Bildchen weggenommen und verborgen, da sie nicht den Mut gehabt, es zu vernichten.
Und Peter entsann sich ganz deutlich, dass die Miniature lange, lange Zeit vor ihrem Wegzug von Paris verschwunden gewesen. Sie war entfernt worden, sagte er sich jetzt, als der sich entwickelnde Bart seines Bruders demselben plötzlich eine große Ähnlichkeit mit dem blonden jungen Mann, der aus dem Goldrahmen hervorlächelte, verliehen hatte.
Das Schiff fuhr ab und die Bewegung störte Peter aus seinem Hinbrüten auf und zerstreute ihn ein wenig. Er erhob sich und blickte um sich.
Der kleine Dampfer fuhr zum Hafen hinaus, wandte dann nach links und steuerte pustend und schnaubend der fernen Küste zu, die man durch den morgendlichen Duft schimmern sah. Da und dort ragte das rote Segel einer unbeweglich auf der spiegelglatten See liegenden, schwerfälligen Fischerbarke wie ein Felsblock aus dem Wasser, und die Seine, die sich gemächlich von Rouen herunterwälzt, erschien wie ein breiter Meeresarm, der zwei Nachbarküsten trennt.
In weniger als einer Stunde hatte man Trouville erreicht, und da es eben Badezeit war, begab sich Peter sofort an den Strand, der von weitem wie ein langgestreckter Garten voll bunter, leuchtender Blumen aussah.
Vom Hafeneingange bis zu den Roches-Noires wimmelte es auf dem gelben Dünensande von buntfarbigen Sonnenschirmen, Hüten in allen möglichen und unmöglichen Formen, Toiletten aller Art, die, teils in Gruppen vor den Kabinen stehend, reihenweise dem Meere entlang wandelnd, oder da und dort zerstreut, in der Tat riesigen Blumenbüscheln auf einer unermesslichen Wiese glichen. Und die frischen Menschenstimmen, deren Klang weit durch die reine Luft drang, das Kreischen der Kinder, die gebadet wurden, das glockenhelle Lachen der jungen Damen, das Rufen und Reden, alles gesellte sich dem gleichmäßigen Brausen der Brandung und ward vom Morgenwinde als ein ununterbrochenes, einförmiges, verschwommenes Geräusch dem Ankömmling entgegengetragen.
Peter durchschritt die fröhliche Menge und war dabei einsamer, verlorener, isolierter, den Menschen ferner gerückt, dem Versinken in seine qualvolle Gedankenwelt näher, als wenn man ihn draußen hundert Meilen weit von der Küste vom Deck eines Schiffes ins Wasser geschleudert hätte. Er streifte an ihnen vorüber, er hörte einzelne Reden, ohne sie zu verstehen, er sah, ohne zu gewahren, wie die Männer mit den Frauen sprachen, die Frauen den Männern zulächelten.
Mit einem Schlage aber, wie ein plötzliches Erwachen, kam’s, dass er seiner Umgebung inne ward und ihn zugleich ein leidenschaftlicher Hass gegen diese Leute ergriff, die alle froh und glücklich zu sein schienen.
Von einem neuen Gedanken beseelt, drängte er sich jetzt durch die Gruppen, blieb stehen, blickte einzelnen nach. All diese vielfarbigen Toiletten, die den einförmig gelben Sand mit Blumenpracht bedeckten, diese hübschen Stoffe, die durchsichtigen Spitzenschirme, die erkünstelte Schlankheit der eng gefesselten Taillen, die tausend kleinen und großen Modetorheiten, von dem niedlichen Schuhwerk bis zu der abenteuerlichen Hutform, die verführerische Anmut der Bewegungen, der Stimme, des Lachens, die ganze Summe der Koketterie, die sich auf dieser öden Düne zur Schau stellte, berührte ihn plötzlich als ein Ausdruck weiblicher Verderbtheit. All diese sorgfältig geschmückten Frauen wollten gefallen, verlocken, verführen. Für die Männer entfalteten sie all ihre Reize, für alle Männer, nur nicht für den Gatten, denn diesen brauchte man ja nicht mehr zu erobern. Für den Liebhaber von heute oder den von morgen, für den zufällig Begegnenden, schon bemerkten, vielleicht erwarteten Unbekannten hatten sie sich geschmückt. Und diese Männer, die, dicht neben ihnen sitzend, Aug’ in Auge, Mund an Mund zu ihnen sprachen, sie an sich lockten und begehrten, stellten ihnen, trotzdem sie so nahbar und erreichbar dreinschauten, nach wie einem flüchtigen, schwer zu erhaschenden Wild.
Dieser weite Strand war also nichts andres als ein Tempel der Lust, wo die einen sich verkauften, die anderen sich verschenkten, die einen um ihre Küsse feilschen ließen, die anderen sie frei gewährten, und all diese Frauen hatten nur den einen Gedanken, etwas zu bieten und begehrt zu sehen, was nicht mehr ihr Eigen war, was längst anderen gehörte. Und dabei sagte er sich, dass es überall auf der Welt dasselbe Lied sei.
Seine Mutter hatte es gemacht wie die anderen, das war alles! Wie die anderen – nein! Es gab Ausnahmen und zwar viele, sehr viele! Was er hier vor sich sah, waren reiche, launenhafte, abenteuerlustige Damen: sie gehörten alle miteinander der vornehmen galanten Welt oder auch der nicht vornehmen galanten an, die ehrbaren Bürgersfrauen, die saßen wohl verwahrt in ihren Häusern, ihnen begegnete man nicht auf dem Sand, den die kleinen Füßchen der Müßiggängerinnen festtrippelten.
Die Flut kam und trieb die vorderste Linie der Badenden landeinwärts. Mehrere Gruppen erhoben sich hastig und flohen, ihre Stühle mit sich nehmend, vor den gelblichen, mit weißem Schaum, wie mit Spitzen verbrämten Wogen. Die mit einem Pferd bespannten Badekarren sputeten sich ebenfalls, aufs Trockene zu kommen, und auf dem bretterbelegten Spazierweg, der sich von einem Ende der Küste zum anderen hinzieht, entstanden jetzt zwei einander fortwährend begegnende, zusammenstoßende, sich gegenseitig hemmende Menschenströme, die sich langsam vorwärts schoben. Peter, dem dies Drängen und Schieben und Stoßen auf die Nerven ging, machte, dass er aus dem Getriebe kam, eilte dem Städtchen zu und trat in ein einfaches Weinhaus ein, um zu frühstücken.
Nachdem er Kaffee getrunken, machte er sich’s vor der Tür mit Hilfe von zwei Stühlen behaglich, und da er in der Nacht so gut wie gar nicht geschlafen hatte, schlummerte er jetzt im Lindenschatten ein.
Nach ein paar Stunden der Ruhe schüttelte er sich, reckte die Glieder und entdeckte, dass es höchste Zeit sei, wenn er das Schiff erreichen wollte. Etwas steif von der nicht eben bequemen Lage, in der er so lange verharrt war, machte er sich auf den Weg. Jetzt wollte er nach Hause, er wollte wissen, ob seine Mutter Marschalls Bild gefunden habe. Ob sie wohl davon anfangen würde, oder ob er danach würde fragen müssen? Wenn sie eine zweite Frage abwartete, so hatte sie einen geheimen Grund, ihm das Bild nicht zu zeigen.
Sobald er aber in sein Zimmer zurückgekehrt war, konnte er sich nicht entschließen, die Treppe wieder hinunterzugehen zu den Seinigen. Er litt namenlos. Sein Herz hatte noch nicht Zeit gefunden, sich zu beruhigen. Schließlich raffte er sich auf und betrat das Speisezimmer in dem Augenblick, als die anderen sich zu Tisch setzten.
Auf allen Gesichtern lag eine Feiertagsstimmung.
»Nun,« sagte Herr Roland, »geht’s vorwärts mit euren Einkäufen? Ich für meinen Teil will kein Stückchen sehen, eh’ alles fix und fertig ist.«
»O ja, wir sind schon ziemlich weit,« erwiderte seine Frau. »Nur muss man sich alles zweimal überlegen, damit man nichts Unpraktisches macht. Die Frage des Mobiliars kostet uns viel Nachdenken.«
Sie hatte samt ihrem Sohne den ganzen Tag in Möbelhandlungen und bei Tapezierern verbracht. Ihr gefielen die glänzenden, ein wenig lauter ins Auge fallenden Stoffe, Hans dagegen war für vornehme Einfachheit, und bei jedem einzelnen Musterfleck hatten beide ihre Gründe und Anschauungen immer wieder weitläufig erörtert. Die Mutter machte geltend, dass dem prozesslustigen Klienten gleich beim Eintreten in das Wartezimmer imponiert werden müsse, dass er den Eindruck von Reichtum empfangen solle.
Im Gegensatz dazu wünschte Hans, dem es durchaus um eine gebildete, reiche, elegante Klientel zu tun war, eine solche durch eine Umgebung in gutem, feinem Geschmack für sich einzunehmen.
Von der Suppe an erneute sich dieser endlose Streit, der mit all seinen Für und Wider den ganzen Tag gedauert hatte.
Vater Roland hatte keinerlei selbstständige Ansicht. Er wiederholte nur: »Ich will von gar nichts hören. Ich sehe mir die Geschichte erst an, wenn sie fertig ist.«
Nun wandte sich Frau Roland an ihren Ältesten.
»Lass einmal hören, wie du darüber denkst, Peter!« bat sie.
Seine Nerven waren so überreizt, dass er am liebsten mit einem Fluch geantwortet hätte. Er nahm sich indes zusammen und sagte im trockensten Ton, in dem aber doch ein guter Teil Erregung vibrierte: »O! Ich bin ganz der Ansicht meines Bruders. Je einfacher, desto besser; Einfachheit ist auf dem Gebiete des Geschmackes, was Rechtschaffenheit im Charakter ist.«
»Man darf aber nicht außer acht lassen,« entgegnete die Mutter, »dass wir in einer Handelsstadt leben und dass Geschäftsleute den feineren Geschmack in der Regel nicht mit Löffeln gegessen haben.«
»Und was hat das zu sagen? Ist es ein Grund, selbst ein Dummkopf zu sein, weil andere es sind? Wenn meine Zeitgenossen verrückt oder unredlich sind, muss ich deshalb ihrem Beispiel folgen? Eine Frau wird doch wahrhaftig nicht darum einen Fehltritt begehen, weil ihre Nachbarinnen Liebschaften haben!«
»Du scheinst die Möbelfrage vom Standpunkt der Moralisten aufzufassen,« bemerkte Hans lachend.
Peter sagte nichts darüber, und Mutter und Sohn vertieften sich wieder in Stoffe, Lehnstühle und Vorhänge.
Er fasste beide ins Auge, wie er heute früh vor der Abfahrt nach Trouville seine Mutter angesehen hatte; wie ein Fremder, der seine Beobachtungen anstellt, betrachtete er sie und er fühlte sich in der Tat in eine ihm gänzlich unbekannte Familie versetzt.
Der Vater auch gab ihm zu denken und erregte seine Verwunderung. Dieser dicke, plumpe, schlaffe, unbedeutende, selbstzufriedene Mensch, das war sein Vater, der seinige! Nein, nein, Hans hatte auch nicht einen Zug von ihm.
Seine Familie! Seit zwei Tagen hatte eine fremde böswillige, kalte Totenhand alle Bande, die diese vier Wesen aneinander gefesselt gehalten, eins nach dem anderen gelöst und zerrissen.
Es war aus, das Tischtuch zerschnitten. Er hatte keine Mutter mehr, denn er konnte sie nicht mehr lieb haben, seit die unbedingte, gläubige Verehrung, deren das Kinderherz bedarf, zerstört war; er hatte keinen Bruder mehr, denn dieser war das Kind eines Fremden. Was ihm blieb, war ein Vater, aber er mochte sich anstellen, wie er wollte, lieben konnte er den plumpen Mann nicht.
Plötzlich fragte er: »Mama, hast du das Bild gefunden?«
»Was für ein Bild?« gab sie, ihn erstaunt anblickend, zurück.
»Marschalls Portrait.«
»Nein … das heißt, ja … gefunden habe ich es nicht, aber ich glaube mich zu entsinnen, wo ich’s habe.«
»Was denn?« fragte Vater Roland.
»Ein Miniaturbild von Marschall, das früher in unserm Wohnzimmer in Paris hing. Ich habe gedacht, es wäre nett für Hans, es zu besitzen.«
»Ja natürlich, versteht sich!« rief der Vater. »Ich erinnere mich ganz genau daran und habe es erst Ende voriger Woche gesehen. Deine Mutter hatte es mit verschiedenen Papieren, die sie zu ordnen schien, aus ihrem Schreibtisch genommen. Donnerstag oder Freitag muss es gewesen sein. … Du weißt doch noch, Luise? Ich war eben daran, mich zu rasieren, da hast du es aus einer Schublade genommen und mit einem ganzen Stoß Briefe, die du nachher zum großen Teil verbrannt hast, auf einen Stuhl neben dich hingelegt. Hm! Sonderbarer Zufall, dass du zwei oder drei Tage, ehe die Erbschaft kam, das Ding unter die Finger kriegen musstest! Wenn ich an Vorbedeutungen und derlei Zeug glauben wollte, das wäre so was!«
Frau Roland erwiderte mit vollkommener Ruhe: »Ja, ja, ich weiß, wo es ist; ich werde es auf der Stelle holen.«
Sie hatte also die Unwahrheit gesagt! Es war eine Lüge gewesen, als sie ihrem Sohn am Morgen erwidert hatte: »Ich weiß nicht mehr recht … vielleicht, dass es in meinem Schreibtisch ist.«
Vor wenig Tagen hatte sie es in der Hand gehalten, an einen anderen Ort gelegt, angesehen, und dann wieder in dem geheimen Schubfach verborgen mit den Briefen … seinen Briefen.
Peter sah die Mutter an, die gelogen hatte. Er sah sie an mit der aufs höchste gesteigerten Empörung eines betrogenen Sohnes, dem man sein Heiligstes gestohlen hat, und mit der Eifersucht eines Mannes, der nach langer Blindheit einen schmachvollen Verrat entdeckt. Wenn er der Gatte dieser Frau gewesen wäre, er, der ihr Sohn war, er hätte sie bei der Hand, bei den Schultern, an den Haaren gepackt, zu Boden geworfen, geschlagen, mit Füßen getreten, zermalmt, durchbohrt! Und er konnte nichts sagen, nichts tun, nichts beweisen, nichts enthüllen. Er war der Sohn, ihm stand die Rache nicht zu, ihn hatte man nicht hintergangen.
399 AZN qarşılığında bu va daha 2 kitab