An diesem Abend, es ist Sonnabend, sagt beim Essen der Student plötzlich: »Ich geh noch ein bisschen spazieren. Wenn einer von den Herren Lust hat …?«
So weit sind sie doch schon, dass sie erst einmal unschlüssig zu Seidenzopf hinsehen, der aber sehr friedlich sagt: »Aber gewiss doch. So ein schöner, lieblicher Abend …«
Und Frau Seidenzopf: »Aber Punkt zehn wird das Haus geschlossen und nicht wieder aufgemacht.«
»Dann wollen wir also die Uhren vergleichen«, sagt Petersen.
»Es ist sieben Uhr zwanzig …«
Und Beerboom: »Ich gehe nur mit, wenn Herr Seidenzopf mir Geld gibt. Ohne Geld gehe ich nicht auf die Straße, da kommt man ja an keinem Hund vorbei.«
»Ich rechne also mit den Herren noch rasch ab, Herr Petersen.«
Aber es geht dann nicht so rasch. Kufalt steht am Gangfenster und sieht in den langsam dämmerig werdenden Garten, während drüben im Büro die Stimmen gegeneinander anschwellen und wieder leise werden. Die Büsche verschwimmen sachte gegen die dunklen Gartenmauern, die äußersten Spitzen der Baumkronen reichen noch in die Sonne, Beerboom drinnen jammert flehend, Seidenzopfs Bass grollt – und schließlich geht die Tür auf, und Seidenzopf schreit: »Gehen Sie raus, Sie Mensch, Sie! Ein Ärgernis sind Sie! Keinen Pfennig mehr gebe ich. – Kommen Sie rein, mein lieber Kufalt.«
Kufalt kommt rein.
»Na, Sie haben ja erst drei Arbeitstage. Für den Donnerstag Maschinereinigen – na, sagen wir, fünfzig Pfennig …«
»Eine Mark ist ausgemacht.«
Langer Blick. »Meinethalben eine Mark. Freitag und Sonnabend je siebenhundert Adressen – sehr wenig, Herr Kufalt, und recht liederlich geschrieben –, fürs Tausend sechs Mark, macht acht vierzig, alles in allem Arbeitsverdienst neun Mark vierzig. Sie haben zu zahlen fünf Tage Kost und Logis je zwei Mark fünfzig, macht zwölf Mark fünfzig, bleiben Sie uns schuldig drei Mark zehn, die von Ihrem Depot gekürzt werden. Alles klar?«
»Ach nee«, sagt Kufalt und holt tief Atem, »das ging ja furchtbar einfach. Wieso erst mal fünf Tage Kost?«
»Der Ankunftstag rechnet voll.«
»Ich habe nur das Abendessen gehabt.«
»Das macht nichts, das sind unsere Bestimmungen so, die haben Sie unterschrieben.«
»Und der fünfte Tag?«
»Ist morgen der Sonntag.«
»Den bezahle ich im Voraus? Auch nach Ihren Bestimmungen?«
»Dann geht er bei der nächsten Abrechnung nicht ab. Das ist doch nur Ihr Vorteil.«
»Ich verdiene hier also nicht so viel, wie ich ausgebe?«
»Das kommt noch, mein junger Freund, das kommt alles noch.«
»Viel mehr kann ich nicht schaffen auf der Maschine.«
»O doch, das kann man schon. Machen Sie das nur erst ein halbes Jahr.«
»Ich brauche auch noch Geld für die nächste Woche.«
Seidenzopfs Stirn verdunkelt sich. »Ich habe Ihnen am Mittwoch erst drei Mark gegeben. Wie viel wollen Sie schon wieder?«
»Zehn Mark.«
»Das ist ganz ausgeschlossen. Das gestattet Pastor Marcetus nie. Zehn Mark Taschengeld in der Woche! Da erzögen wir Sie ja zum Verschwender!«
Kufalt sagt finster: »Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Seidenzopf. Das ist mein Geld, um das ich Sie bitte. Das ekelt mich hier. Sie haben mir gesagt, am Mittwoch, ich kann jederzeit Geld haben. Sie lügen doch nicht, Herr Seidenzopf?«
»Wozu brauchen Sie denn das Geld? Sagen Sie mir einen vernünftigen Zweck!«
»Erst mal brauche ich Porto.«
»Porto? Wozu denn Porto? Ihre Verwandten wollen doch nichts mehr von Ihnen wissen – wem wollen Sie denn schreiben?«
»Stellenbewerbungen.«
»Das ist nur rausgeworfenes Geld, das lassen Sie lieber. Wer nimmt Sie denn? Da warten Sie, bis wir Sie kennen und empfehlen können. – Wozu brauchen Sie noch Geld?«
»Ich muss meine Wäsche waschen lassen.«
»Für zehn Mark? Was müssen Sie denn waschen lassen? Ein Hemd und einen Kragen! Die Unterwäsche können Sie ruhig vierzehn Tage tragen, ich wechsle meine auch nicht öfter. Macht achtzig Pfennig. Wozu brauchen Sie noch Geld?«
Die Stimmen schwellen an und sinken dann wieder. Nach einer Viertelstunde ist Kufalt besiegt, trotzdem er zweimal gebrüllt und auf den Tisch geschlagen hat. Er verlässt mit fünf Mark Auszahlung das Büro.
»Auf diese Weise werden Sie mit Ihrer Rücklage ja schnell alle werden, mein lieber Kufalt«, schilt Seidenzopf hinter ihm her.
Aber dann hängt in den Straßen eine fast leuchtende Dämmerung.
Am tiefen Nachthimmel glüht die Schnur der Bogenlampen sanft und hell. Viele Menschen sind unterwegs. Sie schlendern. Man hört sie sprechen, leise oder lauter, dann lacht einmal ein Mädchen.
Nebenher die beiden reden eifrig, Petersen und Beerboom. Beerboom ist voll Gift und Galle, neun Mark dreißig hat er draufzahlen müssen. Petersen versucht ihn zu besänftigen.
Kufalt bummelt langsam daneben her. In den Lauben vor den Cafés sitzen die Leute, trinken und essen. Man hört Musik. Löffelchen klappern gegen Teller. Die beiden anderen überlegen, ob man sich in ein Café setzen soll. Aber es wird zu teuer. Besser, man geht in den Hammer Park, wo gratis Musik zu hören ist.
Beerboom beweist jetzt dem Petersen, dass sein Leben völlig verpfuscht ist, dass es ebenso gut wäre, gleich heute Schluss zu machen, Petersen beweist dem Beerboom das Gegenteil.
Nun taucht es dunkel und massig vor ihnen auf, die Luft wird kühler und feuchter, Bäume, viele hohe Bäume, der Hammer Park.
Erst gehen sie einmal rundum durch die schwachbeleuchteten Wege voller Pärchen. Dann landen sie in der Mitte bei einem strahlend beleuchteten Kaffeehaus. Dort musiziert in einem muschelförmigen Pavillon eine Kapelle, Tische sind aufgestellt, und viele Menschen sitzen daran. Die nichts verzehren, sind abgesperrt durch Seile.
Auch die drei bleiben eine Weile unter dem Volk stehen und lauschen. Das Hören hat man nicht absperren können, so gerne man es wohl getan hätte. Es geht fröhlich zu bei den Zaungästen, ganze Büschel junger Mädchen hängen dort herum. Jungens jagen sich mit Mädeln, viele lachen. Kufalt wird von einer Kette junger Leute beinahe umgelaufen. Er drängt in die dunklen Wege zurück, die anderen wollen im Licht bleiben. So zeigt er auf einen Weg. »Da sitze ich irgendwo. Holen Sie mich dann.«
Er findet im Dunkeln eine Bank, auf der nur ein Paar sitzt.
Hockt sich auf eine Ecke, dreht sich eine Zigarette, lehnt sich bequem zurück und sieht vor sich hin.
Manchmal bewegt der Nachtwind ein wenig die Zweige, das rauscht ferne an, kommt näher mit tausend einzelnen Geräuschen und verliert sich wieder fern mit einem allgemeinen Rauschen.
Der Mann und die Frau auf der Bank reden miteinander. Kufalt hört halb hin. Es wird von einem Garten geredet, von einer alten Mutter, die immer schwieriger wird … Verliebte sind es nicht, denkt Kufalt. Er hätte gerne ein Mädchen, mit dem er sitzen und schwatzen könnte. Über was aber könnte er mit ihr schwatzen …?
Es gehen viele Menschen vorüber, manche halten sich an den Händen. Nein, nicht einmal im Gefängnis hat Willi Kufalt das Gefühl gehabt, wie sehr er sich außerhalb von all dem gestellt hat. Er ist draußen aus all diesem Leben – kommt er je wieder hinein? Von all dem, was ihm in den letzten fünf Jahren geschehen ist, wird er nie reden dürfen.
Das Mädchen ist aufgestanden und macht ein paar Schritte auf und ab. »Es ist doch kühl. Mir wird fröstelig«, sagt sie. Der Mann antwortet nicht. Sie spricht das spitze »S« der Hamburger, nun kommt sie in den Lichtschein der Laterne – eine zierliche, rasche Figur, ein Herzgesicht, blondes Haar. Wieder im Schatten.
»Gehen wir«, sagt das Mädchen.
Der Mann steht auf.
Petersen und Beerboom kommen. »Gehen wir dort entlang«, sagt Kufalt und folgt dem Paar. »War die Musik noch nett?«
Die beiden erzählen, Kufalt behält sein Paar im Auge. »Nein, wir wollen hier entlanggehen. Sie haben ja keine Ahnung, was ich für einen Ortssinn habe. Ich führe Sie glatt nach Haus.«
»Aber wir gehen in der falschen Richtung!«
»Gar nicht. Wir gehen nachher rum. Wetten, dass ich Sie richtig führe?«
»Um was?«
»Zehn Zigaretten.«
»Abgemacht. Hauen Sie durch, Beerboom!«
Es ist nicht ganz leicht, ohne Auffallen dem Paar zu folgen. Kufalt hält sich auf der anderen Straßenseite und macht manchmal Bemerkungen, die seinen suchenden Ortssinn beweisen sollen: »Nein, nun gehen wir besser hier um die Ecke. – Jetzt wieder geradeaus – nein, doch besser links.«
»Ihr Ortssinn, Kufalt«, sagt Beerboom.
Hinter einer Bahnunterführung biegt das Paar überraschend nach links ab, und im Augenblick, da Kufalt seine beiden Begleiter mit Mühe und Not in diese unerwartete Kurve gebracht hat, ist es in irgendeinem Hauseingang verschwunden.
Kufalt bleibt aufatmend stehen. »Nun bin ich doch ganz wirr geworden. Wo sind wir eigentlich? Wie heißt denn die Straße?«
»Sie sind gut«, sagt der Student Petersen. »Jetzt, wo Sie endlich die rechte Richtung gefasst haben … Das ist die Marienthaler Straße, in einer Viertelstunde sind wir im Heim.«
Und nach einem Blick auf die Uhr: »O Gott, wir haben nur noch neun Minuten. Nun aber Trab, so schnell es geht!«
»So gefährlich wird es doch nicht sein«, sagt Kufalt im Laufen. »Fünf Minuten werden die schon auf uns warten.«
»Der wirft jeden raus, der nur drei Minuten zu spät kommt. Lässt ihn gar nicht erst ins Haus, die Tür bleibt zu, und am nächsten Morgen Sachen packen, weg!«
»Wir sollen eben durchaus nicht an die Mädchen«, keucht Beerboom. »O Gott, ich kann nicht mehr, lasst uns einen Augenblick Schritt gehen.«
»Öder Quatsch«, schilt Kufalt. »Wenn Sie dabei sind, gilt es doch nicht, Herr Petersen.«
»Ich ändere auch nichts«, keucht Petersen. »Ich bin nach außen gut, als Aushängeschild. Los, Beerboom, wieder traben! Nur noch vier Minuten!«
In der Haustür entspinnt sich eine heftige Debatte mit Minna, ob es eine Minute nach oder Punkt zehn ist. Jedenfalls wird sie es Herrn Seidenzopf melden.
Am Vormittag – es ist nun Sonntag geworden – haben sie zur Kirche gemusst, denn nach der Hausordnung hat jeder Heiminsasse den Gottesdienst seiner Konfession zu besuchen. Dann spielten Kufalt und Petersen bis zum Mittagessen Schach, während Beerboom seine Hosen über einer Stuhllehne mit einem flachen Brett »bügelte«. Als sie dann am Nachmittag losgingen, hatte er zwei Bügelfalten nebeneinander und wurde weinerlich. Alles ging ihm quer.
Der Hafen ermunterte sie, und eine Weile stolperten sie an den Bollwerken entlang. Aber dann wurden sie müde. Beerboom klagte über Hunger und Durst. Das Essen hielt rein nichts vor, was das für Portionen seien, im Zet …
Sie gerieten in die Anlagen beim Bismarck und setzten sich dort unter Bäume. Eine Seltersbude war dicht dabei, Beerboom trank Zitronenlimonade, Himbeerlimonade, aß die Stullen, die fürs Abendessen bestimmt waren, klagte eine Weile und schlief ein.
Die beiden anderen, müde und zufrieden, sahen schläfrig auf den Strom der Vorbeiziehenden und flüsterten ab und zu ein paar Bemerkungen über Beerboom, mit dem es nicht gut ablaufen könne. »Aber Seidenzopf hört nicht, und Marcetus weiß alles über Entlassenenfürsorge. Dem kann man nichts erzählen.«
Sie sehen sich weiter die Vorübergehenden an. Von Zeit zu Zeit setzen sie Beerboom zurecht, der von der Bank rutscht.
Als der aufwacht, ist es schon gegen sechs. Er ist wütend, dass sie ihn so lange haben schlafen lassen, um zehn müssen sie schon wieder im Friedensheim sein, da kann er schlafen, aber doch nicht hier!
Dann kauft er sich eine Bockwurst mit Kartoffelsalat und zum Abschluss einen kalten Kuss.1 Er steht auf und sagt: »Gehen wir.«
Die Reeperbahn, die Kleine und die Große Freiheit helfen über eine Stunde weg. Aber sie sind Leute ohne Geld, außerdem erklärt Petersen, dass er unmöglich mit ihnen hier in ein Lokal gehen könne, dann sei er seinen Posten los. Zur Not könne man in der Nähe des Hauptbahnhofs in ein Konzertcafé. Sie müssten aber den Mund halten.
Schließlich sitzen sie dort in einem halbleeren Café. Es ist die unglückliche Stunde zwischen sieben und acht, in der die Kapelle pausiert. Beerboom schimpft und trinkt Bier, Kufalt grübelt und trinkt ein Kännchen Kaffee, Petersen sieht sich mit seinen schnellen Augen unter den jungen Mädchen um. Er trinkt Tee.
Als Kufalt sich eine Zigarette dreht, flüstert er: »Ich weiß nicht, ob das hier üblich ist. Vielleicht kaufen Sie sich welche. Wir fallen sonst auf. Ich würde Ihnen die fünfzig Pfennig unserer Wette erlassen.«
»Na schön«, sagt Kufalt und steht auf. »Ich hole sie mir dann drüben im Hauptbahnhof. Hier deren Apothekerpreise bezahle ich nicht.«
Kufalt geht. Seinen Hut lässt er hängen. Es ist kurz vor acht. Unten fragt er, wo der Rathausmarkt ist. – Dort die Ecke, die Mönckebergstraße hinunter, kaum fünf Minuten.
Kufalt läuft.
Da ist schon der Rathausmarkt, die Uhr schlägt eben acht, er sieht sich nach dem Denkmal, nach dem Pferdeschweif um.
Nichts.
Er fragt. »Ja, das war mal hier. Aber jetzt nicht mehr. Wie lange waren Sie denn nicht hier?«
Kufalt umrundet den Rathausmarkt. Er geht kreuz und quer. Immer glaubt er, zwanzig Meter weiter Batzke zu sehen. Manchmal erreicht er ihn, dann ist es jemand anders, manchmal entschwindet der andere, dann war er es vielleicht doch. Außerdem kann er sich nicht recht vorstellen, wie Batzke eigentlich aussieht, immer wieder stellt er sich einen Menschen in blauer Kittchenkluft mit Lederpantoffeln vor.
Die Uhr am Rathaus zeigt Viertel, zeigt halb. Kufalt sucht verbissen weiter. Er muss kommen, Batzke muss kommen. Er will nicht ins Heim zurück. Dieses kleine, mickrige Leben, dieses Kämpfen um den Groschen, dieses Streiten mit Seidenzopf, dieses Quälen an der Maschine, dieser Beerboom, dieser Petersen, dieser Marcetus – soll das die Freiheit sein, auf die er fünf Jahre gewartet hat?
O Gott! Die Freiheit! Tun und lassen, was er mag …
Es ist nach neun, als er wieder ins Café kommt. Es soll also wohl so sein, Friedensheim heißt die Losung. Nun gut, auch das wird er ertragen, er muss eben noch ein wenig länger warten … Aber wenn Petersen ihm jetzt ein Wort sagt …! Doch Petersen tanzt mit Begeisterung, er hat wohl keine Ahnung, wie lange Kufalt fort war. Als er mal an den Tisch kommt, schwärmt er von einer Blauen, die sicher was Besseres ist.
Beerboom trinkt sein zweites Glas Bier und erörtert die Frage, ob er Seidenzopf morgen schon wieder um Geld angehen kann. Einerseits – andererseits.
Zehn Minuten nach halb zehn. »Jetzt müssen wir aber unbedingt los, sonst schaffen wir es nicht.«
Unten sagt Petersen sorgenvoll: »Wir müssen eine Elektrische nehmen.«
Und Beerboom: »Die bezahlen Sie aber! Bloß wegen Ihrer blöden Tanzerei.«
Im Wagen wird Beerboom plötzlich gelb und weiß. »Mir wird so schlecht.«
Er wankt auf die Plattform. Und muss sich schon erbrechen.
Der Schaffner tobt: »Nein, meine Herren, das geht nicht! Sofort steigen Sie ab!«
Petersen ist verzweifelt. »Es hilft alles nichts. Wir müssen ein Auto nehmen. Herr Beerboom, nehmen Sie sich ein bisschen zusammen, dass Sie das Auto nicht dreckig machen.«
Beerboom röchelt.
Und im Auto, in kurzen Abständen: »Ein Taschentuch, schnell, ganz schnell – Ihr Taschentuch, doch nur schnell! Da! Wischen Sie’s ab!«
Und plötzlich lauthals weinend: »Was ist das mit mir?! Ich habe doch gar nichts getrunken! Was habe ich früher vertragen! O Gott, o Gott, was haben die aus mir gemacht, die Schufte, die elenden … An nichts kann man sich mehr freuen …«
Sie kommen zwei Minuten nach zehn an. Vater Seidenzopf schließt mit einem Begräbnisgesicht auf, beantwortet ihren Gruß nicht, betrachtet scharf den Beerboom.
»Herr Petersen, kommen Sie noch mal auf mein Zimmer. Wenn Sie Ihren Schutzbefohlenen ins Bett gebracht haben. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«
1 Gebäck, auch: »Kalter Hund« <<<
Es vergehen zwei und drei Wochen. Kufalt sitzt in der Schreibstube und schreibt. Es geht nicht so schnell vorwärts, wie er geglaubt hat, tausend Adressen erreicht er nie. Mal ist das Adressenmaterial schlimm, und mal ist ihm schlimm.
Er wacht trübe auf. Dann irritiert ihn jedes Geräusch, das Gebrumm und Gegreine von Beerboom in seinem Rücken macht ihn wahnsinnig. Er sitzt an der Maschine, aber er schreibt nicht, er überlegt: Soll ich aufstehen und dem Beerboom eins in die Fresse hauen? Das wird eine fixe Idee: Er sitzt und horcht nur nach Beerboom. Soll ich …? Und er müsste doch schreiben!
Aber es scheint so zwecklos, ohne Atemholen Adressen zu klappern, nur das bei jeder Wochenabrechnung mit Seidenzopf die Rücklage um fünf oder zehn Mark kleiner wird. Soll es ewig so weitergehen? Es gibt Leute, die kommen schon Jahre auf die Schreibstube.
Bürovorsteher Mergenthal ist nicht schlimm. Zum Beispiel hilft er manchmal, wenn eine Arbeit eilig ist. Dann verschenkt er seine Adressen, meistens an Beerboom, aber auch Kufalt hat einmal hundert bekommen. Und er kann es überhören, wenn sie ein Wort sprechen, nur darf Seidenzopf nicht im Lande sein. Mergenthal geht dann vor die Tür. Vielleicht horcht er, aber jedenfalls klatscht er nicht.
»Wie viel haben Sie?« fragt Maack den Kufalt.
»Vierhundert. Nein, noch nicht. Dreihundertachtzig. O Gott, ist das schwer! Es wird eigentlich jeden Tag weniger statt mehr.«
»Ja«, sagt Maack und nickt mit seinem energischen blassen Gesicht. »Ja. So geht es den meisten zu Anfang. Es wird immer schlechter.«
»Sind Sie auch …?« fragt Kufalt und bricht wieder ab.
»Ich auch«, nickt Maack lächelnd. »Wohl die meisten hier. Vielleicht sind ein paar dabei, die nur stellungslos sind. Aber das weiß man nicht.«
»Ist Mergenthal auch vorbestraft?« flüstert Kufalt.
»Mergenthal?« Maack scheint nachzudenken. Aber vielleicht ist ihm die Frage auch nur unangenehm. »Das weiß ich nicht authentisch.«
Und schreibt endgültig weiter.
Beerboom erregt sich wieder einmal. Er hat am Abend vorher Adressen mit dem Handwagen abgeliefert und bei der Firma gehorcht, was die wohl zahlen fürs Tausend »Zwölf Mark. Zwölf Mark! Und uns geben sie fünf und sechs! Verbrecher sind das, Räuber, Ausbeuter …«
Aber nun öffnet sich die Tür, und Mergenthal kommt wieder. »Beerboom, Sie müssen schreiben. Sie dürfen nicht sprechen! Sie wissen, wenn Frau Seidenzopf das hört oder Fräulein Minna …«
»Fräulein Minna!« höhnt Beerboom. »Wenn ich das schon höre: Fräulein Minna! Die Fürsorgegöre! Kriechen müssen wir, Papier bekritzeln, damit die Weiber sich dicketun können! Zwölf Mark kriegen sie, und uns geben sie sechs – wenn das Gerechtigkeit ist …!«
»Herr Beerboom, seien Sie jetzt still. Ich darf das nicht hören, ich müsste es Herrn Seidenzopf melden …«
Nun, schließlich beruhigt sich Beerboom wieder, und Mergenthal meldet es nicht. Aber Minna hat mal wieder gelauscht, und von Minna erfährt es Seidenzopf.
»Ich übergebe Sie der Polizei, Beerboom. Ihre Bewährungsfrist verfällt. Entweder – oder. Es ist mein letztes Wort!«
Und am nächsten Tag folgt dann das Strafgericht beim Pastor. Beerboom wird zermalmt, zerquetscht, seine jammernden Proteste werden niedergedonnert. Beerboom wird zu straffer Arbeit angehalten.
An diesem Tage liefert er als Tagesleistung achtundsechzig Adressen ab.
Aber auch Kufalt wird wieder einmal zu Pastor Marcetus gerufen. »Wie ich höre, sind Sie noch immer hier.«
»Herr Pastor Zumpe hat doch sicher wegen des Geldes geschrieben?«
»Pastor Zumpe?« Ablehnende Handbewegung. »Ich bin der Sache nicht nachgegangen. – Sie haben an Ihren Schwager geschrieben?«
»Ja«.
»Ihr Schwager will wissen, wie wir mit Ihnen zufrieden sind.«
»Und wie sind Sie mit mir zufrieden?«
»Sie kommen oft zu spät nach Haus.«
»Immer unter der Obhut von Herrn Petersen.«
Der Pastor überlegt. »Ihr Schwager ist begütert?«
»Er hat eine Fabrik.«
»So. Eine Fabrik. – Sie haben gebeten, dass Ihre sämtlichen Sachen hierher geschickt werden. Das geht natürlich nicht, wir wären verantwortlich, wenn etwas abhandenkommt.«
»Werden Sie darum nicht mit mir zufrieden sein?«
Der Pastor sieht wirklich nicht zufrieden aus. Er äußert sich aber mehr allgemein: »Einen Ton haben die jungen Leute heutzutage. Wir sind Ihnen doch behilflich.«
»Sie werden also mit mir zufrieden sein?«
»Ihre Arbeitsleistung ist ganz ungenügend.«
»Lassen Sie mich rausziehen, Herr Pastor, aus dem Heim und täglich auf die Schreibstube kommen wie die anderen.«
Der Pastor schüttelt missbilligend den Kopf. »Zu früh. Viel zu früh. Der Übergang soll sachte sein.«
»In der Hausordnung steht, der Aufenthalt im Heim soll vier Wochen nicht übersteigen.«
»Im Allgemeinen, heißt es dort, im Allgemeinen.«
»Bin ich ein besonderer Fall?«
»Wovon wollen Sie denn draußen leben?«
»Von meinem Arbeitslohn hier.«
»Sie verdienen ja keine vier Mark den Tag. – Nein, nein, Sie haben andere Dinge im Kopf.«
»Was für andere Dinge?«
Aber der Pastor will nicht mehr. Er ist müde oder verärgert, oder er langweilt sich auch. »Hier habe ich zu fragen, Herr Kufalt. Nein, ich werde Ihrem Herrn Schwager schreiben, dass Sie für die nächste Zeit noch bei uns bleiben. Vielleicht im Juli. Nein, gehen Sie jetzt. Guten Morgen übrigens.«