Kitabı oxu: «Schuldig geboren»

Şrift:

Hans Schaub

Schuldig

geboren

Eine Familiensaga aus dem Jura

Impressum

Schuldig geboren

Hans Schaub

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

E-Book-Produktion: DIPUB Media Christian Melle, Potsdam

www.dipub.de

Copyright © 2013 Hans Schaub

ISBN 978-3-8442-5686-4

Gewidmet meiner Mutter

Maria geborene Zeller

«Es gibt keine Fiktion,

die nicht auf Erfahrung beruht.»

Max Frisch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung, Zitat

Herbert

Albert Stoll, Herberts Grossvater

Max

Marta

Max, der Krüppel

Max und Marta

Die Vergewaltigung

Der Portier

Das Wunder von Waldenburg

Der Tod des Totengräbers

Tod und Geburt

Druckerei Stoll

Die Hochzeit

Familienglück

Das Familiengeheimnis

Tag der Wahrheit

Dank

Herbert

Noch nicht vierunddreissigjährig, hatte es Herbert Stoll schon weit gebracht. Eine der grössten Druckereien der Gegend war sein Eigen. Nicht ganz, wie er oft im Freundeskreis scherzhaft zu sagen pflegte: «Die Druckerei gehört der Bank und mir.»

Erst am Wochenende war er aus dem Libanon zurückgekehrt. Dort war er seinen Verpflichtungen als Vorstandsmitglied in den Unternehmen seines Schwiegervaters nachgekommen. Haneen, seine Frau, die ihn begleitet hatte, war im Libanon geblieben. Ihre Mutter hatte sich nicht wohlgefühlt.

Es war Dienstag, der 3. September 1976. Im Terminkalender keine einzige Besprechung oder Sitzung. Einer jener Tage, an denen Herbert Zeit fand, den sich auf seinem Schreibtisch stapelnden Berg unerledigter Pendenzen abzuarbeiten. Den allmorgendlichen Rundgang durch seinen Betrieb wollte er etwas ausdehnen, Zeit haben für Anliegen seiner Mitarbeiter.

Wie immer, wenn Haneen im Libanon war, verwöhnte Frau Waldmeier ihren Chef mit frischen Gipfeli und einer Tasse Kaffee. Dass sie ihren Chef duzte und er zu ihr per Sie war, fiel den meisten Besuchern in der Regel rasch auf. Ja, sie hatten ein besonderes Verhältnis, und wer die Firmengeschichte der Herbert Stoll AG kannte, wunderte sich darüber weiter nicht.

Herbert machte sich auf zum Rundgang. Unter der Tür sagte er zu Frau Waldmeier: «Es könnte heute etwas länger dauern. Im neuen Maschinensaal möchte ich mit den Monteuren, die gestern gekommen sind, noch ein paar Worte wechseln.»

Rosmarie Waldmeier nickte und fragte: «Mein Mann hat heute Geburtstag und ich habe noch kein Geschenk für ihn. Kann ich etwas früher gehen?»

«Schon gut, Frau Waldmeier, gehen Sie doch so nach drei Uhr», waren die Worte, die Stolls Sekretärin noch hörte, bevor dieser die Tür hinter sich schloss.

Gleich zu Beginn seiner Runde begrüsste er die beiden Monteure, die während der nächsten zwei Wochen die neue, leistungsfähige Druckmaschine montieren sollten. Er erkundigte sich, ob sie sich im Hotel wohlfühlten. Seinen Betriebsmechaniker, der danebenstand, ermunterte er, bei der Montage mitzuhelfen und vom Know-how der Monteure zu profitieren.

«Du kannst dich auf mich verlassen, auch wenn es mal später am Abend wird», gab der Betriebsmechaniker zurück.

«Geh doch ein-, zweimal mit den beiden auf Kosten der Firma zum Essen in den Leuen, ein gutes Verhältnis zu Monteuren zahlt sich über die Zeit immer aus», sagte Herbert und ging zielstrebig zur Spedition.

Dort ging es am frühen Morgen immer lebhaft zu. Hier trafen sich seine eigenen Leute mit Abholern und Chauffeuren. Die am Vortag und in der Nacht gedruckten Erzeugnisse lagen hier bereit zum Abholen oder zum Versand, und hier wurden auch die neuesten Informationen ausgetauscht, über dies und jenes getratscht, Pause gemacht und Kaffee vom Auto­maten getrunken.

Herbert Stoll trat in den Raum. Eine fast unheimliche Stille schlug ihm entgegen. Niemand lachte, alle redeten nur gedämpft miteinander. Irgendetwas war anders als sonst. Heute konnte er nicht mit einem flotten, lockeren Spruch die Stimmung ändern. Im Moment traute er sich auch nicht, jemanden anzusprechen, wen auch?

Frau Berner trat zu ihm. Sie wohnte im Nachbarort, wo Stoll aufgewachsen war, und holte jeweils die druckfrischen Prospekte für ihre Firma ab. Sie streckte Stoll die Hand entgegen. «Herr Stoll, ich kondoliere Ihnen zum Tod Ihrer Mutter, es tut mir leid.»

Stoll erschrak, verunsichert schaute er Frau Berner an, die Hand übersah er. Reflexartig drehte er sich um. Nur raus, weg von diesen Leuten, die ihn anstarrten. Wortlos nickte er Frau Berner zu, verliess die Spedition und schlug den Weg zu seinem Büro ein. Er stürmte durch das Vorzimmer, in dem Frau Waldmeier gerade die Morgenpost sortierte, in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. So hatte Frau Waldmeier ihren Herbert noch nie gesehen. Das ausdruckslose, bleiche Gesicht, der leere Blick. Und dass er sich eingeschlossen hatte, war in den zehn Jahren, seit Herbert ihr Chef war, nie vorgekommen. Behutsam klopfte sie an. Nachdem sich auf ihr Klopfen nichts regte und kein «Kommen Sie herein» zu hören war, öffnete sie die Tür. Sie erschrak, als sie Herbert leichenblass auf dem Besucherstuhl sitzen sah. Er regte sich nicht, schien sie nicht wahrzunehmen. «Was fehlt dir, brauchst du einen Arzt?», fragte sie zögernd. Mit den Worten, sie solle ihn in Ruhe lassen und es fehle ihm nichts, schickte er sie hinaus. Nach einigen Minuten hörte sie, wie in Herberts Büro das Telefon lange läutete. Kaum hatte es der Anrufer offenbar aufgegeben, leuchtete an ihrem Apparat die rote Lampe auf. «Druckerei Stoll, Waldmeier am Apparat, was kann ich für Sie tun?»

«Guten Tag Frau Waldmeier, hier ist Sebastian Furrer, ist Herbert nicht in seinem Büro?», fragte der Anrufer. «Ich versuchte ihn eben über die Direktwahl zu erreichen, doch er antwortet nicht. Seien Sie doch so nett und verbinden Sie mich mit ihm.»

Frau Waldmeier kannte Sebastian Furrer, ein Freund von Herbert, sie trafen sich regelmässig zum Joggen. «Es tut mir leid, Herr Furrer, ich kann Sie im Moment nicht verbinden.»

«Dann richten Sie ihm bitte aus, dass er mich nach der Besprechung, in der er offenbar steckt, zurückruft.»

In ihrer Erregung rutschte es aus ihr heraus: «Er ist nicht in einer Besprechung.» Augenblicklich schämte sie sich, wie unprofessionell sie geantwortet hatte. Mit ihrer Aussage hatte sie Furrer hellhörig gemacht. Irgendetwas Ungewöhnliches musste vorgefallen sein. «Frau Waldmeier, mir als Herberts Freund können Sie doch sagen, was los ist», redete er auf sie ein.

«Ich weiss selbst nicht, was los ist, bitte lassen Sie mir etwas Zeit, ich werde Herbert Ihren Anruf ausrichten. Bitte haben Sie Verständnis, Herr Furrer», sagte Frau Waldmeier und unterbrach die Verbindung.

Furrer war perplex, noch nie zuvor war Herberts Sekretärin derart kurz angebunden gewesen.

Noch während des Gesprächs mit Furrer leuchtete am Apparat von Frau Waldmeier das orange Lämpchen auf. Ein Anruf aus der Spedition. Bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, schimpfte Lisa, die Gruppenleiterin, drauflos.

«Warum hast du uns nichts gesagt, warum müssen wir so traurige Dinge über unseren Chef von Kunden erfahren? Es war uns allen peinlich, als der Chef bei seinem Betriebsrundgang zu uns kam.»

Frau Waldmeier, sonst gar nicht auf den Mund gefallen, war erst mal sprachlos. Die sonst sanfte, wortkarge Lisa war ausser sich. Sie hörte gerade noch, wie Lisa weinte und dann auflegte. Was war geschehen, was gab es, das sie nicht wusste? Erst der Chef, der wie ein Gespenst an ihr vorbeigeschossen war und sich in seinem Büro verschanzt hatte, und dann Lisa, völlig aufgelöst und erregt. Kurz entschlossen begab sie sich zur Spedition. Lisa sass in Tränen aufgelöst auf einem Stuhl und schluchzte. Frau Huber, eine Aushilfe, hielt wortlos Lisas Schulter. Frau Waldmeier versuchte, ihre eigene Aufregung zu dämpfen und trat zu Lisa. «Was ist denn in dich gefahren, dass du mich am Telefon derart beschimpfst? Es gibt da anscheinend etwas, das ich nicht weiss, bitte klär mich auf.»

Lisa, immer noch beleidigt, stotterte: «Du hättest uns heute früh über den Tod der Mutter unseres Chefs benachrichtigen sollen. Es war für uns alle so peinlich, als wir von Frau Berner von ihrem unerwarteten Tod erfahren mussten. Wir hatten keine Ahnung und es traf uns alle. Anstatt von dir mussten wir es von Frau Berner erfahren.» Sie schluchzte auf. «Und wie sich der Chef verhalten hat, als ihm Frau Berner ihr Beileid aussprach. Ich dachte, der fällt wie ein Baum im Sturm zu Boden, er wirkte geschlagen, es schien, als hätte auch er erst von ihr vom Tod seiner Mutter erfahren.»

Alle anderen, die sich im Raum aufhielten, blieben stumm, während Lisa sprach, hatten ihre Arbeit unterbrochen und schauten zu Frau Waldmeier. Diese reagierte erst verwirrt und dann ungläubig.

Lisa könnte recht haben, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Chef hatte heute tatsächlich von Frau Berner zum ersten Mal vom Tod seiner Mutter erfahren. Frau Berner war, ohne es zu wissen, die Überbringerin der traurigen Mitteilung. Eine Nachricht, die auf andere Weise hätte überbracht werden müssen.

Mit einem Mal verstand Frau Waldmeier das Verhalten von Herbert, auch dass Lisa verärgert und hilflos war, konnte sie nun nachvollziehen. Zu Lisa sagte sie: «Es tut mir wirklich leid, was geschehen ist. Dass unser Chef nichts vom Tod seiner Mutter gewusst hatte, kann gut sein. Wenn du aber denkst, ich hätte dir und allen anderen die Nachricht vorenthalten, liegst du falsch, erst durch dich habe ich davon erfahren. Ich bin genauso schockiert wie ihr alle.»

Zurück in ihrem Büro, setzte sie sich mit weichen Knien hin. Sie starrte auf das Gemälde einer finnischen Landschaft, das an der Wand hing. Ein Bild, das ihr in hektischen Zeiten half, sich zu beruhigen und abzulenken. Doch an diesem Morgen schien ihr diese Szenerie neblig und trüb, der See und die Bäume verschwommen, ohne Konturen. Was sollte sie als Nächstes tun, wie sich verhalten? Beherzt ins Büro zu Herbert treten oder warten, bis er sich meldete? Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken.

Sie nahm sich zusammen, griff nach dem Hörer und meldete sich wie gewohnt: «Druckerei Stoll, Rosmarie Waldmeier am Apparat, was kann ich für Sie tun?»

Ein Kunde wollte sich informieren, wann die bestellten Kataloge von seiner Winterkollektion geliefert würden. Sie fragte in der Abteilung nach und bestätigte dem Kunden die Lieferung in zwei Tagen. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, drehte sie sich auf ihrem Bürostuhl um. Herbert, der während des Gesprächs eingetreten war, hatte sie nicht bemerkt. Kein Schatten, kein Geräusch hatte auf ihn aufmerksam gemacht. Sie erschrak, als er so unerwartet neben ihr stand. Eine kümmerliche Figur, wie ein geschlagener Hund stand er mitten im Raum.

«Geben Sie mir das Telefonbuch», forderte er mit gebrochener Stimme.

«Herbert, es tut mir so leid, was passiert ist. Ich erfuhr es erst vor wenigen Minuten von Lisa. Was kann ich für dich tun?», versuchte Frau Waldmeier sich heranzutasten.

«Nichts und niemand kann jetzt etwas für mich tun, ich will in Ruhe gelassen werden. Geben Sie mir jetzt das Telefonbuch bitte.» Ein letzter Versuch, mit Herbert ins Gespräch zu kommen, war ihr Angebot, für ihn die gewünschte Nummer herauszusuchen. Doch er lehnte ab und zog sich wieder zurück in sein Büro.

Mit zitternden Fingern suchte Herbert die Telefonnummer seiner Schwester Michele. Vier Jahre zuvor hatte er das letzte Mal mit ihr gesprochen. In seiner privaten Agenda war ihre Adresse und Telefonnummer nicht eingetragen. Alle Kontakte zu seiner jüngeren Schwester hatte er damals abgebrochen. Seither hatte es keine Gründe gegeben, mit ihr zu reden. Sollte sie, seitdem er zuletzt von ihr gehört hatte, nicht umgezogen sein, würde er ihre Nummer finden. Tatsächlich, da stand sie. Wie sollte sie auch umziehen, ging es ihm durch den Kopf. Er hatte ihr ja damals im Erdgeschoss des Hauses, in dem sie wohnte, ihren Coiffeursalon finanziert.

Zögerlich wählte Herbert die Nummer seiner Schwester. Eine junge Stimme meldete sich.

«Rolf Stoll.»

«Rolf, hier ist Herbert, dein Onkel, bitte ruf deine Mutter ans Telefon.»

Am anderen Ende der Leitung hörte Herbert, wie sein Neffe nach der Mutter rief. Darauf Micheles Stimme: «Muss das denn jetzt sein, das passt mir gar nicht, warum ruft der mich an, das stinkt mir.» Sie seuftzte: «Wenn es denn sein muss, gib mir den Hörer.»

«Was ist?», ertönte die eiskalte, schnippische Stimme Micheles.

«Was ist, wäre eigentlich an mir, zu fragen», begann Herbert. «Was ist mit Mutter?»

«Hat man dir also erzählt, dass Mutter gestorben ist. War wohl kaum zu vermeiden, dass du davon erfahren würdest.»

Herbert antwortete: «Ich bitte dich, egal was du von mir hältst, was auch immer vorgefallen ist, deine Mutter war auch meine. Wann und wo starb Mutter, wie ist sie gestorben, warum wurde ich nicht von dir oder von Vater benachrichtigt?»

«Mutter starb vorgestern im Spital, sie hatte vier Tage zuvor einen Hirnschlag. Vater hat uns ausdrücklich untersagt, dich über den Spitalaufenthalt und den Tod von Mutter zu informieren. Morgen erscheint im Tagblatt die Todesanzeige, darin steht auch, wann und wo die Abdankung stattfindet. Und jetzt muss ich weg, ich habe einen Termin beim Friseur.»

Ohne ein weiteres Wort hatte Michele die Verbindung abgebrochen, Herbert konnte nur noch den Freiton hören.

Während des Gesprächs sank Herbert immer tiefer in seinen Sessel. Er weinte. Dass seine Schwester Michele ihre eigene Dummheit durch arrogantes Auftreten überdeckte, war ihm nicht neu. Auch dass sie eine kalte, empfindungslose Person war. Dass sie aber bei einem so traurigen Anlass derart gefühllos handelte, dafür fiel ihm keine Entschuldigung ein.

Herbert blieb lange in seinem Sessel sitzen. Er beachtete nicht die aufziehenden Wolken, die den Tag verdunkelten. Er überlegte sich, Haneen anzurufen. Mit ihr konnte er über alles reden, immer wenn es galt, ihn aus einer tiefen Niedergeschlagenheit aufzurichten, fand sie die richtigen Worte. Doch Haneen war ja seit einer Woche bei ihrer kranken Mutter im Libanon. Er schob den Gedanken, sie jetzt anzurufen, beiseite. Er würde, wie jeden Abend, von zu Hause aus mit ihr telefonieren.

Kurz entschlossen nahm Herbert seine Jacke vom Kleiderhaken, sagte zu Frau Waldmeier nur ein knappes «Ich bin dann weg» und ging zielstrebig und auf dem kürzesten Weg zum nahe gelegenen Wald zu einer Lichtung. Schon als Jugendlicher hatte es ihn oft dorthin gezogen. Hier fühlte er sich wohl, hier konnte er entspannen. «Seine» Waldlichtung war ringsum von grossen Findlingen umsäumt. Findlinge, die ein Gletscher vor Jahrmillionen ins Tal getragen und auf seinem Rückzug in die Alpen liegen gelassen hatte. Zu dieser Lichtung zog es Herbert, wenn er allein sein wollte, wenn eine schwierige Entscheidung zu treffen war oder er sich still an einem gelungenen Geschäft freuen konnte. Diesen Ort des Rückzugs aus dem Alltag suchte er auch auf, wenn jemand, der ihm nahestand, beerdigt wurde.

Herbert hasste Beerdigungen, er konnte die heuchlerischen Worte, mit denen Pfarrer und Priester selbst die hinterhältigsten Menschen nach deren Tod nur im besten Licht darstellten, nicht ausstehen. Auch konnte er Trauernde nicht leiden, denen er ansah, dass sie noch am Grab eines Verstorbenen über das nun endlich fällige Erbe nachdachten. Verstorbenen, die Herbert gut gekannt hatte, mit denen er befreundet war, die er zu deren Lebzeiten hoch geachtet hatte, gedachte er lieber in aller Stille in seiner Waldlichtung.

In der Ruhe des Waldes fand er zu sich selbst. Er liebte die Gerüche, die sich in jeder Jahreszeit neu komponierten. Den Moder der langsam zu Humus zerfallenden Blätter, die vielfältigen Düfte der Blüten. Nicht, dass es im Wald nur friedvoll zugeht, der Kampf ums tägliche Überleben findet auch dort auf brutale Weise statt. Die hohen Bäume nehmen den kleinen – selbst denen, die aus ihrem eigenen Samen gewachsen sind – das zum Leben notwendige Licht. Mit ihren tiefen Wurzeln saugen sie das zum Wachstum der Jungen notwendige Wasser hoch in ihre Blätter. Die Macht der Grossen, der Etablierten wird im Wald schonungslos gelebt. Doch ausgerechnet deren Grösse wird ihnen irgendwann zum Verhängnis. Der eine wird vom Wintersturm, der in den hohen Kronen Widerstand findet, ein anderer von der Motorsäge des Försters gefällt. Dann beginnt das neue Leben der bis dahin Unterdrückten. Die kleinen jungen Bäumchen erhalten Licht und streben zur Höhe. Natur pur, sagte sich Herbert, altes Leben wird ausgelöscht, junges erhält Chancen zum Leben.

Herbert setzte sich auf einen der Steine. Er nahm die Nässe des Regens nicht war, nicht die Kälte, die durch seine dünne Bekleidung kroch. Mit seinen Gedanken war er woanders. Ungeordnet waren sie; mal weit weg, dann wieder ganz nah. Das Zeitgefühl hatte ihn verlassen, er sass einfach nur da. Zögerlich und zuerst nur halb bewusst, begann er über seine Lage nachzudenken. Wie war es so weit gekommen, dass er sich mit seiner Familie derart zerstritten hatte? Wie weit zurück lagen die Ereignisse, die sein Leben und das seiner Familie in diesem Mass beeinflusst hatten? Wie war es gekommen, dass Hass und Missgunst seine Familie derart vergiften konnten.

Dies zu ergründen, würde er sehr tief graben und weit zu den Wurzeln seiner Familiengeschichte zurückgehen müssen.

Wo wurde sein Vater geboren, wie war er aufgewachsen? Wie war das Milieu, in dem seine Mutter aufwuchs und was waren die Gründe ihrer oft tiefen Depressionen?

Albert Stoll, Herberts Grossvater

Unter der Last des Rucksacks keuchend, musste Linda stehen bleiben. Nur noch wenige Schritte von der Bank entfernt, auf der sie sich gewöhnlich einen kurzen Zwischenhalt gönnte. Immer schneller drehte sich der steinige Weg mit den beidseits hohen Böschungen, die Bäume vor ihren Augen. Zu stolz, als noch nicht fünfunddreissig Jahre zählende Frau an einem Gehstock zum Einkaufen zu gehen, hatte sie nichts, woran sie hätte Halt finden können. Sie zog die heisse Luft ein, die dann geräuschvoll pfeifend aus ihren Lungen strömte. Mit geschlossenen Augen versuchte sie sich zu sammeln und schaffte die wenigen Schritte zur Bank doch noch. Den schweren Rucksack stellte sie daneben und setzte sich. Es stand noch eine steile Strecke bis zum Hof vor ihr. Der Hohlweg, von Sommergewittern ausgeschwemmt, mit Geröll übersät, so wie ungepflegte Wege im Jura aussehen. Kaum mit einem Wagen befahrbar, war dieser bachbettartige Weg die kürzeste Verbindung zum Städtchen.

Das von ihren Bewohnern liebevoll «Städtli» genannte Waldenburg war eigentlich ein Dorf, das seine vor der Neuzeit liegende Wichtigkeit verloren hatte.

Die Zufahrt zum Hof führte über eine lang ansteigende, kurvige schmale Strasse. Mit Ross und Wagen brachte Albert über diese Zufahrt jeden Tag zwei Mal die Milch zur Sammelstelle.

Der Fussweg, den Linda zum Gang ins Städtchen und wieder zurück zum Hof benutzte, war auch jener, auf dem ihre Kinder zur Schule gingen. Üblicherweise machte Elsi, das älteste ihrer Kinder, nach der Schule die täglichen Besorgungen. Doch an diesem heissen Sommertag hatte Linda selbst ins Städtchen hinabgehen müssen. Den Besuch beim Doktor konnte ihr niemand abnehmen.

Die regelmässigen Visiten bei Dr. Baldinger waren Linda zuwider. Sie schämte sich, sich vor dem jungen Arzt zu entblössen. Er horchte jeweils ihre Brust ab, nickte dabei wissend, doch was er dabei feststellte, konnte oder wollte er ihr nicht sagen. Mit den lateinischen Ausdrücken, die sie hörte, wenn er mit seinem Vater sprach, konnte sie nichts anfangen. Ihre schwachen Lungen, das mühsame Atmen, behandelte der Doktor nun seit über drei Jahren. Linderung brachten die Medikamente, die sie erhielt, jeweils nur für eine kurze Zeit. Auch war es für sie rätselhaft, weshalb der alte Doktor sie an den jungen zur Behandlung weitergeben hatte. Nach den Gründen zu fragen, traute sie sich nicht.

Das schwül-heisse Wetter, das an jenen Sommertagen des Jahres 1927 herrschte, raubte Linda fast den Atem. Auf der Bank sitzend, erholte sie sich langsam. Da blieb ihr Blick an der schroffen, hohen, scheinbar am Berg klebenden Fluh auf der anderen Talseite hängen. Kahl thronte sie fast zweihundert Meter hoch über dem Seitental. Von ihrer Bank aus gesehen schienen die schon vor Jahrhunderten unter der Fluh gebauten Häuschen jeden Augenblick gefährdet. Eines Tages zerdrückt von herabfallenden Felsbrocken oder begraben zu werden von der sich vom Berg lösenden Fluh, schien jederzeit möglich zu sein. Doch war seit Menschengedenken niemand zu Schaden gekommen. Nein, die Fluh diente seit Urzeiten den darunter lebenden Menschen als Schutz vor Unwettern und Feinden.

Lindas Besuch bei Dr. Baldinger war ausserhalb des vereinbarten halbjährlichen Zyklus’ erfolgt. Zur Atemnot, die ihr in der Sommerhitze die Kehle zuschnürte, waren neue Beschwerden gekommen. Seit acht Wochen waren ihre Monatsblutungen ausgeblieben. Unregelmässige Blutungen hatte sie zwar schon früher gehabt. Doch ihre Befürchtungen bestätigten sich, der Doktor diagnostizierte eine Schwangerschaft. «Sie sind in guten Umständen», hatte er mit besorgtem Gesichtsausdruck gesagt. Mit ihrer Lunge sei das gar nicht gut, und er erwarte grosse Komplikationen. Dass es Schwierigkeiten geben würde, war Linda nach dem Befund augenblicklich bewusst. Nur dachte sie nicht an dieselben wie der Doktor.

«Wie bringe ich Albert meinen Zustand bei? Wann wird der beste Zeitpunkt sein, ihm zu sagen, dass ich ein Kind erwarte?» Linda kannte ihren Mann zu gut; so sicher, wie es vom Kirchturm zwölf schlägt, würde er sie beschimpfen, schlagen, gar treten. Schon im Voraus wusste sie, was er ihr entgegenschleudern würde. Er würde vor Wut schäumen und ihr vorhalten, dass er schon ohne einen zusätzlichen Balg nicht wisse, wie er seine Schulden bezahlen solle. Und dass sie, mit einem Kind im Bauch, nicht mehr wie sonst im Stall und auf den Feldern werde mitarbeiten können.

Linda seufzte beim Gedanken, dass es auch sein Kind war und er schliesslich der Vater sei. Dass er sich oft, mitten in der Nacht, ohne sie zu wecken, auf sie legte und in sie drängte und sich dann wortlos zur Seite rollte, um schnarchend in einen Tiefschlaf zu fallen. «Wie eine Kuh komme ich mir dann vor», dachte sie. «Nur – bei einer Kuh freut er sich, wenn diese trächtig wird, das gibt ein Kalb, das gibt Geld, das ist erwünscht.»

Linda beschloss, Albert noch nicht über ihren Zustand aufzuklären. Sie würde abwarten, bis sie nur mit Elsi und Albert in der Küche war. Dann, wenn die beiden Zwillinge noch in der Schule oder sonst irgendwo draussen waren. Vor Elsi mässigte sich Albert mit seinen groben Ausbrüchen. Wenn Albert sie schlagen wollte, trat die Tochter jeweils schützend vor die Mutter. Elsi, die älteste Tochter, war ein mutiges Mädchen. Mit ihrem forschen Auftreten hatte sie sich Respekt verschafft und ergriff, je länger, umso bestimmter, wortreich Partei für die Mutter.

Wie nach jedem seiner Wutausbrüche würde Albert sich für einige Tage im Stall und in der Scheune verkriechen, kurz zum Essen an den Tisch kommen, um sich dann zum Mittagsschlaf auf den Heustock zu verziehen. Tagelang würde er wie ein räudiger Hund umherschleichen. Bei günstiger Gelegenheit würde er Elsi über die Ergebnisse der Untersuchungen beim Doktor und über den Zustand der Mutter ausfragen, um dann bis zum nächsten Wutausbruch still, mürrisch und in sich gekehrt seiner Arbeit nachzugehen.

Linda erhob sich, schnallte den mit Mehl, Zucker und Hefe beladenen Rucksack an und stieg langsam weiter den karstigen Weg hoch. Noch nicht in Sichtweite des im Schatten des Hügels gelegenen Hofes kam ihr auch schon Schäfli, der Hofhund, entgegen. Er umkreiste und begrüsste sie mit wedelndem Schwanz und gab dabei fast jauchzende Laute von sich. «Du bist ein lieber Hund, es ist brav von dir, mir entgegenzukommen, leider habe ich keinen Knochen, ich war heute nicht beim Metzger.» Nur zu gerne hätte Linda einen Knochen mitgebracht, aber Fleisch zu kaufen lag im Moment nicht im Budget. Möglicherweise würde Albert nächstens das kleine Kälbchen, das mit zwei krummen Beinen geboren worden war, zum Metzger bringen. Dann käme wieder einmal Fleisch auf den Tisch. Nach der Biegung verflachte sich der Weg zum Haus mit dem von Weitem sichtbaren, tief heruntergezogenen Dach. Kein Bewohner war zu sehen. Die Zwillinge hatten an ihrem schulfreien Tag den Auftrag erhalten, Unkraut zu jäten. Keiner der beiden war im Gemüsegarten, obwohl sie während ihres Besuchs im Städtchen wohl kaum mit ihrer Arbeit fertig werden konnten. «Sicher haben sie sich vergessen und tollen wieder irgendwo rum», dachte Linda, als sie auf die Tür zuging.

Der einzige Schmuck am tristen Haus waren die beidseits des Eingangs aufgestellten, von Elsi liebevoll gepflegten Blumenkisten. Sie hegte diese, obwohl ihr der Vater dauernd zu verstehen gab, dass die für die Pflege aufgewendete Zeit für nützlichere Handreichungen fehle.

Vor der Haustür kauerten die beiden Buben auf dem Boden und weinten bitter. Warum sie denn heulten, wollte Linda erfahren. Max, der etwas aufgewecktere der beiden, erzählte: «Als Müri, die Katzenmutter, am Mausen auf der frisch gemähten Wiese war, hat Vater deren junge Kätzchen im Brunnen ersäuft. Und als Müri stolz mit einer gefangenen Maus zurück zum Hof gekommen ist, fand sie ihre Jungen nicht mehr. Nun streift sie jammernd und miauend durch Hof und Scheune und sucht ihre Kleinen. Vater hat mich und Ruedi nur ausgelacht; kleine Heuler und Weichlinge seien wir.»

«Typisch Albert», dachte Linda, «rücksichtslos und ohne Feingefühl.»

Das Töten von jungen Kätzchen war eine Notwendigkeit, Jahr für Jahr gab es Nachwuchs. Ohne das Töten würde die Katzenschar auf dem Hof zu gross. Da war Linda mit Albert einer Meinung. Doch mit etwas Mitgefühl und Rücksichtnahme auf die noch kleinen Kinder wäre es möglich gewesen, die schwächsten der Katzen zu töten. Aber nicht vor den Augen der Kinder. Aber so war Albert, er schaffte es, die eine Schandtat mit einer anderen zu verbinden und sich dabei köstlich zu amüsieren.

«Kommt mit in die Küche», rief Linda den beiden zu. «Ich giesse einen Tee auf, und dazu gibt es aus der Brotkammer für jeden einen Keks. Die habe ich beim letzten Mal extra für euch gebacken.»

Sie beeilte sich, sodass die beiden rasch wieder draussen am Jäten waren.

Linda war es nicht vergönnt, sich vom mühsamen Aufstieg zu erholen. Der Haushalt durfte nicht ruhen, bald würde Albert mürrisch den Zvieri-Kaffee verlangen. Nie würde er Linda direkt zum Befund der Untersuchung und der medizinischen Kontrolle fragen. Über den Arzt würde er schimpfen und sich unflätig über ihn äussern. Ordinäre Worte über Dr. Baldinger gehörten zu Alberts beliebtem und immer wieder durch neue Kraftausdrücke ergänztem Repertoire.

Der Hass gegen den Doktor lag tief in Alberts Seele. Denn ein Jahr zuvor war es zu einem Streit zwischen den beiden gekommen. Eine Auseinandersetzung, an der der Doktor nicht ganz unschuldig war.

Der junge Arzt, noch ganz ohne Erfahrungen und ohne besonderen Leistungsausweis, Spross einer alteingesessenen Familie, hatte den Ehrgeiz, überall Anerkennung zu finden. Er liess sich in den Gemeinderat wählen. In der Fabrik, die seine Mutter geerbt hatte, nahm er Einsitz im Verwaltungsrat. Selbst sein Vater konnte ihn nicht bremsen, er wollte in der Gemeinde derjenige sein, der in allen Belangen das Sagen hatte. Noch keine dreissig, tanzte die halbe Gemeinde nach seiner Pfeife. Er war schon wohlhabend geboren worden. Seiner Familie wollte er aber beweisen, dass es ihm gelingen würde, trotz der schwierigen wirtschaftlichen Zeiten das Familienvermögen zu mehren. Seinen Einfluss in der Fabrik und der Gemeinde nutzte er schamlos für seine Zwecke. Keiner traute sich, gegen ihn aufzubegehren. Wer sich als Gemeindebürger gegen ihn als Gemeinderat auflehnte, hatte als Angestellter der einzigen Fabrik im Ort Konsequenzen zu gewärtigen.

Kaum war der junge Herr nach dem Studium als Arzt ins Städtchen zurückgekehrt, war er mit Albert in Streit geraten. Der Familie des Doktors gehörte ein hoch über dem Ort gelegenes, sonniges Grundstück. Dort, dachte der noch ledige Doktor, würde er dereinst für seine eigene Familie eine Villa bauen. Der steile Feldweg, der zum Grundstück führte, hätte als Zufahrt zum Gelände in eine gewundene Strasse ausgebaut werden müssen. Für diese Strasse hätte Albert von seinem eigenen Land etwas abtreten sollen. Zudem wäre ein bestehendes Wegerecht an die neue Nutzung anzupassen gewesen.

Jeder andere wäre mit seinem Anliegen diplomatischer vorgegangen. Anstatt von seinem hohen Ross herunterzusteigen, den Bauern Albert auf seinem Hof aufzusuchen und ihm sein Anliegen auf gleicher Augenhöhe vorzubringen, hatte ihn Baldinger auf die Gemeindekanzlei zitiert. Noch im Stehen war er gleich zur Sache gekommen – ohne lange Vorrede: «Du musst mir für die Zufahrt zu meinem Grundstück etwas von deinem Land verkaufen und das Wegerecht zu meinen Gunsten anpassen. Für das Land zahle ich den Preis, der für Landwirtschaftsland derzeit gehandelt wird. Die Kosten für den Eintrag des neuen Wegerechts teilen wir.»

Hasserfüllt ob so viel Hochmut und Arroganz, hatte Albert zurückgegeben: «Was fällt dir ein, du verdammter, junger Schnösel. Erstens mag ich mich nicht erinnern, dass wir zwei per Du sind. Ich bin älter als du und kenne dich, seit du als dummer Bub in die Hosen gemacht hast. Zweitens kannst du die Sache mit dem Land vergessen, dir verkaufe ich keinen Quadratmeter. Und die grösste Frechheit, die du dir erlaubst, ist die Lächerlichkeit, dass ich mich an den Kosten für ein Wegerecht, das zu deinen Gunsten geändert wird, auch noch beteiligen soll.» Rot im Gesicht, wurde er immer lauter: «Und zu alledem lässt du mich an einem Nachmittag, an dem ich Heu einbringen sollte, hierher ins Gemeindehaus kommen.»

15,12 ₼
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