Zufall im Leben der Zelle

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Zufall im Leben der Zelle
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Hartmut Kuthan

Zufall im Leben der Zelle

Variation, Entwicklung und Evolution der Organismen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Coverabbildung: Foto der mitotischen Spindel in einer menschlichen Zelle, die Mikrotubuli in grün, die Chromosomen (DNA) in blau und Kinetochoren in rot.

(Bild gemeinfrei von Afunguy aus der englischen Wikipedia.)

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1 Die Ordnung des Lebenden

Das stochastische Paradigma

Leben und Nichtleben

Das mechanistische Modell des Lebens

Schrödingers Paradoxon der Ordnung

Schlüsselmoleküle des Lebens

Molarer Determinismus

Zellprozesse in der „Mittelwelt“

2 Molekulare Fluktuationen und Interaktionen

Brown’sche Molekularbewegung

Irrfahrt und Diffusion in der Zelle

Diffusionsabhängige Wechselwirkungen

Molekulare Schalter

Rezeptoren und Signalübertragung

3 Wider das Chaos: makromolekulare Komplexe

Der steinige Weg zum Makromolekül

Katalysatoren der Zellprozesse: Enzyme

Proteinkomplexe – die Akteure der Zelle

Brown’sche Motoren: Maxwell’sche Dämonen?

Dynamische Polymerstrukturen

Organisationsprinzipien zellulärer Kernprozesse

4 Vererbung und Zufallsprozesse

Gregor Mendel: Begründer der Genetik

Die Chromosomentheorie der Vererbung

Mitose-Spindel: Selbstaufbau oder Selbstorganisation?

Vom Genotyp zum Phänotyp

Stochastische Genexpression

5 Gen – ein Begriff im Wandel

Rätselhafte Erbeinheiten

Genome und Transkriptome

Genmutationen und Quantenphänomene

Spontane Mutationen: reiner Zufall?

DNA-Korrekturlesen und Reparatur

Genetische Variation durch Rekombination

6 Biologische Variabilität und Entwicklung

Nicht-erbliche Variabilität

Epigenetische Information und Vererbung

Embryogenese, Zellteilung und klonale Variabilität

Entwicklung und Zellschicksal

Modularität und Robustheit molekularer Netzwerke

7 Evolution und Zufall

Darwin, Wallace und das Prinzip der Auslese

Phänotypische Variabilität und Reaktionsnorm

Werden erworbene Eigenschaften vererbt?

Neutrale Mutationen und Hypermutationen

Moderne Synthese, Neutrale Theorie und Gendrift

Evolutionäre Entwicklung (Evo-Devo)

Resümee

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Bildnachweis

Vorwort

Das auf René Descartes zurückgehende Maschinenbild der Lebewesen hat Jahrhunderte überdauert – bis zum heutigen Tag ist eine Vielzahl aus der Mechanik entlehnter Begriffe und Analogien in der Biologie gebräuchlich.

Andererseits hielten die Begriffe Zufall und Wahrscheinlichkeit mit den umwälzenden Theorien der Evolution und der Vererbung im neunzehnten Jahrhundert Einzug in das biologische Gedankengebäude. Doch dies bedeutete nicht das Ende des mechanisch-deterministischen Paradigmas. Das reduktionistische Vorgehen, die Fragmentierung der Zellen und subzellulären Strukturen, und die Anwendung chemischer und physikalischer Untersuchungsmethoden haben zu einer bewundernswerten Aufklärung der molekularen Details vieler Zellprozesse geführt – aber auch zur Dominanz mechanistischer Modelle und deterministischer Erklärungsmuster. Indessen haben systembiologische Untersuchungen zu der Erkenntnis geführt, dass sich die molekularen Kernprozesse der Zelle adäquat durch verschachtelte Netzwerke interagierender Makromoleküle beschreiben lassen – und diese Interaktionen sind stochastischer Natur. Besonders klar tritt dies bei der Genexpression zutage.

Dennoch werden viele zelluläre Prozesse, deren Stochastizität inzwischen erwiesen ist, in den einschlägigen Lehrbüchern nach wie vor als deterministische Vorgänge dargestellt. Das vorliegende Buch soll dazu beitragen, die überholten Sichtweisen zu überwinden. Zur Beleuchtung des stochastischen Paradigmas, vornehmlich in der Zellbiologie, Genetik, Entwicklungs- und Evolutionsbiologie, werden fundamentale Prozesse vorgestellt. Molekulare Interaktionen und Zellprozesse stehen dabei im Vordergrund; die biophysikalischen und biochemischen Grundprinzipien sind Gegenstand der ersten drei Kapitel. Eine umfassende Darstellung ist jedoch weder möglich noch zweckdienlich. Vielmehr wird der Schwerpunkt auf instruktive Prozesse und Modelle gelegt und die Bedeutung grundlegender Ideen und Begriffe aufgezeigt. Hierzu sollen auch die Schilderungen der historischen Hintergründe und Meilensteine experimenteller und begrifflicher Entwicklungen beitragen.

Weiterhin wird der Nachvollziehbarkeit der Fakten und Interpretationen großer Wert beigemessen; zentrale Aussagen werden durch Verweise auf Originalarbeiten, Übersichtsartikel oder anderweitige Quellen belegt und gegebenenfalls durch Anmerkungen im Anhang ergänzt und verdeutlicht.

 

Nicht zuletzt habe ich eine elementare Darstellung angestrebt, insbesondere molekulare Mechanismen werden auf das notwendig erscheinende Ausmaß beschränkt, damit die Leitideen und wesentlichen Prinzipien klarer hervortreten. Einer zu starken Vereinfachung steht allerdings die atemberaubende Komplexität der molekularen Lebensprozesse entgegen. Letztendlich sollen aber auch die mehr oder weniger schwierig erscheinenden Details das vorrangige Ziel dieses Buches unterstützen – die Erhellung des faszinierenden Wechselspiels von Gesetzmäßigkeit und Zufälligkeit im Zellgeschehen.

Hartmut Kuthan

August 2015

1 Die Ordnung des Lebenden

In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe (…)

Johann W. v. Goethe1

Das stochastische Paradigma

Leben ist ein Wunderwerk der Natur, faszinierend und rätselhaft wie kaum ein anderes Naturphänomen.

Wie Gegenpole zu dem geordneten Erscheinungsbild lebender Organismen, den Generation für Generation wiederkehrenden arttypischen Merkmalen und Eigenschaften, erscheinen dagegen „Zufall“ und Chaos: Sinnbilder für Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Unordnung.2 Es ist eine verwirrende Vorstellung, dass unsichere Ereignisse mit der eindrucksvollen Organisation der Organismen, ihren staunenswerten Lebenszyklen, ihrer Anpassungs- und Überlebensfähigkeit in einer sich ständig verändernden Umwelt, im Einklang stehen. Dennoch ist dies der Fall: Mit der Evolutionstheorie von Charles Robert Darwin (1809 - 1882) und Alfred Russel Wallace (1823 - 1913), den Untersuchungen von Gregor Johann Mendel (1822 - 1884) zu den Gesetzmäßigkeiten der Vererbung von qualitativen Merkmalen und von Francis Galton (1822 - 1911) zur statistischen Analyse und Modellierung der Variabilität in biologischen Populationen fanden Zufall und Wahrscheinlichkeit Eingang in die klassische Biologie. Als grundlegend für die genetische Variation in höheren, geschlechtlich fortpflanzenden Organismen erwies sich die zufällige Vereinigung der Geschlechtszellen (Eizellen und Spermien) bei der Befruchtung, die bereits Mendel vorwegnahm. Die dem „Zufall“ überlassene Aufteilung der elterlichen Chromosomen während der Reduktionsteilung der Meiose, die der Bildung der reifen Geschlechtszellen mit einfachem Chromosomensatz vorangeht, und der Nachweis von ungerichteten, bleibenden Veränderungen (Mutationen) der Erbsubstanz (DNA oder RNA) sind weitere hervorstechende biologische Rollen zufälliger Ereignisse.3

Darüber hinaus wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Fülle experimenteller Belege dafür gefunden, dass fundamentale molekulare Zellprozesse stochastischer Natur sind, etwa die Verdopplung und Rekombination der DNA oder die als Genexpression bezeichneten Prozesse, die zur Proteinbiosynthese hinführen.4 Wir können daher von einem Aufstieg des stochastischen Paradigmas in der Biologie sprechen.

Doch verfügen wir über geeignete Bezeichnungen und Begriffe, um Lebensvorgänge auf der Zell-, Zellverbands- und Organismenebene angemessen zu beschreiben? Können insbesondere Maschinen, mit ihren Zahnrädern, Achsen, Hebeln und Bolzen, auch weiterhin bestehen? Benötigen wir mechanische und andere bildhafte Analogien? Tatsächlich sind Metaphern in der Wissenschaftssprache allgegenwärtig. Ohne Analogien und begriffliche Metaphern kommen wir offenbar nicht aus.5

Leben und Nichtleben

Biologie ist die Wissenschaft vom Leben, so die wörtliche Übersetzung. In dieser Definition steckt ein vieldeutiges Wort – Leben. Im eingeschränkten Sinn ist lebend oder lebendig das auszeichnende Charakteristikum von bestimmten Naturobjekten – den Lebewesen oder Organismen. Weniges fasziniert die Menschen so stark wie die Frage, wie sich lebende und nicht-lebende Objekte voneinander unterscheiden. Doch bis heute gibt es keine allgemein anerkannte Definition von lebend. In modernen (Lehr-)Büchern der biologischen Wissenschaften sucht man in der Regel vergebens nach einer Begriffsbestimmung von lebend oder Lebewesen. Aber die Frage, wie biologisches Leben definiert werden kann, gewann nicht zuletzt durch die Suche nach extraterrestrischen Lebensformen an Bedeutung.6 Im Jahre 2002 nahm sich der bekannte Biochemiker Daniel E. Koshland Jr. eines Aspektes dieser fundamentalen Frage an. Er formulierte sieben Säulen, auf denen lebende Systeme basieren; gemeint sind „wesentliche Prinzipien – thermodynamische und kinetische –, durch welche ein lebendes System operiert“:

 Programm – ein organisierter Plan, der in der DNA implementiert ist, welcher die Bestandteile und ihre kinetische Wechselwirkungen beschreibt;

 Improvisation – um das Überleben zu sichern, kann eine Programmänderung nötig werden, die durch einen Mutationsprozess plus Selektion erreicht werden kann;

 Kompartimentierung – lebende Organismen sind von einer Hülle (Haut), Zellen von einer Membran umgeben.

 Energie – [das lebende] System ist nicht im Gleichgewicht, sondern ein thermodynamisch offenes Stoffwechselsystem, im Energie- und Stoffaustausch mit der Umwelt;

 Regeneration – Ersatz von chemischen Stoffen durch Diffusion oder aktiven Transport in das Lebewesen; Resynthese der Bestandteile und Regeneration durch Zellteilung und Fortpflanzung;

 Anpassungsfähigkeit – notwendige fundamentale Verhaltensantwort (Rückkopplung) – Teil des Programms, zur Sicherung des Überlebens;

 Abschottung – ungestörter Ablauf von simultan ablaufenden Reaktionen in winzigen Volumina der lebenden Zelle, ermöglicht durch die Spezifität der Enzyme; Spezifität auch bei Interaktionen der DNA und RNA.7

Diese Charakterisierung lebender Organismen ist dem Reduktionismus verpflichtet. Es gibt jedoch keinen Zweifel: Biologisches Leben ist ein emergentes Phänomen, das an die strukturelle und funktionelle Lebenseinheit – eine intakte Zelle – gebunden ist; Zellorganellen wie der Zellkern und molekulare Zellbestandteile sind unbelebt. Im einfachsten Fall, bei Einzellern, repräsentiert eine einzige Zelle einen Organismus. Die Entwicklung neuer Individuen, einschließlich des Menschen (Homo sapiens), geht immer von einer Zelle aus; neue Zellen entstehen nicht von Grund auf neu, sondern durch Zellteilung. Dieser Grundpfeiler der Zell- und Entwicklungsbiologie wurde bereits 1852 von Robert Remak (1815 - 1865) klar erkannt.8

Die erdgebundenen Lebensformen, die einzigen, die wir kennen, sind historisch entstanden – in einem circa 3,8 Milliarden Jahre andauernden Evolutionsprozess, der, wie die kosmologische Entwicklung, keineswegs abgeschlossen ist. Zu den herausragenden Ergebnissen der molekularen Evolution gehört die Bildung von Makromolekülen wie Nukleinsäuren und Proteinen mit selbstreplikativen und katalytischen Eigenschaften und die Entstehung von reproduktionsfähigen Zellen. Entscheidende Etappen auf dem Weg zu komplexer aufgebauten Lebewesen waren die Übergänge von der prokaryotischen zur eukaryotischen Zelle und vom einzelligen zum mehrzelligen Organismus. Der Reproduktion von Bakterien und eukaryotischen Zellen durch Zellteilung geht die Verdopplung der DNA voraus.

Das mechanistische Modell des Lebens

Wir kommen nun zu der Frage, was denn lebende Organismen von Maschinen unterscheidet. Es war Immanuel Kant (1924 - 1804), der 1790 in seinem Werk „Kritik der Urteilskraft“ eine scharfsinnige Analyse vornahm. Kant führte aus, dass ein Naturprodukt (Lebewesen) „als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“ anzusehen sei, in dem „die Teile desselben sich dadurch zur Einheit des Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.9

In heutiger Fassung: Es sind komplexe Formen der zirkulären Kausalität und die autonome Selbstorganisation, welche die selbstreproduktiven Zellen und mehrzelligen Organismen von Maschinen unterscheiden.10

Dem Maschinenbild der Lebewesen erteilt Kant eine Absage, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt:

In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der anderen, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung der anderen; ein Teil ist zwar um des anderen willen, aber nicht durch denselben da (…) Daher bringt auch so wenig, wie ein Rad in der Uhr das andere, noch weniger eine Uhr andere Uhren hervor, so daß sie andere Materie dazu benutzte (sie organisierte); (…) oder bessert sich etwa selbst aus, wenn sie in Unordnung geraten ist: welches alles wir dagegen von der organisierten Natur erwarten können. – Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine (…)11

Kants erhellende Ausführungen zum Maschinenbild lebender Organismen sind von der Mehrzahl der Biologen mehr als ein Jahrhundert lang ignoriert worden. Rudolf Virchow (1821 - 1902) verkündete Mitte des 19. Jahrhunderts, im Einklang mit der vorherrschenden antivitalistischen Position, die mechanistische Auffassung des Lebens mit den Worten:

Leben ist nur eine besondere Art der Mechanik, und zwar die allerkomplizierteste Form derselben (…)12

Anderthalb Jahrhunderte später beobachtete der Physiker Paul Davies:

In völligem Gegensatz zum Vitalismus steht die mechanistische Theorie des Lebens. Ihr zufolge sind lebende Organismen komplexe Maschinen, die nach den bekannten Gesetzen der Physik funktionieren (…) Die mechanistische Theorie des Lebens macht vom Maschinenjargon freizügig Gebrauch. Lebende Zellen werden als <<Fabriken<< bezeichnet, die letztlich von DNA-Molekülen >>gesteuert<< werden; diese organisieren die <<Montage<< von molekularen >>Grundeinheiten<< zu größeren Strukturen nach einem >>Programm<<, das verschlüsselt in der molekularen Apparatur steckt.13

Daviesʼ Beobachtung könnte, mit Ausnahme der umstrittenen Steuerung des Zellgeschehens durch ein „Programm“, auch als aktuelle Bestandsaufnahme problemlos durchgehen.

Mechanistische Erklärungen der Lebensvorgänge lassen sich bis zu René Descartes (1596 - 1650) zurückverfolgen. Im 18. und 19. Jahrhundert bildete die mechanistische Auffassung der Lebensprozesse ein Gegengewicht zur Annahme einer Lebenskraft (lat. vis vitalis). Vitalistische Ansichten vertraten im 19. Jahrhundert herausragende Wissenschaftler wie der Physiologe Johannes P. Müller (1801 - 1858), der Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur (1822 - 1895) und später der Entwicklungsphysiologe und Philosoph Hans A. Drisch (1867 - 1941). Eine antivitalistische, mechanistische Gegenposition vertraten Justus von Liebig (1803 - 1873), Hermann von Helmholtz (1821 - 1894) und der mit diesem befreundete Physiologe Emil H. du Bois-Reymond (1818 - 1896) sowie Jacques Loeb (1859 - 1924); Letzterer vertrat eine extrem mechanistische Auffassung des Lebens.14

Damit drängt sich die Frage auf, was denn unter Maschine, und vor allem unter Mechanismus, zu verstehen ist. Beide Begriffe – oder vielmehr Metaphern – beherrschen seit den triumphalen Erfolgen der Molekularbiologie in den 1950er und 1960er Jahren bis in die Gegenwart die biochemischen und zellbiologischen Erklärungsmuster. Für den Begriff Mechanismus finden sich in Nachschlagewerken vielerlei Bedeutungen, von denen uns vor allem zwei interessieren. Einerseits bezeichnet Mechanismus die Anordnung verbundener Teile in einer Maschine; diese Bedeutung veranschaulicht den engen, wechselseitigen Zusammenhang der Begriffe Maschine und Mechanismus.15 „Mechanismus“ hat außerdem die Bedeutung einer Folge von aufeinanderfolgenden Schritten in einer (bio-)chemischen Reaktion – geläufig als „Reaktionsmechanismus“ oder verallgemeinert als „molekularer Mechanismus“.

 

Überdies sprechen biologische Fachtexte von Mechanismen der Vererbung, der Befruchtung, der Meiose, Mitose und sogar von Mechanismen der Evolution.

Maschinen können äußerst kompliziert sein, sind sie auch komplex? Und ist das Adjektiv kompliziert, das Rudolf Virchow in der Steigerung „allerkomplizierteste Form“ verwendet, geeignet, die vernetzten molekularen Prozesse einer Zelle zu beschreiben? Betrachten wir eine modular aufgebaute mechanische Maschine, etwa ein Uhrwerk. Ein Uhrwerk kann in seine Teile zerlegt und wieder zusammengesetzt werden: Uhren sind „nur“ sehr kompliziert – nach einem detaillierten Konstruktionsplan aufgebaut; ihre Funktionsweise kann durch das Studium der einzelnen Teile verstanden werden.

Komplexe Systeme sind hingegen durch emergente Eigenschaften charakterisiert. Unter Emergenz versteht man Eigenschaften des Gesamtsystems, welche nicht aus den Eigenschaften der Teilsysteme ableitbar sind, wie die Eigenschaft „lebend“ der integrierten Zelle aus den Eigenschaften der isolierten Organellen (Zellkern, Mitochondrien usw.) und des Zytoplasmas. Hinzu kommt, dass schon die genannten Teilsysteme der Zelle, supramolekulare Strukturen und aus mehreren Komponenten bestehende Makromoleküle eine hochkomplexe Ordnung und emergente Eigenschaften aufweisen. Es ist offensichtlich: Emergenz stellt eine neuzeitliche Variante des aristotelischen „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ dar. Lebend ist sicherlich diejenige emergente Eigenschaft, welche nach wie vor das faszinierendste Rätsel der Biologie darstellt.16 Dies führt uns weiter zu der Frage nach der Entstehung und dem Wesen der Ordnung lebender Systeme.

Schrödingers Paradoxon der Ordnung

Im Jahre 1944 erschien „What is Life?“ von Erwin Schrödinger. Als Mitbegründer der modernen Quantentheorie Mitte der 1920er zählt Schrödinger zu den Physikern ersten Ranges. So ist es nicht allzu verwunderlich, dass seine Vorträge, und das hierauf basierende Buch, über die rätselhaften Prinzipien der biologische Ordnung, die molekulare Natur und die Funktionsweise der Gene auf große Resonanz stießen.17 Aber wieso hält ein theoretischer Physiker eine Vorlesungsreihe über grundlegende Fragen der Biologie und publiziert seine spekulativen Ideen anschließend auch noch? Das lässt auf ein tiefes Interesse schließen, ein intellektuelles Bedürfnis des „Homo universalis“ Schrödinger, das ihn drängte, die im Vorwort geäußerten Bedenken, sich über eine fachfremde Thematik zu äußern, beiseite zu schieben. Tatsächlich war der 1887 in Wien geborene Physiker seit seiner Jugend mit grundlegenden Theorien der Biologie, einschließlich Darwins Evolutionstheorie, vertraut. Dies verdankte er jedoch nicht dem Gymnasialunterricht, sondern seinem Vater. Rudolf Schrödinger war ausgebildeter Chemiker – und leidenschaftlicher Botaniker; seine Kenntnisse in der Botanik gingen weit über den Amateurstatus hinaus. Erwin Schrödinger wurde so nach eigenem Bekunden bereits in jungen Jahren ein begeisterter Anhänger des Darwinismus, und blieb dies sein Leben lang.18 Zusätzlichen Ansporn, sich intensiver mit biologischen Themen zu befassen, bot eine Abhandlung über die Natur der Gene und der Genmutationen, verfasst von dem Genetiker Nicolaj W. Timoféeff-Ressovsky (1900 - 1981) und den Physikern Max Delbrück (1906 - 1981) und Karl G. Zimmer (1911 - 1988). Ein Exemplar dieser Arbeit gelangte auf Umwegen in Schrödingers Hände.19

Einem der drei Autoren, dem fast 20 Jahre jüngeren theoretischen Physiker Max Delbrück, war Schrödinger gegen Ende seiner Berliner Zeit – als Nachfolger von Max Planck (1858 - 1947) auf dem Lehrstuhl für theoretische Physik – im Jahre 1933 in Berlin wiederholt begegnet. Und als Schrödinger 1943 in Dublin die wegweisende „Drei-Männer-Arbeit“, die wegen ihres grünen Umschlags auch als „grünes Pamphlet“ bezeichnet wurde, in die Hände bekam, war Max Delbrück längst zur Biologie gewechselt.20

Die „Drei-Männer-Arbeit“ beflügelte Schrödinger, er ließ seine anderen Projekte vorübergehend ruhen und widmete sich intensiv der mysteriösen Stabilität der Gene und deren erbliche Veränderungen. Da er bereits zuvor begonnen hatte, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, kam er schnell voran.

Uns interessiert hier in erster Linie Erwin Schrödingers Paradoxon der molekularen Ordnung, das er in den geordneten Abläufen der Organismen zu erkennen glaubte. In seinem kurzen, zum Klassiker avancierten, Buch betonte Schrödinger einleitend, dass es ihm um einen einzigen Gedanken gehe – „eine kleine Erklärung zu einer großen und bedeutsamen Frage“:

Wie lassen sich die Vorgänge in Raum und Zeit, welche innerhalb der räumlichen Begrenzung eines lebenden Organismus vor sich gehen, durch die Physik und die Chemie erklären?21

Schrödinger wusste, dass Chromosomen die materiellen Träger der Vererbung sind, und er entwickelte die geniale Idee eines Codes, den er in der Chromosomenstruktur verwirklicht sah. Doch ignorierte er die damals längst bekannten Biokatalysatoren, die Enzyme, die er als wesentliche Protagonisten der „Exekutive“ in der Entwicklung der Organismen hätte in Betracht ziehen können. So kam er zu der frappierenden Auffassung, dass die Chromosomen nicht nur die Träger eines vollständigen Codes (genauer: zweier Sätze desselben) sind, sondern:

Die Chromosomenstrukturen (…) sind zugleich Gesetzbuch und ausübende Gewalt, Plan des Architekten und Handwerker des Baumeisters.22

Ein gravierender Irrtum. Doch dieser führte zu einem interessanten Fragenkomplex und stimulierenden Ideen zur Ordnung des Zellgeschehens.

Die irrigen Vorstellungen über die Funktion der Chromosomen stellten Schrödinger vor ein Dilemma: Die Chromosomenstruktur, das heißt die von ihm postulierte „hochorganisierte Atomgruppe“, die „das leitende Prinzip in jeder Zelle“ verkörpere, ist nur in einem Exemplar oder – in diploiden Zellen – zwei Exemplaren vorhanden.

Was bedeutete diese Tatsache für die in den Organismen verwirklichten molekularen Ordnungsprinzipien? Erwin Schrödinger war nicht nur Quantenphysiker, sondern aufgrund zahlreicher eigener Untersuchungen auch ein ausgewiesener Experte der statistischen Physik. Wie sollte er die beiden Beobachtungstatsachen zusammenführen, dass die in „mustergültiger Ordnung“ ablaufenden Vorgänge durch eine „einzigartige Atomverbindung“ verursacht werden, die nur in einer Kopie oder doppelt vorhanden ist? Die bekannten statistischen Gesetze der Physik beruhen, wie er anschaulich auseinandersetzt, auf dem Zusammenwirken einer ungeheuer großen Zahl von Atomen oder Molekülen. Einzelne Atome oder Moleküle zeigen nur ein regelloses (chaotisches) Verhalten, erst durch das Zusammenwirken einer großen Anzahl von Atomen oder Molekülen treten Gesetzmäßigkeiten in Erscheinung.23 Er musste daher einen neuen „Mechanismus“ postulieren, den er mit Ordnung aus Ordnung umschrieb. Schrödinger fasste seine Überlegungen zur geordneten Entfaltung der befruchteten Eizelle zum vollentwickelten Organismus wie folgt zusammen:

Offenbar gibt es zwei verschiedene >>Mechanismen<< zur Erzeugung geordneter Vorgänge, den >>statistischen Mechanismus<<, der Ordnung aus Unordnung erzeugt, und den neuen Mechanismus, der <<Ordnung aus Ordnung<< schafft.24

Der neue Mechanismus sei eine besondere Art Uhrwerk, dessen Zahnräder feinste Meisterstücke darstellen, vollendet nach den Leitprinzipien der Quantenmechanik. Die Ähnlichkeit zwischen Uhrwerk und Organismus beruhe darauf,

daß der Organismus ebenfalls in einem festen Körper verankert ist – dem aperiodischen Kristall, der die Erbsubstanz bildet und der Unordnung aus Wärmebewegung weitgehend entzogen ist.25

Bei diesen spekulativen Vorstellungen wurden Chemie und Biochemie, speziell die zellulären Makromoleküle, völlig ignoriert, doch sie befeuerten das Interesse an der Natur der Gene.