Kitabı oxu: «Hilferuf aus dem Folterkeller», səhifə 2

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5.

Alles Weitere ist eine Sache von drei Tagen. Lutz Seifert ist bereits vor der Freilassung der Entführten durch seine Anrufe bei dem Sohn von Christa S. ins Visier der Ermittler geraten. Eine Fangschaltung hat zu ihm geführt. Am Morgen des 17. September 1991 wird er von einem Mobilen Einsatzkommando vor seinem Haus in Hamburg-Rahlstedt festgenommen.

Es verspricht, ein schöner Tag zu werden. Die Sonne hat sich gerade durch den Morgendunst gekämpft. Die Blicke der Nachbarn am Dompfaffenweg aber richten sich nicht auf den Himmel, sondern auf die Polizeibeamten in ihren Kampfanzügen. Noch weniger Interesse für den schönen Spätsommermorgen vermag Seifert aufzubringen.

Anfangs hören die Polizisten nur seine Stimme. »Was soll denn der Quatsch?«, ruft jemand hinter dem Haus. »Verschwindet hier! Haut ab!« Die Stimme klingt so piepsig, dass einer der beteiligten Polizisten meint, dass es sich um eine Frau handeln muss. Vielleicht die ominöse Rechtsanwältin, die die Lösegeldforderung übermittelt hat?

Aber die hohe Stimme, die Kurt Kloeßer so bekannt vorgekommen war, gehört Lutz Seifert selbst. Als Karla Sommer später davon erfährt, fasst sie sich an den Kopf: »Wären wir doch nicht so auf eine Frau fixiert gewesen! Dann hätten wir Kloeßer natürlich nicht nur Frauenfotos, sondern auch die Fotos von Männern aus seinem Bekanntenkreis vorgelegt.«

Doch für die Kriminalkommissarin ist der Fall zunächst abgeschlossen. Nur von Kollegen erfährt sie nach der Festnahme, dass Seifert zwar alles abstreitet, aber so gut wie überführt ist. Auch Christa S. hat dazu beigetragen. Die Entführte hat nämlich die Aufkleber von den Äpfeln, die Seifert ihr in den drei mal drei Meter großen Raum hinter dem Atombunker brachte, heimlich an die Wand hinter ihrem Feldbett geklebt. Um Spuren zu hinterlassen. Als die Ermittler das Kellerverlies inspizieren, entdecken sie die Obstaufkleber sofort. Damit ist zumindest bewiesen, dass sie in dem Raum war – mag Seifert auch behaupten, sie sei ihm freiwillig gefolgt.

So manche Frage bleibt weiter ungeklärt. Immerhin kristallisiert sich allmählich heraus, warum der Beschuldigte Christa S. freiließ, ohne das von ihm verlangte Lösegeld einzustreichen. Seine Frau sei schon vor einer Woche überraschend von der Insel Sylt zurückgekehrt, weil ein dort geplantes Fortbildungsseminar abgesagt worden sei, verrät der Festgenommene. Das habe alles komplizierter gemacht. Er habe zum Beispiel seine Frau davon abhalten müssen, in den Atombunker zu gehen, der auch als Weinkeller genutzt werde. Sie sei zwar sowieso nur selten in den Bunker gegangen, aber zur Sicherheit habe er jetzt auch noch eine Lampe dort unten zerschlagen. »Dann habe ich ihr eingeschärft, dass sie auf keinen Fall in den Keller gehen soll. Weil die Beleuchtung kaputt ist. Auch meiner Tochter habe ich das gesagt.«

Ein gutes Gefühl aber habe er trotzdem nicht gehabt. Sein Astrologe habe ihn darauf hingewiesen, dass die Sterne nicht günstig für ihn stünden. Vor allem aber hatte Seifert wohl mitbekommen, dass die Polizei ihm auf den Fersen war.

Der Festgenommene ist dem Anschein nach bisher nie mit Straftaten in Verbindung gebracht worden. Lutz Seifert entstammt buchstäblich der Mitte der Gesellschaft. Der Kürschner war – nach seiner Gesellenzeit bei Kloeßer – in das Pelzgeschäft seiner Mutter eingestiegen und hatte damit Kontakt zu Kunden und Berufskollegen aus den gehobenen Kreisen der Hansestadt. Ein Sparkassenfilialleiter, ein Arzt und ein Kriminalbeamter zählten zu seinen Weggefährten. Als der Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi 1983 Seiferts Atomschutzbunker einweihte, empfing er vermögende Freunde und Kunden mit Sekt und Häppchen.

Die Pelzhandlung blieb aber im Besitz seiner Mutter. Die alte Dame weigerte sich bis zuletzt, ihrem Sohn das Geschäft zu übertragen. Klara R. lebte weiterhin in ihrer Wohnung oberhalb des Ladens und ließ sich von ihrem Lutz wenn irgend möglich täglich über den Fortgang der Geschäfte unterrichten. Nicht selten aber musste der Kürschnermeister seine Berichte ein bisschen schönen, um sich nicht den Zorn seiner Mutter zuzuziehen. Denn nach und nach war es mit dem Pelzhandel abwärts gegangen. Seifert machte dafür unter anderem die Hetzkampagne der Grünen verantwortlich, die ganz in der Nähe seines Pelzgeschäfts in der Wandsbeker Chaussee ihre Hamburger Geschäftsstelle etabliert hatten.

Als der Betrieb bereits auf den Ruin zusteuerte, brannte das Pelzgeschäft aus. Manches deutete auf Brandstiftung hin, auf versuchten Versicherungsbetrug, aber das ließ sich nicht beweisen.

Seifert sah sich gezwungen, das Pelzgeschäft aufzugeben, und geriet dadurch offenbar in eine seelische Krise. Der Kürschner litt an Depressionen, ließ sich von einem Psychiater behandeln, unterzog sich einer Kur in der psychosozialen Klinik in Bad Salzuflen.

Am wohlsten fühlte er sich in dieser Zeit offenkundig im Wasser. Als aktives Mitglied eines Hamburger Schwimmvereins pflegte er Kontakt zu Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen – und als Bademeister in den Alster-Schwimmhallen nutzte er sein Hobby auch zu einem kleinen Nebenverdienst. Nebenbei werkelte er an seinem Ferienhaus in Basedow bei Lauenburg. Im Sommer lud er oft seine Freunde aus dem Schwimmverein und Nachbarn zum Grillen ein. Er war beliebt, galt als Stimmungskanone in der Ferienhaussiedlung am Lanzer See – als trinkfester Schützenfestbesucher und Geschichtenerzähler. Manchmal zwar ziemlich poltrig, rüde und ungehobelt, allgemein aber doch sehr nett und hilfsbereit. Ein echter Kumpeltyp: locker, umgänglich und nie um einen Spruch verlegen.

Ganz ähnlich sahen ihn auch seine Nachbarn und Bekannten in Hamburg. Obwohl er oft mit fettigen Haaren und in abgewetzter Lederjacke herumlief, gelang es dem kräftig gebauten Mann mit dem Schnauzbart, die Menschen für sich einzunehmen. Vor allem bei Frauen hatte er einen Schlag. Manche fanden es zwar nicht so toll, wenn er sie am Po oder Busen betatschte und seine versauten Sprüche klopfte, doch mit seiner (vermeintlich) offenen und herzlichen Art schaffte er es meist, das Eis zum Schmelzen zu bringen. Nie war es bei ihm langweilig.

Um seine Ehe indessen soll es in der letzten Zeit nicht mehr so gut bestellt gewesen sein. Es hieß, das Ehepaar Seifert lebe nebeneinander her. Gleichwohl galt er als vorbildlicher Vater. Er habe viel Zeit mit seiner Tochter Andrea verbracht, wurde gesagt, sei sogar mal mit ihr allein nach Mallorca in Urlaub gefahren.

Für Andrea brach eine Welt zusammen, als ihr Vater an jenem sonnigen Septembertag festgenommen wurde. Die Zwölfjährige hatte gerade Bundesjugendspiele, als in der Schule Polizeibeamte in Zivil auftauchten.

6.

Karla Sommer verfolgte die Nachrichten über den Festgenommenen nur noch aus der Ferne. Sie nahm wieder ihre bisherige Arbeit in einer Sonderkommission auf, ermittelte gegen Justizbeamte in der Nachlassverwaltung. In den Zeitungen war von »Leichenmafia« die Rede. Die Justizangestellten sollten sich in großem Stil an Verstorbenen bereichert haben: Testamente gefälscht oder unterschlagen, Angehörigen manipulierte Bestatterrechnungen vorgelegt, den Schmuck der Toten an sich gebracht haben. Die Ermittlungen in Sachen »Leichenmafia« erforderten ein hohes Maß an akribischer Recherche. Karla Sommer hatte Rechnungen und Buchungsabläufe zu durchleuchten und war glücklich, auf diese Weise jeden Tag etwas dazuzulernen.

Die Polizeilaufbahn hatte für die Hamburgerin überhaupt erst im Alter von 31 Jahren begonnen. Ihr Sohn, den sie nach der Scheidung allein aufzog, war damals gerade zehn. Zuvor war die erfolgreiche Leichtathletin Sportlehrerin gewesen – auf der Basis von Zeitverträgen hatte sie an verschiedenen Schulen Kinder und Jugendliche unterrichtet – seit 1971 an der Hamburger Polizeischule außerdem angehende Ordnungshüter. Die wenigen Polizeischülerinnen mussten ihre Leibesübungen in dieser Zeit noch getrennt von ihren männlichen Kollegen absolvieren. Und was die jungen Frauen ihr aus dem Polizeialltag berichteten, faszinierte sie. So entwickelte die alleinerziehende Mutter wachsendes Interesse an der Polizeiarbeit und entschloss sich 1978, eine Ausbildung zur Schutzpolizistin zu beginnen.

Frauen hatten in dieser Zeit bei der Polizei noch Seltenheitswert. Bei ihrer Einstellung standen 375 männlichen Polizeischülern nur fünf weibliche gegenüber.

Hamburg, die Stadt, in der sie als Einzelkind geboren und aufgewachsen war, wurde ihr Einsatzgebiet. Wie ihre jungen Kollegen und Kolleginnen erlebte sie ihre ersten Bewährungsproben bei Einsätzen gegen die Hausbesetzerszene aus der Hafenstraße. Nach der Grundausbildung für den mittleren Dienst schloss sich eine Zusatzausbildung für den Dienst bei der Kriminalpolizei an. 1981 wechselte Karla Sommer schließlich zur »Sitte« und widmete sich Delikten wie Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Kindesmissbrauch. Neun Jahre blieb sie in dieser Abteilung für Sexualdelikte, wo die Opfer vorwiegend weiblich sind. Die Frauenquote der Beschäftigten liegt hier bei fünfzig Prozent – und ist damit um ein Vielfaches höher als in anderen Polizeibereichen.

»Die Zeit bei der Sitte hat mich sehr geprägt. Da habe ich gelernt, zu unterscheiden, ob einer die Wahrheit sagt oder ob er lügt. Ja, da hatten wir nicht selten mit Falschaussagen zu tun. Mit Frauen, die ihren Männer eine Vergewaltigung angedichtet haben, um sie loszuwerden, aber auch mit echten Vergewaltigern, die versuchten, sich herauszureden und ihre Opfer unglaubwürdig zu machen. Man hat gelernt, auf überprüfbare Details zu achten, auf Dinge, die man sich nicht aus den Fingern saugen kann. In dieser Zeit habe ich viele Glaubwürdigkeitsanalysen gelesen. Das ist mir später zugute gekommen.«

Erfahrungen ganz anderer Art sammelte die Polizistin, als sie 1990 zur Soko »Leichenmafia« abgeordnet wurde. Diese Arbeit nahm sie auch wieder auf, als die Angehörigenbetreuung im September 1991 nach einer Woche beendet war.

Am 1. Januar 1992 begann für die sportliche Polizistin, die inzwischen ein zweites Mal geheiratet hatte, ein neues Kapitel in ihrer Berufslaufbahn. Sie wechselte zur Mordkommission – bis dahin eine reine Männerdomäne.

Mit dem Entführungsfall Christa S. wurde Karla Sommer erst wieder konfrontiert, als vor dem Landgericht im Mai 1992 der Prozess gegen Lutz Seifert begann. Die Polizeibeamtin wurde als Zeugin geladen. Eigentlich nichts Besonderes, ein üblicher Gerichtstermin. Aber sie sollte sich täuschen.

7.

Karla Sommer schildert dem Gericht detailliert, was das Entführungsopfer ihr in ihrem Auto berichtet hat. Im scharfen Widerspruch dazu stehen die Aussagen des Angeklagten. Seifert bestreitet fast alles, was zu seinen Lasten ausgelegt werden könnte. Christa S. sei ohne Gewaltanwendung mit ihm in den Keller gegangen, behauptet er. Fast klingt es, als habe die Verwaltungsangestellte gemeinsame Sache mit ihm machen wollen.

Bei der geforderten Lösegeldsumme in Höhe von 300 000 Mark habe es sich um »Schwarzgeld« gehandelt, wird er später sagen. Kloeßer habe das Geld unversteuert eingestrichen und musste daher damit rechnen, selbst belangt zu werden, wenn er sich an die Polizei wende. Deshalb habe er gehofft, die Angelegenheit mit seinem früheren Chef direkt zu klären, sozusagen von Mann zu Mann.

Bei anderer Gelegenheit behauptet der Angeklagte, die Mafia habe ihn zu der Lösegeldforderung gezwungen. Das mutet zwar alles reichlich abenteuerlich an, aber Seifert trägt seine Darstellungen mit seiner bisweilen piepsig klingenden Stimme so selbstbewusst und eloquent vor, dass sie den Anschein von Plausibilität vermitteln.

Überzeugend klingt es auch, wenn er darlegt, wie rücksichtsvoll er seine Gefangene angeblich behandelt hat. Am Abend des ersten Tages der Entführung habe er zum Beispiel die Handfesseln der Frau gelöst, so dass sie die Nacht ungefesselt im Bunker verbringen konnte. Am nächsten Morgen habe er dann zwar wieder eine Hand an einen Pfosten des Etagenbettes gefesselt, aber auch den Bewegungsradius der Frau vergrößert, indem er die Handschelle mit einer kleinen Kette verlängerte. Zudem habe er Christa S. eben auch mit Kaffee und Brötchen versorgt und besänftigend auf sie eingeredet. Als er ihr von dem Telefonat mit Kloeßer berichtete, habe sie angenommen, dass ihr Freund nicht bereit sei, Geld für ihre Freilassung zu zahlen. Das habe die Frau schon sehr beunruhigt.

Das von Seifert zur Schau gestellte Mitgefühl, das sich teilweise mit den Aussagen der Entführten deckt, bleibt vor Gericht nicht ohne Wirkung. Auch seine Angaben zur eigenen Person beeindrucken die Strafkammer. Der frühere Pelzhändler vermittelt den Eindruck, weitgehend ohne eigene Schuld tief gestürzt zu sein. Wirtschaftlich und seelisch. Aber der Angeklagte sieht nicht aus, als käme er aus der Gosse. An jedem Prozesstag erscheint er in Anzug und mit Krawatte. Man könnte ihn immer noch für einen angesehenen Geschäftsmann halten. Eine vornehme Erscheinung. »So fein sah er sonst nicht aus«, sagen Prozessbesucher, die ihn früher meist in seiner abgewetzten Lederjacke gesehen haben. »So schick kenn ich den gar nicht.« Was aber vielen ebenso auffällt, sind seine stechenden Augen – Augen, die einen zu durchbohren scheinen.

Die Rede ist auch von den Pornofotos, die Seifert der Entführten vorlegte – jene Bilder von einer gefesselten nackten Frau, die Christa S. so schockiert hatten. Doch der Angeklagte spricht von üblichen Sadomaso-Aufnahmen und macht kein Hehl daraus, dass er eine Vorliebe für SM-Sex hat. Und Christa S. berichtet zwar, dass die Fotos sie in Angst und Schrecken versetzten, es ihr aber gelungen sei, ihre Angst zu verbergen. Äußerlich kühl und unbeeindruckt habe sie ein anderes Thema angesprochen. Dabei sei ihr zugute gekommen, dass sie im Rahmen ihrer beruflichen Fortbildung Kurse über Gesprächsführung und Verhaltenstraining besucht habe. Offenbar mit Erfolg, denn Seifert habe die Fotos zur Seite gelegt, ihre Handschellen gelöst und wieder von einer dieser Mafia-Geschichten gesprochen.

Eher beiläufig kommt im Gerichtssaal auch das mysteriöse Verschwinden Hildegard Kloeßers zur Sprache. Seifert kannte selbstverständlich die Frau seines früheren Chefs. Dass er sich bei seiner Lösegeldforderung als Anwältin der Vermissten ausgegeben hat, wird vom Gericht als Teil seiner Einschüchterungsstrategie gewertet, weiter aber nicht groß beachtet. Der Angeklagte wusste ja, dass Kloeßer seine Frau vermisste, und niemand in der Strafkammer kommt auf die Idee, ihn dafür verantwortlich zu machen. Darum geht es nicht in diesem Verfahren.

Doch eine siebzig Jahre alte Dame im Zuschauerraum horcht auf, als von der Vermissten die Rede ist. Das alles erinnert Margarete Röhl an ihre eigene Tochter: an Annegret Bauer, die am 6. Oktober 1988 ohne jede Vorwarnung verschwunden ist. Unter ähnlichen Umständen wie Hildegard Kloeßer. Erst 31 Jahre war sie alt.

Wie bei der Frau des Pelzhändlers hatten auch die Angehörigen Annegrets Briefe und Karten erhalten, in denen die junge Frau mitteilte, dass sie einen Mann kennengelernt habe, ein neues Leben zu führen gedenke und in die große weite Welt reisen wolle. Als ihre Mutter bei der Polizeiwache in Wandsbek eine Vermisstenmeldung erstattete, zuckten die Beamten nur bedauernd die Achseln: »Ihre Tochter ist erwachsen und kann selbst entscheiden, wo und mit wem sie leben möchte. Da können wir leider nichts machen.« Dass alles so unbegreiflich sei, ändere nichts daran.

Margarete Röhl äußerte auch den Verdacht, dass Seifert möglicherweise etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun haben könnte. Der Kürschner war mit dem Ex-Mann der Vermissten eng befreundet und auch mit Annegret gut bekannt. Es sah sogar aus, als laufe er der jungen Frau hinterher, die sich dem Schwimmsport ebenso verschrieben hatte wie er selbst. Annegret Bauer dagegen konnte dem derben Pelzhändler nicht so viel abgewinnen. Sie ließ ihn offenbar abblitzen. Gleichwohl stand sie vor ihrem Verschwinden mit Seifert in Kontakt. Ihre Mutter hatte den Kürschner daher in seinem Geschäft aufgesucht und gefragt, ob er wisse, was mit Annegret sei. Um eine Antwort war er wie üblich nicht verlegen gewesen, hatte wortreich darüber schwadroniert, dass Annegret ganz bestimmt wisse, was sie tue, kein Grund zur Sorge bestehe, er aber auf jeden Fall seine Augen aufhalten werde. Jederzeit könne Annegrets Mutter zu ihm kommen, ohne Hemmungen.

Sprüche. Doch manche Sprüche Seiferts stimmten die Witwe nachdenklich – und irgendwie erinnerte sie die Redeweise des Kürschners auch an den Stil der Briefe und Karten, die da von ihrer Tochter kamen. Der Polizeibeamte in Wandsbek aber schüttelte nur mitleidig den Kopf, als sie dessen Namen ins Spiel brachte. »Lutz Seifert? Ich bitte Sie! Warum sollte der so was machen?«

Der Kürschnermeister war schließlich ein angesehener Bürger – kontaktfreudig und mit guten Verbindungen. Immer einen munteren Schnack auf den Lippen. Ein »Sabbelbüddel«, wie die Hamburger sagen. Doch Margarete Röhl wurde dieses ungute Gefühl nicht los. Vor allem blieb es für sie unbegreiflich, warum Annegret einfach so mir nichts, dir nichts von der Bildfläche verschwunden war. Das passte einfach nicht zu ihr. Mehr als drei Jahre war sie nun schon abgetaucht – eine Zeit quälender Ungewissheit, durchmischt von Hoffen und Bangen.

Am Muttertag des Jahres 1992 entdeckte Margarete Röhl schließlich in der Zeitung einen Bericht über den bevorstehenden Prozess gegen Seifert im Landgericht Hamburg. Ihr Entschluss stand sofort fest: »Da muss ich hin.«

Gebannt verfolgt die Rentnerin, wie jetzt im Gerichtssaal die Details der Entführung erörtert werden. Besonders hellhörig wird Margarete Röhl, als Christa S. von jenen Polaroidfotos berichtet, die eine gefolterte Frau zeigten. Sie geht daher in einer Verhandlungspause zu der Zeugin, nimmt ein Foto ihrer Tochter aus der Handtasche und fragt, ob es vielleicht diese Frau gewesen sein könnte, die auf den schrecklichen Bildern zu sehen war. Christa S. nickt: »Ja, die war es. Da bin ich mir ganz sicher. Hundertprozentig.«

Der alten Dame klopft das Herz. Sie fürchtet, dass ihre schlimmsten Angstfantasien Wirklichkeit werden könnten. Eigentlich ist es ja Aufgabe der Polizei, diesem Zusammenhang nachzugehen. Aber nichts spricht dafür, dass man sie dort auf einmal ernst nimmt. Allzu oft ist sie von Polizeibeamten weggeschickt worden. Die Kriminalbeamtin, die da gerade im Zeugenstand ihre Aussage gemacht hat, erscheint ihr vertrauenswürdiger. So wendet sich Margarete Röhl in einer weiteren Verhandlungspause an Karla Sommer:

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie einfach so anspreche, aber was Sie da gerade dem Richter gesagt haben, interessiert mich sehr. Meine Tochter ist nämlich verschwunden – auf ganz ähnliche Weise wie die Frau von diesem Pelzhändler.«

Wegen der vielen Unstimmigkeiten habe sie sich schon an die Polizei gewandt, sagt sie. »Aber die nehmen mich einfach nicht ernst.«

Karla Sommer geht mit der Mutter Annegret Bauers in einen Aufenthaltsraum neben dem Gerichtsflur, und dann erzählt Margarete Röhl, warum ihr Leben seit dem 6. Oktober 1988 aus den Fugen geraten ist.

8.

Es war ein Donnerstag gewesen – ziemlich windig, aber trocken und mild. An diesem Tag war etwas Merkwürdiges geschehen. Wie üblich hatte die blondgelockte Industriekauffrau in ihrem Haus im Stadtteil Jenfeld einen Zettel mit Anweisungen für ihre Putzfrau hinterlassen, bevor sie gegangen war. Als die Putzfrau den Zettel aber umdrehte, war sie verwirrt gewesen. Auf die Rückseite hatte Annegret Bauer etwas geschrieben, das sie ratlos machte:

»Mir ist sowieso egal was Sie machen

ich ziehe aus.

Alles Gute für Sie persönlich.«

Alles egal? Ich ziehe aus? Was sollte das denn?

Tatsächlich kehrte die junge Frau nicht mehr zurück. Auch etliche Schmuck- und Kleidungsstücke blieben verschwunden – ebenso ihr weißer Golf.

Annegrets Mutter war schockiert – auch Annegrets Lebensgefährte. Thomas B., der eine eigene Firma in Hannover betrieb, konnte sich keinen Reim aus dem Verschwinden seiner Freundin machen, die nach ihrer Scheidung ein neues Leben mit ihm beginnen wollte. Sicher, die Beziehung war in letzter Zeit etwas eingetrübt. Thomas B. hatte aus seiner ersten Ehe schon ein Kind. Das machte es nicht so leicht, gleich wieder eine neue Ehe einzugehen, wie Annegret es sich gewünscht hätte. Das schuf Konfliktstoff, war aber noch lange kein Trennungsgrund. Vor allem gab es keinen Grund, einfach das Weite zu suchen. Schließlich hatten sich beide gerade erst ein Haus gekauft – als Heimstatt für eine gemeinsame Zukunft.

Alles war ja so überstürzt. Am Wochenende wollte Annegret Bauer doch eigentlich mit Freunden ins Elsass fahren. Besonders merkwürdig war, dass sie den Rasierapparat ihres Freundes mitgenommen und ihren Lady-Shaver hatte liegen lassen. Alle wunderten sich auch, dass ein Handtuch mit den Initialen einer Tante ihres Freundes verschwunden war. Annegret hatte das Handtuch nie gemocht. Warum nahm sie es jetzt mit – auf dem Weg in ein neues Leben? Und ihre Unterwäsche hatte auch sie zurückgelassen. Das war schon sehr merkwürdig.

Gern hätte Thomas B. Annegret gefragt, was sie bewogen habe, so Knall auf Fall das Weite zu suchen. Aber er wartete vergebens auf einen Anruf. Stattdessen traf in seiner Firma in Hannover nur ein Fax ein.

»Lieber Thomas, es wird ein Schock für dich sein … ich werde dir dein Wochenende verderben …«

Ganz sicher war das Schreiben in der Handschrift Annegrets abgefasst, doch die Sendequalität war so schlecht, dass nicht alles zu entziffern war. Deutlich wurde immerhin die Botschaft, dass seine Lebensgefährtin nichts mehr von ihm wissen wollte und nicht zurückzukehren gedachte.

Besser zu lesen war ein Brief, den Annegrets Mutter zwei Tage später von ihrer Tochter erhielt:

»Ich glaube ich habe für Thomas eventuell schon einen Ersatz gefunden. Ich kenne seit 5 Monaten einen Finanzunternehmer der Finanzgeschäfte in der ganzen Welt abwickelt. Er ist sehr vermögend mach mich gern, und wohnt zwischen Zürich und Basel. Sein Haus liegt wunderschön in den Bergen. Er ist seit 4 Jahren geschieden ist 45 Jahre alt und hat einen 12jährigen Sohn, der in den USA lebt.«

Wie war dieser Sinneswandel zu erklären? Bisher hatte Annegret ihren Freund doch noch gedrängt, sich endlich von seiner Frau scheiden zu lassen und möglichst bald zu heiraten. Sie wollte ja ein Kind von ihm, das in geordneten Verhältnissen aufwachsen sollte. Dass es in der Beziehung geknirscht hatte, war auch Annegrets Mutter nicht entgangen. Aber das war doch noch kein Grund, einfach so zu verschwinden.

Die Mutter wunderte sich nicht nur über den Inhalt, sondern auch über die Form. Sonst gab sich Annegret immer so viel Mühe mit dem Schreiben. Warum strotzte dieser Brief von Zeichensetzungsfehlern? Warum waren die Sätze so schlecht gebaut? Das war einfach nicht Annegrets Stil. Die hatte schließlich Abitur. Merkwürdig war auch, dass Annegret die Nummer ihres Personalausweises über den Brief geschrieben hatte. Was sollte das alles?

Margarete Röhl verstand die Welt nicht mehr: Was war da bloß passiert?

Dann kam wieder eine Botschaft, die den Anschein erweckte, als sei es der Verschollenen wirklich ernst mit dem Abschied von ihrem bisherigen Leben: In der Pharma-Firma der kaufmännischen Angestellten ging am 14. Oktober 1988 ein Kündigungsschreiben ein – allerdings nicht in der Handschrift Annegret Bauers, sondern ausnahmsweise auf einer Reiseschreibmaschine getippt:

»Kündigung

Sehr geehrter Herr B.,

ich möchte hiermit mit sofortiger Wirkung kündigen. Meine Gründe dafür liegen nur im privaten Bereich. Ich war sehr gern in dieser Firma und habe mich wohl gefühlt, bitte haben Sie für mein unkaufmännisches Geschäftsgebaren Verständnis …

Mit freundlichen Grüßen

Annegret Bauer.«

Nebenbei war in dem Brief auch noch von Urlaubsplänen die Rede.

Die Unterschrift war zweifellos echt. Auch bei etlichen Bestellungen im Namen der Vermissten fehlte die Unterschrift nicht. Und stets wurde die bestellte Ware abgeholt – eine Klappcouch zum Beispiel. Nicht von Annegret Bauer selbst, aber oft unter Vorlage ihres Personalausweises. Außerdem fiel auf, dass größere Geldbeträge vom Bankkonto der Vermissten abgebucht wurden. Schon nach kurzer Zeit war das Konto um 16 000 Mark überzogen; 6000 Mark fehlten auf dem Konto, das Annegret gemeinsam mit ihrem Freund eingerichtet hatte. All dies beunruhigte Annegrets Mutter zusätzlich.

Am 21. Oktober erstattete sie Anzeige. Doch die Polizei sah keinen Anlass, eine Fahndung einzuleiten. Die Botschaften deuteten ja eben darauf hin, dass Annegret Bauer aus freien Stücken gegangen war.

Nur wohin? Auch Bernd Röhl, der Bruder der Vermissten, erhielt eine Karte. »Mein liebes Bruderherz …« Annegret grüßte mit der Ansichtskarte aus einem kleinen Ort bei Rothenburg ob der Tauber. Als Röhl daraufhin dienstlich in Süddeutschland unterwegs war, sah er sich in dem Ort näher um, fragte in Gaststätten und Pensionen der Gegend, ob jemand seine Schwester gesehen habe. Aber alle schüttelten nur den Kopf.

Auch in Hamburg hielt er Ausschau nach seiner Schwester – zwar nicht gezielt, sondern eher beiläufig, doch beharrlich und in ständiger Unruhe.

Bernd Röhl erinnert sich:

»Man guckte an jeder dritten Straßenecke, wenn da eine Frau vorbeiging, und man dachte: Das könnte sie sein. Diese Ungewissheit war schon sehr quälend. Vor allem für meine Mutter. Ich hatte ja meine Familie, aber meine Mutter war ganz allein mit ihren Sorgen.«

Gut zehn Briefe trafen von der Vermissten ein – bei der Mutter und anderen Familienangehörigen, bei dem Ex-Mann, bei ihrem Lebensgefährten. Nur selten fehlte die Personalausweisnummer, immer strotzten die handschriftlich abgefassten Schreiben von Fehlern. Auch zahlreiche Urlaubskarten erreichten die Freunde und Angehörigen der Verschollenen in den nächsten Monaten. Nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus der Schweiz, aus Chile und Brasilien. Sogar drei Weihnachtskarten mit lieben Grüßen waren mit der Unterschrift Annegret Bauers versehen. Dadurch keimte immer wieder so etwas wie Hoffnung auf. Vielleicht hatte Annegret sich ja wirklich entschlossen, ein neues Leben zu führen. Vielleicht tourte sie ja jetzt tatsächlich durch die Welt und würde irgendwann zur Vernunft kommen und heimkehren.

Aber sie kehrte nicht heim. Niemand bekam die junge Frau mehr zu Gesicht. Die letzte Karte war am 31. März 1989 in Rio de Janeiro abgestempelt worden. Danach blieben auch diese Lebenszeichen aus.

18,24 ₼

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23 dekabr 2023
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