Kitabı oxu: «Wandlungen»

Şrift:

Helmut H. Schulz

Wandlungen

Zur Soziologie Umerzogener

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Einführung

Von der aufgehobenen Bewegung

Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lehren

Edeltraut W. und die Wirkung des Unterbewusstseins

Politiker von der Stange

Der Regenmacher

Die Muttergottes von den jungen Pionieren

Lebensbild um 2*** in einer deutschen (-europäischen) Stadt

Impressum neobooks

Einführung

Auf der Uferpromenade entlang eines breiten Stromes wandelten um die Osterzeit des Jahres 2*** zwei Männer. Obschon von See her ein scharfer Wind blies, hatten sie ihre Mäntel geöffnet. Der Jüngere von beiden führte das Wort. Schließlich sagte er: "Unser gemeinsamer Gang durch Ihr Museum deutscher Geschichte, alle diese Exponate, Bilder und Schaustücke reizen meinen Wissensdurst eher an, als ihn zu befriedigen."

"Fragen Sie nur", sagte der andere Herr zuvorkommend, "nutzen Sie die Gelegenheit zur Unterrichtung, ehe Sie in Ihre ferne Region zurückkehren. Nehmen Sie mich als Ihren Mentor; ich stelle mich gern zur Verfügung, wenn ich Ihnen nützlich sein kann."

"Sie müssen wissen", sagte der zum Eleven ernannte jüngere Herr erfreut "dass ich an einer der besten kosmischen Hochschulen Sprache und Kultur der Deutschen mit Liebe und Achtung studiert habe. Dieser Aufenthalt hier sollte mein Wissen abrunden ... indessen bin ich im höchsten Grade verwirrt und zweifle an mir selber".

Hier brach der Mentor in ein herzliches Lachen aus; sammelte sich mühsam und sagte entschuldigend: "Sie haben studiert, was wir Heutigen als die kulturelle und politische Wirklichkeit einer unserer rohesten historischen Perioden unserer Nation, begreifen, die abgetane Vorform unseres heutigen gesellschaftlichen Seins in einer demokratischen, kulturell offenen Gesellschaft. Verzweifelt wie vergebens haben Sie nach den Spuren jener nationalen Kultur gesucht, die Sie lieben. Allein ich versichere Ihnen, dass sich niemand mehr in den anachronistischen Zustand eines deutschen Nationalstaates zurücksehnt, ohne den eine solche Kultur nicht gedeihen kann. Ich schmeichle mir, zu den Lehrern und Umerziehern zu gehören, die diesem Volk mit Erfolg eingeredet haben, es hätte den Nationalstaat irgendwann im Dämmer seiner Frühgeschichte verfehlt. Wie wenig Sie mit Ihren Kenntnissen in der deutschen Sprache anfangen konnten, haben Sie wahrscheinlich zu Ihrer Bestürzung ebenfalls feststellen müssen. Wenn es Sie tröstet; über fundierte Deutschkenntnisse verfügen nur noch einige wenige Germanisten. Deutsch wurde von der zuständigen internationalen Behörde unter die nicht förderwürdigen Sprachen eingereiht; damit wurden den Universitäten natürlich die Mittel entzogen, aber das macht nichts, solange wir uns in ontischer Sprache (ontogenetische Sprachentwicklung) vortrefflich verständigen können, allerdings auf sehr niedriger Stufe, versteht sich."

"In der Tat, aber wie verständigen Sie sich eigentlich untereinander, da Ihnen eine gemeinsame Sprache fehlt?" "Regional ist die Amtssprache noch deutsch", sagte der Mentor. "Was eine Region ist, werde ich Ihnen zu gegebener Zeit erklären. - Nachrichten und Informationen werden in verschiedenen Sprachen oder in Idiomen gehalten, mit deutschsprachigen Legenden am Bildrand des Teleschirmes oder in der Druckpresse. Der zuständigen Behörde liegen angeblich Anträge aus verschiedenen Alpha-Ländern vor, deutsch als Verkehrssprache zu verbieten; allein das wird hier für ein gezieltes Gerücht gehalten, obschon diese Entwicklung unvermeidlich ist. - Im Alltag genügt derzeit noch ein Kauderwelsch mit sehr niedrigem deutschen Wortschatz und einer Vielzahl Leihwörter. Kompliziertere Sachverhalte werden auf Formeln verkürzt; sie müssen glücklicherweise auch gar nicht mehr verbreitet werden. Aber wir haben so etwas wie ein oberstes Dogma, vergleichbar mit dem Nationalfest des höchsten Wesens vom 20. Prairial der Revolution, der Glaubenslehre Robespierres; Sie erinnern sich wohl? Revolution hat eben immer etwas mit Religiosität zu tun. - Nun, unser Dogma ist das von der Vortrefflichkeit des Parteienstaates; es ununterbrochen zu vermitteln, gehört zu den Aufgaben der Presse, der Universitäten, die ziemlich bedeutungslos geworden sind, und allen Gliederungen der offenen Gesellschaft, bis hin zu Vereinen und dergleichen. Zwei deutsche Wörter aus der Zeit um die Jahrtausendwende sind allerdings überliefert: unumkehrbar und betroffen; sie werden Ihnen immer wieder begegnen, als Non plus Ultra der Albernheit."

"Ich darf Ihnen nicht widersprechen, da Sie die Verhältnisse zweifellos genauestens kennen, aber aus welchen Ursachen kam es zu diesem kulturellen Verlust und was wurde nun eigentlich gewonnen, dass die Preisgabe jahrhundertealter kultureller Werte rechtfertigte? Verzeihen Sie meine Naivität."

"Gewonnen wurde nichts. Allein diese Katastrophe war nicht aufzuhalten. Katastrophe in Anführungszeichen, denn wir sind ja zufrieden mit dem, was wir haben. Zunächst einmal passte sich während einer mehr als vierzigjährigen Okkupation im vergangenen Jahrhundert etwa bis zur Jahrtausendwende die damalige deutsche Kultur der unserer Sieger an. Ich kann Ihnen diesen komplizierten Vorgang aus brutaler Unterdrückung, wie der Entfernung missliebiger Bücher aus öffentlichen Bibliotheken, den Verboten bestimmter Filme, einiges an Dramatik und Musik und freiwilliger Unterwerfung, aus dem Mangel an Selbstwertgefühl, eingebildeten Schuldkomplexen, die jeden Verlierer heimsuchen, wirklicher Schuld einzelner Personen und Ratlosigkeit in der Kürze nicht darstellen. Aber jede Unterwerfung im politischen, sozialen und kulturellen Leben beginnt mit einem Wandel in der Sprache. - Ihnen ist sicher das bunte Gemisch menschlicher Wesen aller Herren Länder bei uns aufgefallen; hier haben Sie einen zweiten Aspekt der Entwicklung hin zum kulturellen Verfall, der zuletzt als unvermeidbar dargestellt und empfunden wird. Alle jene, die von überall her kamen und noch kommen, halten natürlich an ihren Kulturen fest, also vornehmlich an ihrer Sprache, der wichtigsten kulturellen Überlieferung, zweitens an ihren Religionen; all dies zusammengenommen führte zuletzt zur Bildung kultureller Enklaven im ehemaligen Gastland. Wir unsererseits sind freilich unbeschreiblich glücklich darüber, dass in unserem Lande die ganze Welt zu Hause ist. Das war nicht immer so; noch gegen Ende des vergangenen Jahrtausend gab es Rassenkämpfe und soziale Auseinandersetzungen in der Arbeitswelt, gab es Ängste wegen einer angeblichen Überfremdung. - Nun, dies alles konnte durch Predigten und Lichterketten, sowie durch geeignete polizeistaatliche Maßnahmen allmählich überwunden werden".

"Als Soziologe bin ich ganz auf Erfahrungen angewiesen", sagte der Eleve eifrig, "auch bin ich froh, einem überlegenen Kenner dieser Periode des Verfalls lauschen zu dürfen. Ihre Erklärung leuchtet mir zwar ein, aber bescheiden weitergefragt; sind denn alle glücklich über diese Austauschbarkeit der Kulturen? Wäre es nicht sinnvoller, jene Kulturen dort zu belassen, wo sie einmal entstanden sind und sich zweifellos besser und kräftiger hätten entwickeln können? Mir fiel auf, dass Ihre Städte aus einzelnen belagerten Festungen bestehen, was den Gedanken nahelegt, die erträumte Vielfalt existiert überhaupt nicht.

"Natürlich hätte man alles besser machen können", gestand der Lehrer. "Wir müssen weit zurückgehen in die Geschichte, um die heutigen Verhältnisse als die beste aller nur möglichen Varianten zu verstehen. - Ich sagte schon, dass Sie nur die rohe nationale Vorform kennen, nicht die sich langsam ausbildende demokratische Gesellschaft auf deutschem Boden in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der langen Spaltungszeit unter den Besatzungsmächten, nicht zu vergessen der Wiedervereinigung als einem Meilenstein des demokratischen Fortschrittes und den seit der Jahrtausendwende stürmisch verlaufenden Übergang, der Deutschland in einen modernen europäischen Bundesstaat verwandelt hat. Das Deutschland, von dem Sie im Hörsaal erfahren haben, existiert nicht mehr, keine Katastrophe, wie ich schon sagte, sondern für uns, für die ganze Welt ein Segen. Nun denn, die Geschichte dieses neuen Universalismus der Kulturen lässt sich mit einem Datum belegen, anno 1990, mit der sogenannten Wiedervereinigung beginnt das Jahr Null neuerer Zeitrechnung. Unter den Bedingungen des nicht erklärten Krieges hatten sich zwei verwaltungstechnische Gebilde entwickelt; wir sprechen heute nicht mehr von Staaten, als irreführend und die Wahrheit verschleiernd. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers entstand kurzfristig ein Vakuum, das von der Parteiendemokratie angloamerikanischen Ursprungs, und wie wir nun wissen, zur Weltherrschaft berufen, aufgefüllt wurde; notwendigerweise, da sich unter den Besatzungsmächten keine andere politische Kraft hatte entwickeln können. Diese Stunde Null neuerer Zeitrechnung, wie ich sie nenne, müssen Sie immer im Blick behalten, mein Freund, wenn Sie begreifen wollen, was Sie beobachten. - Ich könnte in dieser Weise fortfahren, müsste ich nicht befürchten, Sie durch zu viele Einzelheiten nur zu verwirren."

Nachdenklich sah der Eleve auf den schnell dahinziehenden Strom, der Wirbel und Schnellen ausbildete, ohne dass eine Ursache für diese Bewegung zu erkennen war. "Alles fließt", äußerte er, "es fragt sich nur wohin. Mir sind vorhin in Ihrem Museum, ich glaube im Saal 1 einige allegorische Figuren aufgefallen ... "

"Es handelt sich um die abgebrochenen Standbilder vergangener Epochen", erklärte der Mentor. "Nicht alle haben wir unter unsere Sammlungen aufnehmen wollen. Sie müssen wissen, dass in den Zeiten der Auflösung des Nationalstaates, den wir, wie ich schon dargelegt habe, beseitigen mussten, einige Figuren der Zeitgeschichte, wenn nicht unsere Wertschätzung, so doch unsere Aufmerksamkeit verdienen. Der Zusammenbruch des kommunistischen Lagers setzte unglücklicherweise und zu unserer Betroffenheit - da haben Sie schon den einen der beiden Leitbegriffe, von denen ich sprach - zunächst ein für überwunden gehaltenes nationalistisches Potenzial im Volke frei. Das stellte uns vor ein Problem, uns, die freiheitlich-grundgesetz-demokratisch gestimmten Menschen. Es hätte sich beispielsweise die Vereinigung der beiden deutschen Landesteile ohne uns vollziehen können, etwa auf neo-kommunistischer Basis. Oder, wäre das erwähnte nationale Potenzial zum Zuge gekommen, hätten die europäischen Mächte, getreu ihrer traditionellen Politik, kein zentralistisches Deutschland zu dulden, die deutsche Einigungsbewegung mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen bekämpfen oder gar mit der militärischen Intervention beantworten können! Ihre Truppen standen in verhältnismäßig hoher Kampfstärke abrufbereit in Deutschland. Innenpolitisch herrschte glücklicherweise Einvernehmen darüber, einen neuen Nationalstaat wenn möglich zu verhindern. So wurde das neue deutsche Gesamtgebilde logischerweise internationalen, überstaatlichen Bürokratien ausgeliefert. Außerdem haben wir seinerzeit das Kunststück fertiggebracht, unsere östlichen Landesteile einfach wie ein bankrottes Unternehmen zu behandeln, die Konkursmasse erworben und alle Abwicklungskosten einem Dritten aufgehalst."

"Endlich begreife ich, weshalb es nötig gewesen ist, Ihre nationale Kultur preiszugeben, obschon ich es dann auch bedauern sollte, überflüssige Studien betrieben zu haben", sagte der Eleve. "Übrigens stellt Deutschland die Ausnahme von der Regel dar, falls es eine solche gibt und falls sie besagt, dass sich alle Kulturen als überholt in eine Einheitskultur von selbst einzubringen haben. Ich habe eine allgemeine Agonie des kulturellen Lebens beobachtet, was offensichtlich das Niveau des Bildungsstandes gesenkt hat. Kultur bewirkt doch im Allgemeinen die Verfeinerung, Verbesserung eines Volkes, sie macht dessen Zusammenhang aus oder zumindest bewusst. Wir müssten noch vom Ende der nationalen Solidarität in den gesellschaftlichen Bereichen wie in den Familien sprechen, hätten wir nur die Zeit. Wurde das alles denn ohne Widerstand der Kulturschaffenden hingenommen? Und der Staat, den es ja noch gab, was tat er?"

"Lächelnd sagte der Mentor: "Werfen Sie nicht alles durcheinander, mein Freund. Der Staat? Welchen Typs? - Die alt-englische Demokratie entwickelte sich aus bürgerlich-praktischen Verhältnissen hin zur Bill of rights und zur Habeas-Corpus-Akte. Am Anfang der Französischen Republik stand eine philosophische Idee, etwa die Proklamation der Menschenrechte, welche prompt und unerwartet die bislang unbekannte maschinelle Tötung Andersgläubiger in die Welt einführte, aber auch das Gegenteil von einer Mehrparteienherrschaft angestrebt hat. In Deutschland hielt sich zu jener Zeit immer noch das urwüchsige ständische Gebilde des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und vielleicht hätten uns die lieben Nachbarn gewähren lassen sollen, anstatt uns ihre Geschichte und ihre Ideen aufzudrängen, da wir ja nicht eben arm dastanden. Aber wir verlieren uns schon wieder in der älteren Geschichte. - Vor der Eingangshalle meines Museums sahen Sie eine überlebensgroße Symbolfigur .... "

"Die angestrahlt wird?"

"Es handelt sich um einen unserer Präsidenten von bedeutender rednerischer Begabung und dermaßen warmherziger Ausstrahlung, dass wir ihn gar nicht beleuchten müssten, es aber aus Pietät einstweilen beibehalten, bis ihn ein größerer Psalmodist ablöst. Damit haben Sie ein Merkmal parteienstaatlicher Ausdrucksweise, das dröhnende, gleichwohl aber unverbindliche Geschwätz. - Ich lade Sie zu einem zweiten, vertiefenden Gang durch mein Museum ein. Sie werden einige Gestalten der Vergangenheit in einem neuen Lichte sehen lernen. Lernen, diese Tugend zu bewahren, lohnt unbedingt. Unseren wichtigsten Saal Nummer 1, den der Stunde Null der Weltgeschichte neuerer Zeitrechnung, kennen Sie zwar schon, aber folgen Sie mir, es wird kühl!"

Beide Herren beschleunigten den Schritt, denn der Wind hatte zugenommen und ein feiner Nieselregen setzte ein. Sie schlossen ihre Mäntel und strebten der Stadt zu.

"Ich fürchte, es lohnt kaum mehr," sagte der Eleve zum Mentor. Mahnend erhob dieser den Zeigefinger: "Discite, moniti! Lernt, ihr seid gewarnt! Virgil, Äneis."

Ergeben senkte der Schüler den Kopf, der Mentor schob den Arm unter den des Eleven und zog ihn mit sich fort.

Von der aufgehobenen Bewegung

Kurz vor der Jahrhundertwende wurde dem Ehepaar Beharrer ein Sohn geboren und im katholischen Glauben getauft; der Knabe kam mit einem silbernen Löffel im Munde zur Welt. Von seinem Kinderzimmer aus blickte er in einen riesigen parkähnlichen Garten, eine Kinderfrau beaufsichtigte ihn, und ein Hauslehrer kümmerte sich bis zum Eintritt des jungen Herren ins städtische Gymnasium um dessen elementare Bildung. Er galt als Träumer, begabt und nachlässig bis faul, woran die Strenge des Vaters, eines Bergwerkdirektors mit dem im Kaiserreich so beliebten Titel: Wirklicher Geheimer Rat, nicht viel zu ändern vermochte. - Es war eine Periode der Saturiertheit. Von der Zukunft wurde viel erwartet, dieses Bürgertum hatte etwas geschafft und geschaffen; es wollte in Sicherheit genießen. Der erstgeborene männliche Nachkomme einer wohlhabenden Familie musste nicht unbedingt in die Fußstapfen des Vaters treten; ihm war unter Umständen ein Leben als Präzeptor der reichen abendländischen Kultur reserviert. So stand es vermutlich in den Sternen des jungen Helden Beharrer. Auch nach einem schlecht abgelegten Abitur war ihm die klassische Bildungsreise, das Kunststudium in München oder in Dresden versprochen, wenn er sich nur überhaupt anstrengen wollte. Die lebenslange elterliche Apanage schien ihm sicher, sollte er sich als lebensuntüchtig erweisen. - Der Sohn des Geheimrates war ein sorgsam behütetes und gepflegtes Bürschlein von eigenem, etwas liederlichem Charme; er sah dem Wehrdienst mit Unbehagen entgegen. Sollte er vorher oder nachher die Italienreise antreten? Dieser Sorge enthob ihn der Ausbruch des Krieges mit dem allgemein unter der Jugend ausbrechenden Frontfieber; er wurde mitgerissen, meldete sich mit seinem Jahrgang freiwillig. Vor Verdun entwickelte er sich rasch zum Frontoffizier und verkörperte einen neuen Führertypus, den der Erste Weltkrieg hervorgebracht. Der Krieg als Vater aller Dinge erzeugte den sich in die Politik mischenden, den politisierenden Leutnant, im Kaiserreich undenkbar.

Sich mit den Soldaten des Grabenkrieges solidarisierend, stand er zunächst aufseiten der Republik im Kampf gegen Spartakus. Anfang 1919 nach seiner Repatriierung sah sich Beharrer vor einer Leere; schließlich nahm er das geplante Studium auf, unlustig, schon am Sinn dieses Aufwandes zweifelnd. Er belegte Kunstwissenschaft, sattelte um auf Geschichte, suchte und fand an der Universität Berührung mit der jungen radikalen Linke, las allein und im Zirkel Karl Marx, studierte die Revolutionstheorien Lenins. Mitte der Zwanzigerjahre bereiste er durch Vermittlung eines KPD-Funktionärs das Don-Gebiet und andere Teile des weiträumigen Landes und brachte die Überzeugung mit nach Hause, dass eine Weltenwende nahe bevorstehe, wie Praxis und Theorie lehre; nach dem Chaos ihrer rohen, frühen Geschichte trete die Menschheit endlich und unumkehrbar in ihr neues, besseres Stadium ein, dem Kommunismus. Daraus folgte für den jungen Studenten, noch immer jung, als Konsequenz die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei; dort wimmelte es von ihm gleichen Überläufern aus dem bürgerlichen Lager. Sein Studium brach er bald darauf aus Zeitmangel ab, auch weil er es für sinnlos hielt, kostbare Lebenszeit zu vergeuden, da ihm die Revolution alsbald große Aufgaben zuweisen würde. Die Karriere eines Propagandisten verband er halb spielerisch mit der eines Publizisten. Eine große Zahl von Zeitungen und Zeitschriften bot zahlreichen Tagesschriftstellern Gelegenheit, ihr Talent auszubilden. Ein Reisetagebuch machte ihn von der Familie unabhängig; zu Fuß und mit geringen Mitteln versehen, unter ganz anderen Umständen, als sie ihm einst versprochen worden waren, hatte er Italien bereist und sehen gelernt, mit dem Erfolg, zum gesuchten Reiseschriftsteller geworden zu sein. Der Geheimrat besaß genügend Verständnis für einen Sohn, der sich ausleben wollte; er nahm an, dass sein Sprössling bald wieder unter die Fittiche der Familie flüchten werde. Allein hierhin täuschte sich der alte Herr; der Sohn erklärte, dass seine Lebensaufgabe und Berufung in der Revolution läge. Es erstaunte ihn aber beinahe, wie leicht seine Artikel, Bücher und Aufsätze von Redaktionen und Verlagen angenommen wurden, und nicht nur von denen der linken Presse. Obschon sich seine Kenntnisse von der realen Welt genau genommen auf die Erlebnisse im Schützengraben und etwas angelesenem Wissen beschränkten, schrieb er über alles und jedes, und sagte der Konterrevolution permanent eine historische Niederlage voraus, als müsse er sich selbst unentwegt zu dem neuen Leben in dieser lichten, durch historische Regeln herbeigeschriebenen Zukunft überreden. Mit der Rache der unterdrückten Klasse nach dem Sieg werde in entsprechender Dimension zu rechnen sein.

Die Novemberrevolution war· durch ein Bündnis zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie beendet worden; abgewürgt, wie der junge Propagandist schrieb, stranguliert; die Weimarer Republik neigte sich in der Ära des Kanzlers Brüning und den Folgekanzlern ihrem Ende zu, von der Großen Koalition zur Präsidialregierung und weiter zur Präsidialdiktatur. Zwischen Mauschelei und Klüngelei ging dieses unglückliche historische Gebilde zugrunde. Unser Held hielt sich im Januar des Jahres 1933 zufällig in Paris auf, zu einer Vortragsreise, wie er sie häufig unternahm, um gegen die neue Gefahr von rechts zu predigen, gegen ein bisher unbekanntes Phänomen, den Faschismus. Dort überraschte ihn die Nachricht von der Berufung Hitlers zum deutschen Reichskanzler. So nahe hatte er, wie andere auch, in Wirklichkeit die Gefahr die berechnend beschworen worden war, gar nicht gewähnt, Nationalsozialismus als neuartige Massenerscheinung schien Beharrer mit keinem der überkommenen und in den Marxismus integrierten Werte vereinbar. Der ehemalige Offizier, Überläufer aus dem Bürgertum und Intellektuelle hatte einen vagen und problematischen Begriff von Volk und von Volkssouveränität; er sah sich mit dem Volk als Belehrer und Erzieher verbunden; es hatte zu sein, wie er es sich dachte. Ganz sicher aber hatte dieses Volk der Weimarer Republik so eklatant versagt, dass es einer Reinigung unterzogen werden musste. Ausgerechnet den, auf Hitler bezogen; dies konnte Beharrer nicht anders als ein historisches Versagen deuten. Seinem Volk begann er sich zu entfremden, entsann sich großer Vorgänger, die krank an ihrem Vaterland geworden waren und es daher verwarfen. - Anrufe bei Freunden in Berlin verschafften ihm schnell darüber Gewissheit, was er jetzt besser unterlassen sollte. Als Publizist zählte er zu den bekanntesten und gehasstesten Leuten, zu den erklärten Feinden des Nationalsozialismus. Die Weltbühne, aber auch andere Blätter, hatten seiner kritischen und ironischen Feder wie seinen Recherchen, Spalten freigemacht. Aus vielen Gründen war es also ratsam, das vorläufige Exil zu wählen, alles weitere abzuwarten, den Generalstreik, den Aufstand des Volkes gegen die Berufung Hitlers, politische Massenaktionen gegen dieses Kabinett oder ein anderes Wunder. Da nichts dergleichen geschah, richtete sich Beharrer auf eine längere Dauer des nationalsozialistischen Interims ein, schuf zusammen mit anderen linken deutschen Emigranten eigene Informationsebenen, organisierte Verlage und eröffnete den Veröffentlichungen illegale Vertriebswege. Allein das unverbesserliche, das irregeführte deutsche Volk, schrieb der Propagandist warnend und erbittert, folge seinem Unstern; es gehe seinen Weg in den Untergang, bei Verlust aller humanistischen Traditionen. Von seiner Befangenheit gegenüber der Lage in Deutschland begriff Beharrer nichts; er fühlte sich als Deutscher, als besserer Deutscher, und es war ein aufrichtiges Gefühl, nur trennte es ihn von seinem Volk, das er hasste und liebte, und dieser Graben sollte nie wieder zugeschüttet werden.

Unter Mitwirkung der internationalen Öffentlichkeit gliederte sich das Dritte Reich die einst verlorenen Gebiete wieder an, stieg wirtschaftlich auf; der innere Widerstand zerfiel. Aus der erhofften kurzen Dauer des Hitler-Regimes waren Jahre geworden; kurzum, unser Held sah seine Sache als fast verloren an, da brach der spanische Bürgerkrieg aus. Auf die Emigration wirkte er wie ein befreiendes Signal. Der ehemalige Offizier, der Propagandist und Revolutionär, für einen Frontsoldaten schon etwas alt, reiste über die Grenze nach Spanien, den Feind suchend, den Deutschen der Legion Kondor, ebenfalls einen Freiwilligen, den einer anderen Generation und Tradition. Hier zeichnete sich die Dimension des bevorstehenden Weltkrieges schon deutlicher ab. Das Ende der spanischen Republik erlebte Beharrer nicht an der Front, sondern wieder in Paris. Dort begrüßte er den Ausbruch des Weltkrieges als Anfang vom Ende des Dritten Reiches.

Die Randstaaten Deutschlands brachen in kurzer Frist militärisch zusammen, ein Sieg schien weit entfernt. Im letzten Augenblick gelang ihm die Flucht aus dem von seinen ehemaligen deutschen Landsleuten besetzten Frankreich. Quartier bezog er in dem bekannten Moskauer Emigrantenhotel. Hinter vorgehaltener Hand erfuhr er von Säuberungen, von Massenexekutionen und Verschickungen, schob die Wahrheit jedoch ungläubig von sich weg, unfähig zu objektiver Beurteilung der Geschichte und sich selbst beruhigend; der Klassenkampf erforderte eben ungewöhnliche Mittel, etwas werde schon dran sein an den Beschuldigungen, und die Befreiung der Menschheit vom faschistischen Joch rechtfertigte inzwischen ohnehin alle Mittel.

"Vergessen Sie nicht", sagte der Mentor, sich unterbrechend, "dass diese Spaltung des Gewissens wie auch das spätere Wortgerümpel rechtfertigender Erklärungen entweder für den Terror oder für die angebliche Unwissenheit miterlebender Zeitgenossen typisch werden sollte. Was uns als Angehörige eines Volkes, das gar nicht existiert, angeht, so sollten wir die reine Lehre empfangen. Das erinnert an die Taufrituale, wie sie an den Kariben vollzogen wurden, denen christliche Missionare ihr Heidentum als eine Art Vergehen dargestellt haben mögen, aber sehen wir, wie es weiterging."

Im Großen Vaterländischen Krieg fand unser Mann eine neue, ihn ganz ausfüllende Aufgabe, als er vom Lautsprecherwagen einer Politabteilung der Roten Armee, Reden an die deutschen Soldaten der Ostfront hielt, sie über den Klassencharakter dieses Krieges aufklärend, und um sie zum desertieren zu bewegen. Bei der Gründung des oppositionellen Offizierskomitees im sowjetischen Gefangenenlager schrieb er Manifeste und beschwor die einstige deutsch-russische Waffenbrüderschaft. Für viele dieser gefangenen rat- und mutlosen Offiziere konnte er als der ehemalige Kamerad gelten, einer, der sie verstand und der weiter war als sie. Ihrer Ratlosigkeit setzte er die Vision eines freien demokratischen Deutschland entgegen, nach Bestrafung der Schuldigen. Zwar werde es nicht zu den Fehlern des Ersten Weltkrieges kommen, als die Sieger das Ziel, den deutschen Imperialismus zu bändigen, unverständlicherweise, vielmehr aus auf der Hand liegenden Gründen, preisgaben. Heute also müsse nach Beendigung der Kampfhandlungen mit einer längeren Besatzungszeit gerechnet werden, die ausreiche, neue Verhältnisse und Bewusstseinslagen in Deutschland dauerhaft anzulegen, eine konsequente und erbarmungslose Umerziehung dieses Volkes stehe auf der historischen Agenda; nie wieder käme eine Bewaffnung der Deutschen in Frage, allerdings auch keine Sowjetrepublik. Angestrebt werde ein im losen Verbund mit allen friedliebenden und fortschrittlichen Völkern stehendes, geläutertes deutsches Volk, sozusagen auf dem Reißbrett geplant, und weit hinten erhebe sich leuchtend das kommunistische Ideal. Noch in diesem Jahrhundert müsse sich der große Menschheitstraum erfüllen, das Geld abgeschafft sein, der bedürftige Mensch in einen bedürfnislosen umgewandelt und in seinen elementaren Ansprüchen aus staatlichen, vielmehr gesellschaftlichen Fonds versorgt werden. Bis dahin gelte es, umzuerziehen, das Wesen des Menschen, zumal des deutschen Menschen, auf eine höhere, bessere Stufe gehoben werden. Denn, die Geschichte entwickele sich gesetzmäßig und das heiße höher; aus dem historischen Chaos in die Ruhe der Harmonie. Anstatt Kriege und der Organisierung von wechselseitiger Ausbeutung, die erhabene Zukunft, die große Vermenschlichung ...

Unser Held zog predigend mit der Roten Armee gen Westen, auf die Heimkehr fiebernd. Seine Stunde schlug Anfang Mai 1945 mit den letzten Schüssen und der Kapitulation des Deutschen Reiches. Nunmehr sollte die neue Welt errichtet werden, aber mit welchem Personal? Das war eine zentrale, vielleicht die schwierigste Frage. Die Deutschen hatten verblendet bis zur letzten Patrone gekämpft. Von den bewährten alten Kämpfern, Genossen, Kommunisten, Sozialisten und von den bürgerlichen Oppositionellen lebten nur noch wenige; ihnen gegenüber war Misstrauen angebracht. Als Beisitzer an den Säuberungsgerichten suchte Beharrer verzweifelt, voller Ablehnung, Hass und echtem Bemühen nach der reinen Seele der Deutschen und fand nur die kleinen Leute mit dem ungepflegten Innenleben, sonderte, so gut es eben ging, die Spreu vom Weizen, filterte aus der amorphen Masse Schuldiger eine dünne Schicht Unbelasteter, Aufbauwilliger, schuf aus dem Bodensatz der Davongekommenen seine Neulehrer und Nachtwächter, Verwaltungsangestellte, Kasernierte Volkspolizisten, Parteisekretäre und alle gebrauchten Kader, ohne eigenen Anspruch. Allerdings, der neue Gottes- und Volksstaat würde ohne Staatsvolk gebildet werden müssen und einer geschlossenen Gesellschaft gleichen; dies wurde ihm klar. Für einen langen Übergang war die Diktatur des Apparates, der Arbeiterklasse, zu errichten, schrieb Beharrer, das nannte er: Die Mühen der Ebenen!, sich an ein Dichterwort anlehnend. Und er erkannte: Das erhabene Umerziehungsprojekt war längst an den historischen Bedingungen des Nachkrieges gescheitert; der neue Mensch, nach den Konzepten von Casablanca, Jalta und Potsdam, verfehlt. Was blieb? Der Rückzug auf den bekennenden Antifaschismus.

Was blieb noch? Die Jugend! Ihr allein brachte der alternde Propagandist jenes Vertrauen entgegen, das er anderen versagte. Straff führte er sie in der neuen Jugendorganisation, der Freien Deutschen Jugend zusammen, versprach ihr den sozialen Aufstieg, Studienplätze an der Arbeiter- und Bauernfakultät, die Führerschaft, baute an der Kaderreserve der Zukunft. - Es wechselten die Strategien, Beharrer wechselte mit, getreu einer Dialektik der austauschbaren Wahrheiten. Er war für den bündnisfreien, einigen deutschen Nationalstaat der Volkskongresse kurz vor Gründung der Bundesrepublik und der DDR, beschrieb ihn werbend in leuchtenden Farben als friedliebend und freundlich, als gerecht und internationalistisch-solidarisch; er schrieb gegen das aufrührerische Volk vom 17. Juni 1953 und ließ sich nur schwer dazu überreden, seine Kritik und Erbitterung über dieses erneute Versagen des Volkes dahin zu mildern, dass es vom Westen geblendet, verführt, getäuscht worden sei. Seine Nachrufe beim Tode Stalins klangen schon heuchlerisch, aber sie füllten die großen Zeitungen. Er fragte, wie es nach dem Tode des großen Führers denn nun weitergehen solle, erkundigte sich bei imaginären Instanzen, wieso nur der große Stalin alles habe wissen können, nicht aber der gewöhnliche Genosse, zu schweigen vom Mensch schlechthin?

Pulsuz fraqment bitdi.

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