Der Teufel von Köpenick

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Drei
1932/​33

Wir kennen weder den Familien- noch den Vornamen des Mannes, der im Februar 1932 durch die Neuköllner Straßen lief, wissen aber einiges über seine äußere Erscheinung: Er ist zwischen 25 und 30 Jahre alt, etwa 1,75 Meter groß, hat die kräftige und schlanke Figur eines Sportlers, mittelblonde und glatt nach hinten gekämmte lange Haare, ein markant längliches und knochiges Gesicht und spricht Hochdeutsch mit heller, weicher Stimme. Bekleidet ist er mit einer zweireihigen, gürtellosen Joppe mit schrägen Seitentaschen und einer langen dunklen Hose. In der rechten Hand trägt er eine abgewetzte braune Aktentasche.

So oder so ähnlich beschrieben ihn verschiedene Augenzeugen, und es besteht kein Zweifel, dass er tatsächlich existiert hat. Man nannte ihn Norbert N., abgeleitet von N. N., nomen nescio – den Namen weiß ich nicht.

Norbert N. arbeitet als Buchhalter in einer Fabrik in der Lahnstraße und biegt rechts in die Bergstraße ein. Unter der Ringbahn hindurch geht er in Richtung Hermannplatz. Er läuft immer schneller, damit ihm wärmer wird. Die U-Bahn hat zwar schon vor zwei Jahren den Bahnhof Neukölln erreicht, aber er will das Fahrgeld sparen, und weit ist es ja nicht bis zur Wildenbruchstraße. Er hat andauernd quälende Kopfschmerzen, und dort soll es einen Homöopathen geben, Ziemann mit Namen, der als wahrer Wunderheiler gilt. Die Adresse hat Norbert N. von einem Kollegen bekommen.

Als er an der Magdalenenkirche vorüberkommt, will er am liebsten eintreten und beten. Er mag das große Kirchenschiff mit seinen Inschriften: Jesus Christus, gestern und heute, derselbe auch in Ewigkeit in Richtung Osten und Ehre sei Gott in der Höhe nach Westen hin. Doch vergeblich drückt er die Klinke nach unten, die Tür ist verschlossen.

Auf der anderen Straßenseite sieht er das Geschäft »Musik-Bading« und überlegt einen Augenblick lang, ob er hinübergehen und nach einer neuen Schallplatte suchen soll. Nein, denn seine Kopfschmerzen werden immer stärker. Nur schnell weiter, vorbei an »Blumen Jette«, der Hohenzollern-Apotheke, der Bickardt’schen Buchhandlung, dem Eisenwaren- und Haushaltsgeschäft von Gustav Kießling und »Koffer Panneck«.

Am Städtischen Lichtspielhaus Neukölln eilt er schnell vorüber. Kino ist Sünde. An der Passage hält er ein wenig inne und schaut hinein. Das Brückenquergebäude mit seinen Rundbogenfenstern ist zu jeder Jahreszeit ein Blickfang. Aber ansonsten … Norbert N. würde am liebsten alles abreißen, denn Gott hat den Menschen nicht geschaffen, damit dieser sich amüsiert, nein, er soll beten und arbeiten.

Hinter der Richardstraße ändert der Straßenzug seinen Namen, und auf den Schildern ist plötzlich Berliner Straße zu lesen. Eine Berliner Straße in Berlin hält er für albern, aber Rixdorf ist ja bis vor zehn Jahren eine eigene Stadt gewesen, früher nur ein Dorf, und von dem hatte eine große Straße nach Berlin geführt.

Nun beherrschen wuchtige Bauten das Bild. Links das Kaufhaus H. Joseph & Co., rechts das Amts- und das Rathaus, vorher an der Ecke Anzengruberstraße aber noch das Postamt.

Er überlegt kurz, ob er Briefmarken kaufen soll, lässt es dann aber, denn seine Kopfschmerzen werden immer ärger, und er fürchtet sich vor dem Anstehen am Schalter. Weiter. Je eher Ziemann ihn behandeln kann, desto besser.

Das Schaufenster des Photohauses H. Pogade lässt ihn kurz stehen bleiben. Einen Photoapparat hat er sich noch nicht leisten können. Wozu auch?

Angeekelt wendet er sich ab, als sein Blick auf ein Hochzeitsphoto fällt.

Der arme Mann, denkt er. Wieder einer, der einem Weib auf den Leim gegangen war.

Norbert N. hasst Frauen. Sie sind nur auf der Welt, um die Männer von der Arbeit abzuhalten und ihnen das Mark aus den Knochen zu saugen.

Umbringen müsste man sie alle, findet er. Besonders jene, die den Männern schöne Augen machen. Aber Huren waren sie doch alle. »Denn die Lippen der Hure sind süß wie Honigseim, und ihre Kehle ist glätter als Öl, aber hernach bitter wie Wermut und scharf wie ein zweischneidiges Schwert«, murmelt er leise. Das hatte er aus der Bibel, die Sprüche Salomos 5,3.

Ihn würde keine einfangen!

Es ekelt ihn an, wenn er sich vorstellt, sein Glied, mit dem er gerade Harn gelassen hatte, in den Körper eines anderen Menschen zu stecken.

Vor dem Amtshaus mit seinem imposanten Turm biegt er rechts ab in die Erkstraße. Er überquert noch die Donaustraße, dann sieht er schon das alte Rixdorfer Polizeipräsidium an der Kaiser-Friedrich-Straße und dahinter die Wildenbruchstraße. Doch unter der Adresse, die ihm der Kollege genannt hatte, findet sich kein Institut für Homöopathie, und er wird auch nicht fündig, als er die Straße bis weit hinter dem Neuköllner Schifffahrtskanal nach ihm absucht. Er bleibt stehen, stellt seine Aktentasche auf das Fensterbrett einer Parterrewohnung und beginnt, nach seinem Notizzettel zu suchen. Endlich findet er ihn. Es ist ein abgerissenes Stück Zeitung, auf dem steht: Ziemann, Windscheidstraße.

Gott, da hat er Windscheid mit Wildenbruch verwechselt. Es scheint doch etwas mit seinem Kopf nicht in Ordnung zu sein.

Die Windscheidstraße, das weiß er, liegt in Charlottenburg und kreuzt die Kantstraße. Ein weiter Weg. Lohnt sich das?

Er zögert.

Aber der Kollege hat geschworen, dass dort geradezu Wunderheiler am Werke seien. »Eine halbe Stunde bei Ziemann, und du glaubst, du bist im Himmel. Jeder Druck ist weg.«

Also macht sich Norbert N. auf den Weg nach Charlottenburg. So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Er muss nur zum S-Bahnhof Treptower Park laufen und bis zum Bahnhof Charlottenburg fahren. Das tut er auch. Gleich am Ausgang in der Fahrtrichtung beginnt die Windscheidstraße.

Schnell hat er das Institut Ziemann gefunden.

Es liegt im Parterre und ähnelt einer Arztpraxis. Das Personal trägt weiße Kittel, und alles macht einen sehr seriösen Eindruck.

Herr Ziemann, der aussieht wie ein Chefarzt, führt ihn in ein kleines Zimmer, rückt ihm einen Stuhl zurecht und bittet ihn, Platz zu nehmen. Er selber begibt sich hinter seinen eindrucksvollen Schreibtisch und beginnt mit einem kleinen Vortrag: »Homöopathie – was ist das eigentlich? Das ist eine von Samuel Hahnemann begründete Behandlungsmethode, bei der der Mensch immer als Ganzes betrachtet wird. Gesundheit ist eine Lebenskraft, die den ganzen Körper beseelt. Ist diese Vitalenergie ungebrochen, wehrt sie alle Krankheiten ab. Ist sie aber gelähmt, brechen Krankheiten aus. Um sie zu bekämpfen, muss die gelähmte Vitalenergie wieder wachgerüttelt werden. Dabei gehen wir davon aus, dass Ähnliches mit Ähnlichem behandelt werden muss. Aber nun erzählen Sie mir doch erst einmal, warum Sie in unser Institut gekommen sind.«

Norbert N. holt weit aus und berichtet Ziemann von seinen Schlafstörungen und seinen starken Kopfschmerzen.

»Sind Sie verheiratet?«, fragt Ziemann.

»Nein!«

»Und, haben Sie dennoch regelmäßigen Geschlechtsverkehr?«

Norbert N. ist verwirrt. »Nein, wie denn?«

Ziemann macht sich Notizen und stellt noch eine Reihe anderer Fragen. Dann überlegt er einen Augenblick lang mit geschlossenen Augen und hat eine Idee für die Therapie: »Um Ihre Verkrampfungen zu lockern, beginnen wir mit einer leichten Massage. Unsere Frau Rolland wird danach alles Weitere mit Ihnen besprechen.«

Norbert N. wird in ein Behandlungszimmer geführt und gebeten, sich schon einmal auf einer Liege auszustrecken. Frau Rolland würde gleich kommen. Die Oberbekleidung möge er bitte ablegen und die Schuhe ausziehen.

Er tut wie ihm geheißen und klettert auf die Liege, legt sich auf den Rücken und starrt an die Decke. Die Stuckornamente interessieren ihn. Er fährt sie wie Eisenbahnstrecken mit seinen Blicken ab.

Ein Wasserfleck an der Decke sieht aus wie ein Erdteil. Afrika vielleicht.

Als er das linke Auge zukneift, merkt er, dass er mit dem rechten kaum noch etwas sehen kann, und fragt sich, ob in seinem Gehirn nicht doch ein Tumor wächst, der ihm den Sehnerv abquetscht.

Sein Arzt bestreitet das zwar – aber was wissen schon Ärzte!

Er schrickt hoch, als die Tür aufgeht.

Eine Frau in weißem Kittel erscheint. Sie sieht sehr sauber und schnuckelig aus. Sie stellt sich als Frau Rolland vor und begrüßt ihn derart freundlich, dass ihm richtig warm ums Herz wird.

Er schildert ihr sein Leiden, dann muss er sich auch noch sein Unterhemd ausziehen.

Sie beginnt mit ihrer Massage.

Erst wehrt er sich gegen ihre Hände, dann genießt er es.

»Alles furchtbar verspannt«, stellt Frau Rolland fest. »Was haben Sie denn für einen Beruf?«

»Ich bin Buchhalter«, antwortet er mit einem gewissen Stolz.

»Na, immer den ganzen Tag Bücher halten, das geht schon aufs Kreuz«, scherzt sie.

Er bleibt ernst und erläutert ihr die Aufgaben, die ein Buchhalter in seiner Firma zu erledigen hat. »Aber das können Sie in Ihrem Beruf ja nicht wissen.«

Frau Rolland kichert. »In meinem Beruf … Ich war früher einmal Bürokraft im Amtsgericht Neukölln und dann im Wohlfahrtsministerium in der Leipziger Straße beschäftigt.«

»Interessant«, murmelt Norbert N.

»Drehen Sie sich bitte mal auf den Rücken!«

»Ja!«

Schläfrig ist er geworden. So bemerkt er gar nicht, dass Frau Rolland seine Gesäßbacken zu kneten beginnt. Dann denkt er, dass das zur homöopathischen Behandlung gehören würde. Es ist auch ganz angenehm, ja sogar lustvoll. Peinlich ist jedoch, dass sein Glied langsam steif zu werden beginnt. Da die Liege nicht nachgibt, muss er sein Gesäß etwas anheben. Hoffentlich, denkt er, merkt Frau Rolland nichts.

 

Die plaudert munter drauflos und bittet ihn schließlich, sich aufzusetzen, damit sie auch von vorn an seine Schulter herankomme.

Er tut es in Zeitlupe, doch so schnell will seine Erektion nicht verschwinden.

Frau Rolland hat den unteren Knopf ihres Kittels geöffnet, so dass Norbert N. ihren rechten Oberschenkel bis hoch zum Rand ihres Strumpfes sehen kann. Das Fleisch ist leicht gebräunt und zum Reinbeißen.

Ihre rechte Hand legt sich auf sein Glied. »Wenn Sie mehr möchten, Herr … dann … So teuer, wie Sie denken, ist es nicht. Eine kleine Zuzahlung nur.«

Vier
1932

Erich und Martha Zeitz hatten das Wochenende in Leipzig verbracht, wo ihre Tochter nach der Hochzeit hingezogen war. Ausgerechnet zu den Kaffee-Sachsen, und wie nicht anders zu erwarten, hatte es am Sonntagabend einen heftigen Streit zwischen ihnen und ihrem Schwiegersohn gegeben. Folglich waren sie nicht noch ein paar Tage länger geblieben, wie sie es eigentlich vorgehabt hatten, schließlich waren sie Rentner, sondern hatten den ersten D-Zug genommen, der am Montagmorgen von Leipzig aus abfuhr.

Der Kalender zeigte den 21. Februar 1932. Draußen war es so kalt, dass die Zugheizung es kaum schaffte, die Wagen ausreichend zu erwärmen. Also stand Martha Zeitz schließlich auf, um sich ihren Mantel anzuziehen.

Ihr Mann verstand das nicht. »Nicht doch, Martha, dann frierst du doch draußen doppelt so schnell. Und außerdem sind wir gleich in Berlin.«

Sie sah aus dem Fenster. »Stimmt, das war ja schon Lichtenrade.«

»Alles öd und leer«, murmelte Erich Zeitz.

Ihre Freude, wieder in der Heimat zu sein, hielt sich in Grenzen. Es waren nicht nur die Minusgrade auf dem Thermometer, die ihnen zu schaffen machten, es war auch die Kälte in den Herzen der Menschen. Man brauchte nur die Zeitung aufzuschlagen, um zu wissen, was los war. Allein in Berlin waren 600 000 Arbeitslose registriert, im ganzen Reich waren es über sechs Millionen. Dazu kamen drei Millionen Kurzarbeiter. Die Länge der Schlangen vor den Arbeitsämtern wurde nicht mehr in Metern, sondern schon in Kilometern angegeben. Und das bei bitterster Kälte. Diebstähle und Plünderungen häuften sich. Im Humboldthain prostituierten sich Arbeiterkinder.

»Gott!«, rief Erich Zeitz und warf seine Zeitung ins Gepäcknetz, »wo soll das alles bloß noch hinführen?«

Seine Frau lachte bitter. »Na, zu den Nazis!«

Viele ihrer Nachbarn gingen in die Kneipen der Nationalsozialisten, um sich dort zu betrinken und dabei von herrlicheren Zeiten zu träumen.

Am Anhalter Bahnhof hätten sie sich gern ein Taxi genommen, denn die beiden Koffer wogen mehr, als für ihre angeknacksten Rücken gut war, doch das Geld dafür hatten sie nicht. Also blieb ihnen nur die Straßenbahn, und mit der Linie 4 kamen sie, ohne umzusteigen, bis zum Hermannplatz. Von dort aus bis zur Friedelstraße 23 mussten sie dann laufen, da half alles nichts.

Sie nahmen die Abkürzung über die Weserstraße und trafen unterwegs auf den Räucherwarenhändler Valentin, der am Kottbusser Damm 24 sein Geschäft hatte und als guter Bekannter gelten konnte.

Ganz aufgeregt war er heute. »Die Kommunisten hetzen gegen mich, dass keiner mehr bei mir kaufen soll.«

»Warum denn das?«, fragte Erich Zeitz.

»Angeblich soll ich einen Erwerbslosen aus einem meiner Häuser in der Lenaustraße rausgeworfen haben, weil der seine Miete nicht bezahlt hat. Das ist aber totaler Quatsch! Der Krause, so heißt er, ist erstens Säufer und randaliert dauernd, und so was kann man nicht länger dulden, und zweitens sind das nicht meine Häuser. Die verwalte ich nur für eine alte Dame.«

Martha Zeitz schloss die Augen. »Wo soll das alles bloß noch hinführen? Dieser Hass überall!«

Sie beteuerten, weiter bei Valentin kaufen zu wollen, zumal der sich bereit erklärte, beim Schleppen ihrer Koffer zu helfen.

»Vorderhaus, dritte Treppe rechts!«, sagte Erich Zeitz.

Da sie mit ihrer Rente nicht mehr auskamen, hatten sie untervermieten müssen. Es war schwer zu ertragen, nur noch in einem Zimmer zu leben und andauernd einen fremden Menschen in der Wohnung zu haben, aber es ging eben nicht anders, und vielleicht, so der gängige Trost, brachten Untermieter ja auch Leben in die Bude und wurden nach einiger Zeit sogar richtige Familienmitglieder.

Sie bedankten sich bei Valentin.

Erich Zeitz machte sich daran, die Wohnung aufzuschließen. Das war ein geradezu hoheitlicher Akt, den er sich nicht nehmen ließ, schließlich war er alter Zollbeamter. Als er den Schlüssel ins Sicherheitsschloss gesteckt hatte und ihn herumdrehen wollte, stutzte er. »Ist ja gar nicht abgeschlossen!«

»Erich, das wirst du beim Wegfahren glatt vergessen haben«, sagte seine Frau. »Und das ausgerechnet du!«

»Unsinn! Ich schließe immer sorgfältig ab. Das wird dieses Flittchen gewesen sein.«

Gemeint war ihre neue Untermieterin, die noch keine Woche bei ihnen wohnte und schon zwei Cousins mit nach Hause gebracht hatte.

Kaum stand Erich Zeitz im Korridor, da klopfte er auch schon an ihre Zimmertür, um sie wegen ihrer Nachlässigkeit zur Rede zu stellen. »Fräulein Rolland, würden Sie bitte mal …«

Doch drinnen rührte sich nichts. Wahrscheinlich schlief die Dame noch. Das tat sie immer, wenn sie keine Arbeit hatte. Klopfte er an ihre Tür, so machte sie auf toten Käfer.

Er lauschte. Nichts. Nun hämmerte er mit der rechten Faust gegen die Tür. Wieder nichts.

»Ist sie doch schon aus dem Haus«, sagte Martha Zeitz.

»Und ohne abzuschließen!« Erich Zeitz konnte sich nur schwer beruhigen. Dazu wurde in letzter Zeit zu viel eingebrochen. Jetzt riss ihm der Geduldsfaden. Mit den Worten »Jetzt komme ich aber!« drückte er die Klinke nach unten. Da die Rolland ihre Tür immer von innen verriegelte, konnte dies nichts anderes sein als eine leere Drohung.

Doch als er etwas energischer gegen die Tür drückte, flog diese geradezu auf.

Was er dann sah, ließ ihn aufschreien – eine Leiche auf dem Fußboden.

Mathilde Rolland lag zwischen Sofa und Tisch. Und zwar auf dem Rücken. Um ihren Hals war der Gürtel eines Kleides zweimal fest herumgeschlungen und verknotet. In ihrem Mund steckte ein Klaviertastenschoner – offenbar als Knebel. Das Kleid war hoch-, der Schlüpfer heruntergezogen.

Heinz Franzke, nun 24 Jahre alt, hatte sich zu einem Menschen mit vielerlei Facetten entwickelt. Er hatte stets vor Augen, was Adolf Hitler gefordert hatte: Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen.

Auf der anderen Seite aber war er feinnervig und kreativ wie ein jüdischer Intellektueller, obwohl er diese Gruppe hasste wie keine zweite. Dazu kam eine außergewöhnliche formale Intelligenz, die er sich vor allem in den langen Schachpartien gegen seinen Onkel erworben hatte. Hoch aufgeschossen war er und schlank, und seine Gesichtszüge konnte man asketisch nennen. Das lag daran, dass er viel trainiert hatte und auf den Mittelstrecken fast Berliner Meister geworden wäre. Seine Wirkung auf Frauen war groß, und was dieses Thema betraf, da hätte er ebenso, wie es Joseph Goebbels am 15. Juli 1926 getan hatte, in sein Tagebuch schreiben können: Jedes Weib reizt mich bis aufs Blut. Wie ein hungriger Wolf rase ich umher. Und dabei bin ich schüchtern wie ein Kind. Ich verstehe mich manchmal selbst kaum.

Mit der nationalsozialistischen Bewegung war er schnell in Berührung gekommen, denn sein Vater hatte nicht nur eine niedrige Parteinummer, sein Lokal in der Steglitzer Albrechtstraße war auch ein beliebter Treffpunkt von SA und NSDAP geworden. Bald hatte Heinz Franzke beschlossen, im Spiel des Lebens auf diese Karte zu setzen. Ordentliches Mitglied in der NSDAP konnte er allerdings erst mit dem Erlass vom 29. Juli 1932 werden, denn bis zu diesem Zeitpunkt war preußischen Staatsbeamten die Mitgliedschaft in der NSDAP untersagt gewesen.

Nach dem Abitur, abgelegt 1927, hatte er begonnen, Jura zu studieren, war aber des trockenen Tons schnell überdrüssig geworden und hatte beschlossen, in die Berliner Kriminalpolizei einzutreten. Den Volkskörper von verbrecherischen Elementen zu reinigen war für ihn von ungeheurer Wichtigkeit. Ohne Zögern erklärte er, dass ein Mann wie Ernst Gennat für ihn im gesellschaftlichen Gefüge denselben Rang einnähme wie Robert Koch oder Rudolf Virchow. Die einen eliminierten jene Bakterien und Viren, die darauf aus waren, Menschen zu töten, der andere brachte Mörder zur Strecke, Lebewesen also, die schon getötet hatten und nichts anderes verdienten als das berühmte »Kopf ab!«. Auch als eine Art Kammerjäger sah er den Kriminalbeamten, denn beide Berufsgruppen hatten Ungeziefer zu bekämpfen und gegebenenfalls auch auszurotten. Spürte er, dass einem Gesprächspartner dieser Vergleich zu drastisch erschien, dann bezeichnete er sich als Arzt, insbesondere als Chirurg. Abtöten und herausschneiden, was Leben und Gesundheit gefährdet – das sei die Aufgabe eines Kriminalbeamten.

Es war also zu Beginn der dreißiger Jahre ein loderndes Feuer in ihm entfacht worden, und wer weiß, welche Karriere er noch gemacht und welchen Verlauf sein Leben sonst genommen hätte, auch nach 1945, wenn er nicht mit einem Menschen aus einer ganz anderen Ecke der Gesellschaft zusammengetroffen wäre: mit Bruno Lüdke, dem »doofen Bruno«. Aber noch war es nicht so weit. Noch war er Kriminalanwärter, also eine Art Lehrling, und hatte den Kriminalkommissaren Albrecht und Litzenberg bei der Aufklärung des Falles Mathilde Rolland Hilfsdienste zu leisten. Da Litzenberg heimlich Parteigenosse war, konnte sich Franzke von diesem eine besondere Förderung erhoffen. Später jedenfalls. Nach der Machtergreifung.

Nach Ende des Ersten Weltkrieges hatte es eine erhebliche Professionalisierung der Berliner Kriminalpolizei gegeben. So etwa war eine systematische Auswertung von Fingerabdrücken eingeführt worden, man hatte mit ballistischen Untersuchungen begonnen, eine neue Mordinspektion und die weibliche Kriminalpolizei waren geschaffen und im Jahre 1927 ein Institut für Polizeiwissenschaft in Charlottenburg gegründet worden. Schon am 1. Juni 1925 hatte das Landeskriminalamt, das LKA, seine Arbeit aufgenommen.

Die Kripo, im Polizeipräsidium am Alexanderplatz angesiedelt in der Abteilung IV, lehnte es strikt ab, sich mit politischen Angelegenheiten zu befassen, und kooperierte anfangs auch nur widerwillig mit der politischen Polizei, der Abteilung IA, und der Schutzpolizei. Man war eben der Adel.

Die Kriminalkommissare im Morddezernat der Abteilung IV standen in dem Ruf, die besten in Deutschland zu sein. Dies beruhte auf den Leistungen einzelner Beamter wie Ernst Gennat, Ludwig Werneburg, Otto Trettin oder Dr. Erich Anuschat.

Nur wenige jüngere Beamte, die aufsteigen wollten, und einige ältere Beamte, die zu sehr unter ihren Enttäuschungen litten, fanden sich in der nationalsozialistischen Zelle der Kripo zusammen. Ein Mann wie Dr. Rudolf Braschwitz hatte, um sich bei seinen jeweiligen Vorgesetzten beliebt zu machen, erst der DDP, der Deutschen Demokratischen Partei, und der SPD angehört, ehe er 1933 Mitglied der NSDAP wurde. Zu groß war der Einfluss von Ernst Gennat, der zwar ein ziemlich unpolitischer Mensch, aber »demokratisch bis auf die Knochen« war, wie seine Kollegen zu berichten wussten.

Gennats politischer Gegenspieler war der Emporkömmling Otto Busdorf, Sohn eines Dorfbäckers und Polizeispitzel in der Kaiserzeit. Um seine Beförderung zum Kriminalrat voranzutreiben, trat er erst in die SPD ein und näherte sich dann, als dies nicht fruchtete, 1931 der NSDAP mit kleinen Geldspenden.

Die Nationalsozialisten taten alles, um die Berliner Kriminalpolizei zu unterwandern. Einen großen Schritt auf diesem Wege schafften sie im Dezember 1932, als es ihnen bei den Wahlen zum Beamtenausschuss des Polizeipräsidenten gelang, alle sieben Sitze zu erringen, die für die Vertreter der höheren Kriminalbeamten reserviert waren. Die NS-Kandidaten um den Kriminalrat Alfred Mundt sowie die Kommissare Erich Liebermann von Sonnenberg und Arthur Nebe erhielten jeweils etwa 75 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Es gab drei wesentliche Gründe für die Berliner Kriminalbeamten, sich der NSDAP anzuschließen oder wenigstens auf sie zu setzen. Zum einen glaubten sie, dass der Weimarer Rechtsstaat sie in ihrer Arbeit behinderte und das neue Regime ihnen mehr Chancen zur Durchsetzung rigoroser Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen geben würde. Zweitens steckten sie, wenn sie Kommissare waren, im Beförderungsstau und konnten kaum damit rechnen, im bestehenden gesellschaftlichen System jemals befördert zu werden. Und drittens gehörte ein erheblicher Teil von ihnen der zwischen 1890 und 1900 geborenen »jungen Frontgeneration« an, die am Weltkrieg beziehungsweise den Aktionen der Freikorps teilgenommen hatte und stramm antirepublikanisch eingestellt war.

 

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 übernahm Erich Liebermann von Sonnenberg die Abteilung IV. Er war es auch, der für die Einführung nationalsozialistischer Methoden sorgte und eine große Säuberungsaktion einleitete. Insbesondere wurden SPD-Mitglieder aus der Abteilung IA auf Posten versetzt, auf denen sie mit Politik nichts zu tun hatten, andererseits wechselten viele Kriminalbeamte, an ihrer Spitze Arthur Nebe, zur Gestapo in die Prinz-Albrecht-Straße. Nebe sollte dann 1935 zur regulären Kriminalpolizei zurückkehren und Chef der gesamten preußischen Kriminalpolizei werden. NS-Anhänger, die nicht in die Gestapo übernommen wurden, entschädigte man durch ansehnliche Beförderungen. Nur Otto Busdorf fiel nicht nach oben.

Rein technokratisch gesehen, verlor die Abteilung IV nach den politischen Ereignissen von 1933 nichts von ihrer Qualität, zumal Ernst Gennat bis zu seinem Tode am 21. August 1939 im Polizeidienst verblieb.

Noch aber, im Februar 1932, wurde Preußen von Otto Braun regiert, einem Sozialdemokraten, und der Berliner Oberbürgermeister hieß Fritz Elsas und war Mitglied der DDP.

Heinz Franzke staunte, wie groß das Zimmer war, das die Rolland gemietet hatte. Das mussten knapp dreißig Quadratmeter sein. Da war sogar Platz für ein Klavier. Die linke Ecke des Zimmers wurde von einem Kachelofen ausgefüllt, bis zum Fenster folgten dann auf dieser Seite des Raumes ein Tisch mit einem Stuhl und ein Paneelsofa, über dem ein üppiger Spiegel angebracht war. Rechts vom Fenster standen das besagte dunkelbraun gebeizte Klavier, ein Bett, ein Kleiderschrank, ein kleiner Schreibtisch und ein Schließkorb. Vervollständigt wurde die Einrichtung von einem Wäscheständer, der links neben der Tür an der Wand zum Korridor aufgebaut war. Neben der Waschschüssel, die mit trübem Seifenwasser gefüllt war, lagen Kamm und Bürsten. Eine Parfümflasche war umgefallen.

»Fällt Ihnen etwas auf?«, fragte Litzenberg.

Franzke musste nicht lange nachdenken. »Ja, das Bett! Das ist völlig unberührt.«

»Im Gegensatz zu dieser Dame hier.« Albrecht zeigte auf die Leiche. »Die wird es nicht mehr sein. Die Wirtsleute sagen, dass sie, kaum war sie eingezogen, schon Herrenbesuch gehabt hat und die Geräusche eindeutig gewesen seien.«

»Was schließen wir daraus?«, fragte Litzenberg den Kriminalanwärter, wobei er gleichzeitig seinen Blick bedeutungsvoll durch das Zimmer schweifen ließ.

Wieder musste Franzke nicht lange nach einer Antwort suchen. »Dass es die Rolland, wenn sie die Miete für das Zimmer aufbringen wollte, für Geld getan hat.«

»Richtig!«, rief Litzenberg. »Und wenn Sie mir jetzt noch den Namen des Täters sagen, verkürzen wir Ihre Anwärterzeit um die Hälfte.«

Franzke lachte. »Nichts leichter als das! Ich tippe mal auf N. N.«

»Treffer! Aus Ihnen kann noch mal was werden, Franzke.«

Mochte es für die altgedienten Kommissare auch Routine sein, Heinz Franzke fand das alles überaus aufregend.

Nach einer Kurtisane oder Hetäre sah die Rolland nicht gerade aus. Ihre Strümpfe waren nicht von verführerischen Strumpfbändern gehalten worden, sondern links von einem dünnen Gummiband und rechts von einem Bindfaden. Auch ihr schwarzblaues Kleid sah ärmlich aus. Die rote Wolljacke, die sie darüber getragen hatte, war abgenutzt und wies Mottenlöcher auf. Am rechten oberen Jackenaufschlag steckte ein Parteiabzeichen der NSDAP.

Einerseits freute das Franzke, andererseits erfüllte es ihn mit ungeheurer Wut. Vielleicht hatte einer von der Rotfront die Rolland erschlagen. Heinz Franzke schwor sich, nicht eher zu ruhen, bis er den Täter gefasst hatte. »Mathilde Rolland, wir rächen dich!«, flüsterte er.

Im offenen Mittelfach des Schreibtisches lagen Sturmabzeichen und ein Wimpel mit Hakenkreuz, wie man ihn an Autos und Fahrrädern anbrachte, sowie die Mitgliedskarte Nummer 637 643, ausgestellt am 16. Oktober 1930 in München.

Sogar München, dachte Franzke, alle Achtung.

Nun wurde all das, was auf dem Schreibtisch herumlag, Stück für Stück unter die Lupe genommen.

»Im Portemonnaie kein Geld«, sagte Litzenberg. »Natürlich, der Freier hat ja auch nicht bezahlt. Dafür zwei Ausweise: einer für die Leihbibliothek, der andere für das Amtsgericht Neukölln.«

»Da soll sie angeblich mal gearbeitet haben«, fügte Albrecht hinzu. »So die Wirtsleute.«

Litzenberg zeigte auf eine Butterstulle, die auf der Schreibtischplatte lag. »Franzke, was sagt uns das?«

»Da sie nicht angebissen ist, muss der Besuch überraschend gekommen sein.«

Der Kriminalkommissar war nicht ganz zufrieden. »Ja, aber was kann es noch bedeuten?«

»Dass sie die Stulle für ihren Besuch geschmiert hat, der aber nicht mehr zum Essen gekommen ist.«

»Sehr schön, Franzke!« Litzenberg roch an der Stulle. »Die teure Butter und keine Margarine, hm!« Er wusste selber nicht so genau, wie das einzuordnen war. »Vielleicht hat sie ihn verwöhnen wollen. Also doch kein Freier, sondern ein Liebhaber. Einer von denen hier vielleicht.« Er zeigte auf die Photographien eines Reichswehrsoldaten und eines anderen jungen Mannes, die neben einer Hindenburg-Büste auf dem Schreibtisch standen.

»Kann es nicht auch sein, dass beide gleichzeitig hier waren?«, fragte Franzke.

Albrecht schüttelte den Kopf. »Dann hätte sie zwei Butterbrote geschmiert.«

Litzenberg lachte. »Der eine hatte keinen Hunger.« Er sah Franzke an. »Wie kommen Sie denn darauf, dass beide hier gewesen sein könnten?«

»Na, weil hier Skatkarten liegen, und das geht nur richtig zu dritt.«

»Sie könnte ja auch mit den Wirtsleuten gespielt haben«, wandte Albrecht ein.

Litzenberg winkte ab. »Die sind doch gleich, nachdem die Rolland einzogen ist, verreist. Sehen wir mal weiter!«

Das taten sie. Sie fanden Notenblätter, die mit handschriftlichen Anmerkungen der Rolland versehen waren und darauf schließen ließen, dass sie selber Klavier gespielt hatte, und einen Stapel Briefe.

»Was haben wir denn da?«, rief Litzenberg, als er einen Aschenbecher aus durchsichtigem Glas entdeckt hatte. »Einen herrlichen Fingerabdruck! Von der Größe her ganz bestimmt der eines Mannes. Na bitte!«

Man machte sich daran, mit den Eheleuten Zeitz zu sprechen und die Nachbarn zu befragen. Zwei von ihnen hatten einen fremden Mann am 21. Februar die Treppe heraufkommen sehen und konnten ihn recht gut beschreiben. Als man ihnen die Photos der beiden Männer zeigte, die bei der Rolland auf dem Schreibtisch standen, schlossen sie aus, dass es einer von denen gewesen war.

Als sie wieder an den Tatort zurückkehrten, sagte ihnen Erich Zeitz, dass ihm inzwischen noch etwas eingefallen sei. »Beim Umzug, da haben dem Fräulein zwei Männer und eine Frau geholfen, und da kann ich mich erinnern, dass die Frau zu einem gesagt hat, als sie das Klavier hochgetragen haben: ›Mehr nach rechts!‹ Daraufhin hat der Mann geantwortet: ›Jeht nich, ick heiße Lincke, ick kann nur nach links.‹«

Das war ein Ansatzpunkt, und als sie die Einwohnerkarteien durchsahen, hatten sie schnell den Mann gefunden, der es sein konnte: Heinz Lincke, ein junger Schlächter aus der Elbestraße. Er kam auch deshalb in Frage, weil Mathilde Rolland vorher ganz in der Nähe, in der Kaiser-Friedrich-Straße, gewohnt hatte.

Litzenberg und Franzke machten sich auf den Weg in die Elbestraße. Genau in der Mitte zwischen dem Neuköllner Schifffahrtskanal und der Sonnenallee fanden sie Lincke in einem Mietshaus. Er wohnte noch bei seinen Eltern und war arbeitslos.

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