Stein

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Seriyadan: Lindemanns #230
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Horst Koch

Stein

Der Euro-Thriller


Vorwort

Zwei führende Vertreter Deutschlands im System der Europäischen Zentralbanken, bestehend aus der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und den nationalen Notenbanken (nachfolgend der Einfachheit halber insgesamt auch EZB genannt), sind in den vergangenen Jahren aus Protest gegen die Politik der EZB, zurückgetreten. Ein weiterer führender Vertreter Deutschlands in der EZB hat vor dem Bundesverfassungsgericht als Sachverständiger gegen diese Politik Stellung bezogen.

Die Anforderungen der EZB an die Sicherheiten, die für ihre Kredite an Geschäftsbanken zu hinterlegen sind, werden seit Jahren Schritt für Schritt gesenkt. Böse Zungen bezeichnen die EZB deshalb als „Europas größte Bad Bank“.

Die zypriotische Laiki Bank hat nach Zeitungsberichten vor ihrer Insolvenz von der EZB Kredite in Höhe von 9 Mrd. Euro erhalten. Eine Untersuchung dazu, wie es zu diesen Krediten kommen konnte, ist nicht bekannt geworden.

In diesen Vorgängen steckt so viel Brisanz, dass es mich, den Autor, gedrängt hat, diese romanhaft zu bearbeiten.

Romanhafte Bearbeitung bedeutet: Personen, Vorgänge, Dispute in dem Roman sind in absoluter literarischer Freiheit erfunden und entsprechen in keiner Weise der Wirklichkeit. Die oben genannten Vorgänge bilden lediglich eine Quelle unverbindlicher künstlerisch-literarischer Inspiration für die Romanhandlung.

Die Politik der Eurorettung wird in dem Roman kritisch bewertet. Dies ist ausschließlich dem Gang der Romanhandlung geschuldet und steht nur in einem losen Zusammenhang mit der fachlichen Einschätzung dieser Politik durch mich selbst.

Das Fondgespräch

Er war ein Verbrecher. Seit diesem Spätnachmittag. Jetzt war alles anders, war intensiver, verantwortungsloser, tödlicher als bisher. Kein Plan, kein Ziel lenkte ihn ab. Es gab nur die Anspannung des Augenblicks, in dem sich alles entscheidet. Jeden Augenblick neu.

Aus den Boxen der Audi-Limousine eine weibliche Stimme: Rau, verschleiert, die Silben gedehnt, träumend, Klavierklänge dazwischen, schleichend, lauernd. Er atmete tief ein: Roter Blütenduft schwappte von außen in den Wagen. Ja, die Farbe war Rot und alles war gleich-zeitig, gleich-gültig. Er stemmte die Arme gegen das Lenkrad der Limousine wie zur Abwehr einer alten Macht, die ihn noch nicht ganz loslassen wollte.

Die Limousine stand ein wenig abseits auf dem beleuchteten Vorplatz einer Privatkundenbank am Rande der City von Berlin. Sein Blick war auf das Eingangsportal der alten Villa mit modernem Anbau gerichtet. Zwei Männer verließen das Haus und kamen ohne Umschweife auf die Limousine zu. Das Weiß ihrer Anzughemden leuchtete im Licht der Anlage. Er sprang aus dem Wagen, ging den beiden entgegen und langte nach der Tasche, die einer der beiden mit festem Griff umklammert hielt. Sein Angebot wurde ignoriert. Er verbarg, dass er den Mann kannte – vom Fernsehen oder so. War er nicht Staatssekretär im Bundesfinanzministerium? Ja, er war sich sicher. Er bot einem Spitzenpolitiker die Spitzendienste eines Begleitservice, den Begleitservice seiner früheren Klassenkameradin Ruth. Fürs Finanzministerium arbeiten! Das hätte ein Traum von ihm sein können, in seinem früheren Leben. Er grinste still vor sich hin. Er war ein anderer geworden, er war Stein geworden.

Er fuhr langsam, im Stil eines Herrenfahrers. Die Männer unterhielten sich gedämpft. Stein lauschte, erst nur oberflächlich, dann konzentriert. Der Begleiter des Staatssekretärs sprach mit französischem Akzent und streute französische Worte ein. Der Staatssekretär bemühte sich nicht, seine schwäbische Herkunft zu verleugnen.

„Die von der GI habe nix, gar nix. Nix als Gesprächsfetze. Die bluffe nur. Und ihr müsst au zur Vernunft komme. Wir riskiere alle Kopf un Krage. Wenn so was publik wird. Herrgott.“

„Ihr wisst, was wir wissen. Wir hüten es, pour vous. C’est mieux pour tous. Comme vous dites: Wissen ist Macht.“

„In dem Fall Machtmissbrauch. Ganz klar brutalstmöglicher Missbrauch.“

„C’est la vie, Dr. summa cum laude. C’est très simple. Mein Land ist klein. Très petit. Wir fühlen uns bedroht. Die Finanzindustrie ist das Wichtigste, was wir haben. Das lassen wir uns nicht kaputtmachen. Tu comprends, n’est-ce pas? Wenn ihr nicht mitmacht, heißt das auch für euch: Les jeux sont fait.“

„Ich hab Informatione, dass da ein paar Leute schon hantiere wolle mit der Macht. Zum eigene Vorteil.“

„Ce sont des ... wie sagt ihr, Peanuts. Die stellen wir ruhig mit Peanuts.“

„Manchmal werde aus denne Peanuts hinterher Kanonekugle.“

„Ce sont mes soucis. Und bei mir sind die sicher aufgehoben.“

„Mei Sorge isch, wie lang mir die Mensche noch hinhalte könne mit der Lügerei. Alles bloß Abwehr von böse Spekulante. Dabei hat mein Chef die Katz doch schon aus dem Sack gelasse. Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft. Des hat mit Spekulante doch gar nix zu tun. Des isch ein Langfristproblem. Um mit uns zu konkurrieren müsste die erscht mal Deutsch lerne. Des isch doch reine Ideologie, Euroideologie. Die Mensche umerziehe, damit des System klappt. Für so was hätt ich kein Dr. summa cum laude mache müsse. Un die Leut werde des schneller merke, als uns lieb isch.“

„Mon ami, die merken vielleicht, dass du den Dr. auch nur erlogen hast? Um den Wählern zu imponieren, sie zu täuschen?“

„Ich hab niemanden angelogen, bis jetzt. Der summa cum laude isch erarbeitet, nicht ergaunert. Ich bin kein Gauner. Und des sin jetzt Dimensione ... Herrgott, Schang.“

Schang: Stein brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es sich nicht um einen asiatischen Namen, sondern um die berühmte schwäbische Variante des französischen Nasallautes handelte. Der Mann hieß ganz einfach Jean. Er konnte ein Grinsen knapp unterdrücken. Die Gäste hätten es im Rückspiegel bemerken können.

„Jetzt gehts net um ...“

Stein musste sich auf den Verkehr konzentrieren. An einer befahrenen Kreuzung war die Ampel stillgelegt. Konzentriert navigierte er den Wagen an schlecht oder gar nicht beleuchteten Fahrrädern vorbei.

„Mache se doch die Musik aus“, schnauzte der Staatssekretär genervt.

„Non, non, c’est très joli“, fuhr Schang dazwischen.

Stein drehte die Lautstärke herunter auf fast nicht mehr hörbar.

„Ihr habt keine Schangse, ihr habt nur mich, den Schang.“ Der Schang genannte Mann äffte den schwäbischen Akzent des Staatssekretärs nach. Der nahm das kommentarlos hin. Vielleicht hat er es gar nicht registriert. „Den Schang mit alten Geschichten, mit Gespenstern, avec des monstres. Und jetzt bitte wieder Musik, laut, ganz laut.“

Wie im Reflex drehte sich Stein zu dem Fahrgast um. Er hoffte, der Mann im Fonds würde etwas nachschieben zu den „alten Geschichten“ und den „Gespenstern“. Aber er sah nur in ein unangenehm selbstgefälliges Grinsen. Er stellte die Musik laut. Der Staatssekretär schwieg.

In diesem Augenblick tauchte ein Fahrrad in Steins Blickfeld auf. Nur wenige Meter vor ihm. Es war unbeleuchtet. Stein drückte mit aller Kraft auf das Bremspedal. Der Radfahrer konnte noch rechtzeitig Richtung Bordstein ausweichen. Der Audi fuhr mit dem hämmernden ABS an dem Zweirad vorbei, kam zum Stehen. Durch das Seitenfenster beobachtete Stein, wie der Radfahrer über die Kante kippte und zu Boden stürzte.

„Fahren Sie weiter, fahre se“, donnerte der Staatssekretär. Stein folgte der Anweisung. Der Wagen rollte langsam weiter. Im Rückspiegel sah Stein, wie der Radfahrer sich mühsam erhob, stolperte, wieder lag. Wieder stemmte er sich gegen das Lenkrad. „Bleib, wie du bist“, klang es in seinem Ohr, „bleib, wie du bist“. Das war die Formel, die er so oft in seinem Leben aus nachsichtigen Gesichtern hingenommen hatte. Sie hatte ihm gutgetan. In seinem früheren Leben. Als er noch Gernot Öderle gewesen war. Jetzt spürte er die mitleidige Note, die darin schon immer gelegen hatte. Es tat weh und er gab Gas.

„Herrgott, was fahre Sie denn zamme?“

Der andere nahm’s leichter. „Der übt schon für den Crash, der kommt, wenn ihr nicht spurt. Pour votre Crash“, schob er bedeutungsvoll nach. „Um die Menschen am Straßenrand kümmern wir uns später.“ Leises, selbstgefälliges Lachen folgte der Bemerkung. Über die Lehne hinweg klopfte der Mann dem Chauffeur auf die Schulter. Der Staatssekretär murmelte vor sich hin:

„Der Crash fangt vielleicht schon an, wenn wir hier zamme gsehe werde. Des kann scho lange und die Finanzmärkt spiele wieder verrückt. Hemmer alles scho ghabt.“

Stein presste eine ungehörte Entschuldigung heraus, konzentrierte sich auf die Straße und auf das Schweigen im Fonds. Das Gespräch war beendet.

Eine fremde Melodie mischte sich in die Radiomusik. Es war das Handy des Staatssekretärs. Der reagierte mit einem unwilligen „Ja“. Stein schaltete das Radio aus. Ohne etwas gesagt zu haben, beendete der Staatssekretär das Gespräch.

„Grünes Licht. Der Typ gibt tatsächlich grünes Licht. Ihr könnt weitermache. Aber ich sag euch: Ihr seid alle verrückt gworde, verrückt.“ Nach einer kurzen Pause fügte er noch ein resigniertes „von mir aus“ an.

Stein beobachtete, dass jetzt auch Schang sein Handy am Ohr hatte. Stein hörte aufmerksam hin: „Grünes Licht, ja, grünes Licht. Alors, faites une offre qu’ils vont accepter ... qu’ils doivent accepter.“ Danach war das Gespräch beendet.

„Privatclub“ stand auf dem Messingschild, das im Licht der Straßenbeleuchtung schimmerte. Sanft brachte Stein die Limousine zum Stehen. Wieder spürte er die Hand auf seiner Schulter.

 

„Fahren Sie weiter. Zur Rue ...“ Der Mann nannte eine Straße. Stein programmierte das Navi. Unterwegs unterrichtete er per Handy seine Chefin Ruth. Ihre Reaktion wartete er nicht ab.

Das Notebook

„Fahr ganz langsam, doucement, Johann. Du heißt doch Johann, alle Chauffeurs heißen Johann. Kannst mich auch duzen. Ich heiße Schang.“ Wieder verwendete er den schwäbischen Nasallaut. „Hier sind alle per du.“

Hier, das war ein Gelände mit mehreren einzeln stehenden zwei- bis dreistöckigen Häusern mit schwarzen Fensterhöhlen. Auf Weisung von Schang zog Stein den Wagen auf den welligen, da und dort mit Restasphalt bedeckten Boden neben der Straße. Die Scheinwerfer streiften gelbe Sandsteinfassaden, Graffiti, Plastiktüten, Gestrüpp, Halden mit Bauschutt. Die mehrstöckigen Häuser mit hohen Fenstern, starken Steinsimsen und vereinzelt mit Erkern hatten offenkundig andere Zeiten erlebt, Zeiten soliden Wohlstands, seriösen Unternehmertums. Ein paar Männer streunten herum, Frauen standen gelangweilt vor den Hauseingängen, vereinzelt, in kleinen Gruppen, meist in leichten Regenmänteln, die lose um ihre Schultern hingen. Herausfordernd blickten sie nach der Limousine, die langsam, doucement, über das Gelände glitt. Eine Frau sprang vor den Wagen, verschwand aber sofort wieder, ebenso wie alle anderen. Wie um Schutz zu suchen vor einem nahenden Monster verzogen sie sich in die geheimnisvollen Tiefen der Gemäuer.

Stein gab geistesgegenwärtig Gas lenkte den Wagen zurück auf die Straße und brachte ihn zum Stehen. Ein Polizeiwagen schoss auf das Gelände, bremste scharf. Zwei Polizisten sprangen heraus, eilten in die Häuser. Die drei Männer in der Limousine beobachteten das Schauspiel. Nach wenigen Minuten kamen die Polizisten zurück. Sie führten zwei der Frauen mit und verfrachteten sie in den Polizeiwagen.

„Zwei haben sie erwischt. Zwei von vielen Illegalen, Drogendealern, Kriminellen. C’est la vie.“

„Wir habe hier nix verlore. Zurück zum Club.“

„La police, c’est formidable. Toutes les femmes. On ne peut pas les négliger. Maintenant c’est à moi, je suis leur force de frappe, leur monstre.“ Schang sprang aus dem Wagen und war weg.

„Gehe se hinterher. Ich hoff, sie habe gnug Geld dabei.“ Der Staatssekretär schnaubte wütend. Stein gehorchte, warf sich seinen Regenmantel über und folgte dem bulligen Typ, der in wuchtigen Bewegungen vorwärtsruderte. Ruth hatte Stein Geld mitgegeben. Für den „Verzehr im Club“.

Die Frauen standen schon wieder vor den verlassenen Häusern. Sie waren meist normal gekleidet: Röcke, Blusen oder Sweatshirts unter offen getragenen Regenmänteln. Der Bulle ging zügig an ihnen vorbei, schien ihnen kaum einen Blick zu gönnen, ignorierte die leisen Zurufe. Plötzlich packte er eine am Arm, zog sie in den nächstliegenden Hauseingang. Es sah aus wie ein Überfall. „Force de frappe“ hatte er gesagt. Stein blieb stehen, beobachtete. Ein Wichtigtuer, einer, der sich die Schwachen, Wehrlosen, Rechtlosen aussucht, dachte er. Mit dem Staatssekretär im Finanzministerium der Bundesrepublik Deutschland machte er, was er will. Immerhin, alle Achtung.

Das Geschäft der Illegalen schien nicht besonders gut zu gehen. Es waren nur wenige Freier zu sehen. Zwei Männer in salopper Alltagskleidung standen in seiner Nähe. Sie schienen in ihr Schweigen vertieft. Ein kleiner Mann verhandelte mit einer der Frauen. Verhandelte! Er griff nicht einfach zu wie Schang.

Stein richtete seinen Blick zum Himmel. Wolken formten Nacht, bewegten Dunkelheit, schufen Erinnerung. In seinem früheren Leben würde er jetzt an einem Schreibtisch über Zahlen sitzen: Weltsparrate, seit Jahrzehnten steigend – Einkommensverteilung, seit Langem relativ immer mehr oben, immer weniger unten. Wer soll denn die Zinsen zahlen für immer mehr Vermögen in wenigen Händen? Die hier vielleicht? Scheinvermögen verbrennt in Wohlstandsstrohfeuern. Stein geriet in Wut auf das System, dann auf sich selbst. An diesem Nachmittag war er ein anderer, war er Stein geworden – fertig. Was ging ihn das noch an. Er sah auf den Hauseingang, in dem die „force de frappe“ verschwunden war, nahm sich vor, nur noch dorthin zu sehen. Das war sein Job, nicht die Einkommensverteilung.

Eine Frau stand plötzlich dicht neben ihm, drängte sich gegen seine Schulter. Er roch ihr süßliches Parfum, vermischt mit leichtem Schweißgeruch, sah die dunkle, fast schwarze Haut, das Zucken um ihr Lächeln. Schweres schwarzes Haar glitt über seine Schulter. Stein wich reflexartig zurück, herrschte sie an: „Verschwinde.“ Sie wandte sich ab und ging in die Nacht hinein. Stein blickte ihr hinterher. Sie verschwand in einem Haus am Rande des Geländes. Die Fenster dort waren erleuchtet, schummrig zwar, aber immerhin. Das war zweifellos elektrisches Licht. Aus der Ferne war ein Außenschild zu erkennen. Wahrscheinlich eine kleine Kneipe. Ja, klar, die Frauen mussten so etwas wie eine Operationsbasis haben. Ein Basislager für ihren Aufstieg. Aufstieg wohin? Die da oben, die Eliten blieben doch unter sich. Das haben alle Forschungen ergeben. Fertig, fertig, nichts mehr davon. Wieder einmal ballten sich Steins Fäuste.

Konzentriert nahm er den Hauseingang ins Visier. Schang kam heraus, langsam, ein wenig wankend. Die halb gelöste Krawatte hing schief über dem fleckigen Hemd. Das Jackett war über die Schulter geworfen. „Bezahl sie ordentlich“, brummte er rau vor sich hin, als er an Stein vorbeiging, ohne ihn anzusehen.

Stein ging in das Haus. Ein Labyrinth umfing ihn, ein Labyrinth aus Geruch, aus Moder, menschlichen Ausscheidungen, flackerndem Kerzenlicht, aus Verwahrlosung und Verfall – dem Wimmern einer Frau. Er fühlte sich angezogen von dieser Hässlichkeit, wie vom Versprechen einer verbotenen Freiheit. Er tastete sich vor zu einem kahlen Raum, der im Licht einer Kerze geheimnisvoll schimmerte. Er betrat den Raum, stieg dabei über ein Stück Stoff. In einer Ecke kniete sie gekrümmt auf einer Matratze. Ihre Bluse war zerrissen, der Rock nach oben geschoben. Zwei zusammengekniffene Augen sahen Stein entgegen. Unter ihrer Nase zogen sich schwarze Streifen über die dunkle Haut, die Lippen, das Kinn. Unwillkürlich presste Stein seine ohnehin dünnen Lippen zusammen, kramte alles Geld aus seinen Taschen, machte Anstalten, es neben die Matratze zu legen. Nein, hier war der Ort, ein anderer zu sein. Er knüllte ein paar Geldscheine zusammen, warf sie auf die Matratze. Dorthin wo das Blut der Frau sich dunkel versammelt hatte. Dann wandte er sich ab, stieg wieder über das Stück Stoff, verhedderte sich dabei. Er hob die Textilie, ein Regenmantel, auf um sich zu befreien. Sein Blick fiel noch einmal zurück auf das Kerzenlicht, die Matratze, die Dunkelhäutige, die sich fröstelnd gegen die Wand lehnte. Dann tat er doch, was er immer getan hatte, wenn er in kalter Nacht den Mantel einer Frau in Händen hielt. Es war für ihn wie eine fest verankerte Pflichtformel aus alten Zeiten: Er legte den Mantel um den Oberkörper der Dunklen. Schweigend duldete sie die Geste, sah ihn dabei mit zusammengezogenen Brauen an. Wieder stand er unter dem Türrahmen, zögerte dort, sah noch einmal zurück, sah zurück in eine verlorene Zukunft.

„Hast du Feuer?“ fragte sie in unerwartet sauberem Deutsch, kramte dabei eine zerdrückte Schachtel aus dem Mantel, schob sich eine krumme Zigarette in das blutverschmierte Oval ihres Mundes. Stein schüttelte den Kopf.

„Du hörst dich richtig deutsch an“, bemerkte er in sachlichem Ton.

„Ich bin Griechin. Ja, das hier ist Griechenland. Mein Griechenland. Mehr ist nicht übrig davon. Außer Schlagen, Würgen, Vögeln.“

Die Stimme der Frau war dunkel, ein wenig kratzig. Stein bemerkte die Verzweiflung – natürlich. Diese Frau gehörte wahrscheinlich nicht hier her. Gehörte überhaupt jemand hierher? Die Dunkelhäutige sah Stein einen Augenblick, nur einen ganz kleinen Augenblick lang an, als könne er helfen. Ja, es gab diese Situationen, in denen jeder Mensch dem anderen eine Hilfe sein kann, jeder, auch der Geringste, der Untauglichste. Genau das ist Verzweiflung. Stein wischte den Gedanken weg. Er wollte sich nur alles einprägen. Keine Formeln, Zahlen, Zusammenhänge. Das war früher, das würde er ändern, auch das. Jetzt. Das halblange Haar der Frau hing in Rastalocken um die hohlen Wangen, den vollen, ovalen Mund. Die heruntergerissene Bluse entblößte einen kräftigen Hals, kleine Brüste. Kratzspuren, dunkle Verfärbungen am Oberkörper waren nicht zu übersehen. Stein blieb sachlich: „Und wo hast du deutsch gelernt?“

Der Gesichtsausdruck der Dunklen entspannte sich für einen Augenblick. Wie in unwillkürlicher Dankbarkeit für das Interesse eines Fremden.

„Ich hab hier studiert. Hier in Berlin. Kunst, die Kunst des Möglichen, Politik. Kannst du dir das vorstellen? Griechenland und Politik. Ich weiß nicht, was in meinem Land passiert. Seit Jahrzehnten. Mit Politik hat das gar nichts zu tun. Gar nichts. Die Kunst des Unmöglichen, die Kunst, über Wasser zu gehen. Jetzt saufen wir ab. Meine Familie ist abgesoffen. Sie schicken kein Geld mehr, keinen Euro. Umgekehrt müsste es jetzt gehen. Ich müsste denen was schicken. Aber von was? Jetzt bin ich dran mit Absaufen.“

Auch die Worte dieser Frau schufen Erinnerung. Stein stand vor ihr, vor seinen Erinnerungen. Griechenland: Beinahe 15 Prozent Leistungsbilanzdefizit, das bedeutet enorme Importüberschüsse, natürlich kreditfinanziert. Das hat Nachfrage auch in Deutschland geschaffen, zum Besipiel nach Autos. Es geht gar nicht mehr ohne kreditfinanzierte Konjunkturprogramme. Die Amerikaner, die Griechen und Co. waren die Programme. Und jetzt? Wie soll das weitergehen? Wenn der Aufbau von Staatsdefiziten verlangsamt wird? Wer nimmt den Vermögenden dann die wachsenden Ersparnisse ab, wer?

„Wer ist die Sau, für den du den Stiefellecker machst?“, fragte die Frau in Steins Gedanken hinein. Der antwortete nicht mehr. Er musste gehen, Stiefel lecken. Warum nicht? Gab es eine Alternative? Er fühlte sich der Geschundenen für einen Augenblick nah, während er sich zurückzog. Die Luft draußen war frisch, frei von Geruch, von Erinnerung, von der Geschundenen.

Um die Limousine herum bewegte sich ein dichtes Knäuel menschlicher Körper in heftiger Bewegung. Eine Figur ging zu Boden. Zwei Schatten knieten über dem Mann, machten sich dann im Wagen zu schaffen. Stein zögerte. Dann begann er zu rennen, zu rufen, zu schreien. Zwei Schatten entfernten sich rasch. Der Staatssekretär lag neben dem Wagen auf dem Boden. Er stöhnte. Stein sah sich um, sah in den Wagen. Kein Schang. Das Handschuhfach stand offen. Ein geöffneter Aktenkoffer lag auf dem Vordersitz, auf dem Boden zwischen Rücksitz und Vordersitz glänzte etwas Schwarzes. Stein erkannte ein Notebook. Er griff zum Handy und forderte Polizei und Notarzt an. Wieder fiel sein Blick auf das handliche schwarze Ding. Stein grinste, fühlte Freiheit. Es war ein selbstgefälliges Grinsen, so wie er es bei Schang gesehen hatte. Er griff zu, nahm das Notebook unter seinen Mantel. Als die Signale des Polizeiwagens und des Notarztwagens zu hören waren, kauerte er neben dem Staatssekretär nieder und flüsterte: „Die Hilfe ist jetzt gleich da. Ich suche Schang.“

Stein rannte los, das Notebook unter dem Mantel fest im Griff. Er kreuzte das Scheinwerferlicht der beiden heranrollenden Wagen und war weg.

Wie sollte er das Notebook jetzt sicher loswerden? Wie sollte er Schang finden? Die Kneipe, ja, die Kneipe. Dort könnte er das Notebook hinterlegen, verstecken. Verrückt, verdammt, aber was sonst sollte er machen? Vielleicht würde er dort Schang finden. Verdammt, verdammt. Stein eilte den schummrig erleuchteten Fenstern entgegen. „Freezone – die Bar“ stand auf dem leuchtenden Kneipenschild. Freezone, Zone der Gesetzlosen, der Gesetzlosigkeit, der verbotenen Freiheit. Da war er richtig.

Abgestandener Zigarettenrauch, Geruch von warmem Fleischkäse und altem Fett, von warmem Spülwasser, auch eine Spur von Parfum umfingen Stein. Er atmete tief ein, noch einmal. Hinter der Theke stand ein Riese. Er warf Stein einen kurzen, gleichgültigen Blick zu, tauchte Gläser in ein Becken, zog sie triefend wieder heraus. Ein paar Frauen saßen in Mänteln um einen Tisch, rauchten, dazwischen Flaschen, schaumfleckige Biergläser. Die Blicke der Frauen suchten Kontakt, suchten Stein. Der hielt das Notebook immer noch unter seinem Mantel. Sein Griff darum wurde fester. Hier etwas deponieren? Verrückt, verdammt verrückt. Eine der Frauen erhob sich und ging in Richtung Theke. Der Riese rief ihr ein paar Worte entgegen. Darunter ein Name, vielleicht Sofia. Es klang ein wenig wie Griechenlandurlaub, wie Meer, Salz, Olive, wie dunkler Wein, der sich in eine durstige Seele ergießt, wie eine große Weisheit: Sofia. Jetzt erkannte Stein die Frau, den dunklen Teint, die hohlen Wangen um den vollen Mund. Die Haare waren jetzt zurückgebunden, gaben eine großflächige Stirn frei.

 

„Stiefellecker“, fauchte sie vor sich hin, ohne sich nach Stein umzusehen. Und noch einmal, „Stiefellecker“.

Entschlossen ging Stein auf die Frau zu. „Bleib, wie du bist“, sagte er sanft und genoss die Demütigung, die er durch die Dunkle erfahren hatte. „Komm mit“, sagte er dann streng, packte die Frau mit seiner freien Hand am Arm und zog sie vor die Türe. Sie ließ es sich gefallen. Demütigung, Unterwerfung waren für sie Teil des Geschäfts. War es bei ihm nicht genauso? Ja, das gehörte dazu, zur Gleichgültigkeit, Gleichgültigkeit gegen sich selbst, zur Verantwortungslosigkeit, zur verbotenen Freiheit. Er hielt ihr das Notebook hin, sah lauernd in ihr Gesicht. Das Weiß ihrer Augäpfel glänzte in der Nacht. „Ich brauche einen Partner, jetzt gleich. Einen, der das hier verwahrt.“ Er machte eine knappe Bewegung mit dem Notebook, sah die Dunkle dabei scharf an. „Ich weiß nicht, was es wert ist. Vielleicht nichts. Wir werden sehen – Sofia.“ Er sagte den Namen mit aller Sanftmut, zu der er fähig war, und blickte in überraschte, uralte Kinderaugen. Der Name stimmte also und er war ein Passwort: Er hatte damit eine Partnerin gewonnen.

Plötzlich stand Schang neben den beiden.

„Komm, Johann. Wir gehen“, sagte er aufgeräumt und ging weiter, ohne sich um die beiden zu kümmern. Sofia machte einige Schritte hinter dem Peiniger her. Stein hielt sie zurück.

„Ich brauch dich hier. Ich muss mich auf dich verlassen. Es ist vielleicht sein Notebook.“ Stein machte eine Kopfbewegung in Richtung Schang.

Tonlos nahm die Griechin das Notebook an sich, schob es unter ihren Mantel. Da stand Schang plötzlich neben den beiden.

„Tut mir leid“, sagte er leise, wie einer, der es gewohnt ist, dass man ihm zuhört, ihm alles vergibt. „Ich hoffe, er hat dich gut bezahlt. Tut mir leid.“ Schang ging ein wenig in die Knie, um der eher kleinen Frau von unten ins Gesicht zu sehen. Stein schob sich blitzschnell zwischen die beiden. Sofia schluckte hinunter, was für ihren Peiniger gedacht war.

„Wir bleiben in Kontakt, nicht wahr. Wir brauchen Frauen wie dich. Dauernd.“ Mit diesen Worten gab Stein Schang nach. Der hatte ihn mit schmerzhaft festem Griff am Arm gepackt und versucht, ihn wegzuschieben. Sofia hatte sich schon abgewandt. Schang pendelte in bulligem Gang zum Wagen. Stein kehrte noch einmal zu der Griechin zurück. Er ließ ein Handy in die Manteltasche der Griechin gleiten. „Ich habe die Nummer des Handys, ich melde mich“, flüsterte er.

Schang und knapp hinter ihm Stein näherten sich dem Audi. Schang hatte seine Schritte beschleunigt, ja, er rannte die letzten Meter. Der Notarzt kam den beiden ein paar Schritte entgegen. „Sie gehören zu dem Mann in dem Wagen, nicht wahr? Er müsste ins Krankenhaus. Dringend. Er will nicht. Es ist seine Verantwortung. Fahren Sie vorsichtig, sehr vorsichtig.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und entfernte sich. Im Fond des Audi saß der Staatssekretär mit einem Kopfverband. Die beiden stiegen ein. Schang fluchte, lachte, schwieg. Langsam, vorsichtig manövrierte Stein den Wagen über das Gelände und über die Bordsteinkante auf die Straße. Endlich sprach der Staatssekretär.

„Alles ein Missverständnis, kein Überfall. Die Polizei ist weg. Erkannt habe sie mich net, auch net mit Ausweis, die Dackel. Gott sei Dank.“

„Die wissen nicht, was wir zu verhandeln haben. Sonst würden sie dich kennen. Vielleicht sogar überfallen und totschlagen.“ Schang lachte.

„Mein Kopf isch trotzdem schwerer und de Geldbeutel leichter. Den hab ich Gott sei Dank noch. Nurs Geld isch weg. Die haben nix genomme, was sie verraten könnt.“

„Profis, n’est ce pas. Keine von den Weibern, die hier rumhängen. Oder doch? Hat nur unser Johann die in die Flucht geschlagen?“

Der Staatssekretär zog sein Handy aus der Tasche. „Das hab ich auch noch.“ Er wählte, sprach kurz, leise, sachlich. Er habe eine Nachtsitzung vor sich, komme voraussichtlich erst am nächsten Abend nach Hause, liebe Grüße an die Kinder. „Was soll ich denn meiner Frau sonscht erzähle mit so einem Kopfschmuck.“

„So und jetzt zurück zum Club, Johann. Kein Überfall. Des gilt auch für dich.“

„Kein Überfall“, murmelte Stein zur Bestätigung und beschleunigte den Audi vorsichtig. Mit dem Handy, das Ruth ihm mitgegeben hatte, informierte er seine Chefin.

Mein Name sei Stein

Gernot Öderle hielt inmitten der verworfenen Idylle eines kleinen Platzes inne. Zweistöckige alte Häuser, davor Kopfsteinpflaster, geparkte Autos. In der Mitte des Platzes freundliches Grün, Bäume, getaucht in das Licht des Abends. Fetzen melancholischer Musik aus einer nahen Bar. „Soulangabar“ stand über dem Eingang. Gernot sprach den klangvollen Namen leise vor sich hin, wieder und wieder, fühlte sich fortgetragen, fort von sich selbst: Soulanga. Er ignorierte das „Schatz“ und „Süßer“, das ihm im Lauerlicht des Abends Frauen ins Ohr flüsterten.

Schon seit Tagen und Nächten war er unterwegs gewesen, hatte die Stadt, die Hauptstadt Deutschlands, durchstreift. Zu Fuß, mit der U-Bahn, der S-Bahn, mit Bussen. Er war gependelt zwischen Wohnbezirken, Gewerbegebieten, Randzonen. Die Zentren mit ihren Prachtstraßen, den bedeutungsvollen Bauwerken, den weiten Plätzen, dem repräsentativen Gehabe einer Großstadt, Weltstadt hatte er gemieden, so gut es ging.

Hier, in dieser Stadt, hatte er einer der Besten sein wollen, ein Primus. So wie er es seit jungen Jahren gewohnt war. Einer, der wichtig ist, auf dessen Fähigkeiten vertraut wird. Und jetzt? Jetzt streunt er um unbelebte Endstationen, trieb sich in Hinterhöfen herum, sog den Geruch von Mülltonnen ein, wurde gleichgültig, manchmal misstraurisch angesehen, ließ abweisende Blicke und Fragen, was er suche, über sich ergehen. Zur Übernachtung mit Obdachlosen hatte er sich erniedrigt, nur um nicht mehr in Berührung zu kommen mit sich selbst. Er würde für immer abseits leben, ziellos und so war es gut.

Er vergrub seine Hände in den Taschen des weiten Regenmantels, den er trug, seit er seine Bahnen durch die Stadt zog, betastete die fremden Gegenstände, die sich darin befanden, zog sie heraus, fühlte das Weiche, die Beulen, eine zerfranste Naht, roch den fremden Geruch von Schweiß, Parfum, altem Leder, wog mit leichter Hand den Schlüsselbund, das blutverschmierte Handy. Ein nachsichtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Ekel vor dem Fremden? Nein, es gab keinen Ekel mehr, keinen Selbstekel, keinen Anstand. War es das, was ihn in diesen Tagen verändert hatte? War er als Gernot Öderle einfach nur selbstekelkrank durchs Leben gegangen? Jetzt wollte er ein Stein sein, unempfindlich gegen Ekel, langsam dem Ende zugleitend.

Zuerst war da nur das Hämmern des Antiblockiersystems. Ganz nah. Dann stand er schräg vor ihm: Ein SUV, schwarz, breit, stark, die Reifen wuchtig gegen ihn gedreht. Das vordere Seitenfenster glitt lautlos herunter. Ein Frauengesicht lächelte:

„Ich glaub’s nicht. Das ist doch der Öderle. Stimmt’s?“

Gernot war zurückgewichen. Was wollte die? Kannte die ihn? Anscheinend. Bestimmt würde sie gleich sagen „bleib, wie du bist“. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über sein knabenhaftes, schmales Gesicht. Seine kleinen, tief liegenden blauen Augen wurden noch kleiner. Die dünnen Augenbrauen wanderten nach oben. Die Enden des grauroten Striches, den seine Lippen bildeten, verzogen sich in leicht zuckenden Bewegungen.

„Du verwechselst mich“, sagte er betont gleichgültig und kurz angebunden, schob dabei sein vorspringendes kantiges Kinn noch weiter vor.