Kitabı oxu: «Wissenssoziologie», səhifə 9

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Die vermeintliche Vorrangstellung der Wissenschaft ist in Schelers Augen einem im engeren Sinne soziologischen Effekt geschuldet: Bei der Ausbreitung der modernen [92]Wissenschaft handele es sich im Grunde um die Durchsetzung einer Klassenphilosophie: Wissenschaft sei die Philosophie der sich im 19. Jahrhundert immer stärker durchsetzenden bürgerlichen Klasse. Selbst Comte betrachte die Wissenschaft ja keineswegs nur als neutraler Beobachter – er trete selbst als Fürsprecher des Bürgertums auf, das in der wissenschaftlichen Kontrolle und Herrschaft der Natur ihre ökonomischen Antriebe befriedigte. Denn dem Bürgertum gehe es um mehr als um die Auffindung bloßer Gesetze. Die Erkenntnis der Gesetze diene einem kalkulierbaren »voir pour prévoir«, einer ihrer Lebensführung gemäßen rationalen Planung der Zukunft.

Abb. 6: Die Schelerschen Wissensformen I

Scheler zufolge ist die Annahme, dass die Wissenschaft die anderen Wissensformen verdrängt und damit die Gleichsetzung der verschiedenen Wissensformen, einer der Gründe für das, was ihm als die Verwirrung seiner Zeit erschien: Religiöses würde als Wissenschaft, Wissenschaft als Religion, Religion als Metaphysik missverstanden. Die drei Formen des Wissens bestehen aber nicht nur gleichzeitig, sie weisen auch beträchtliche Unterschiede auf. Diese Unterschiede werden zuweilen als »substantielle« Merkmale des Wissens aufgefasst: Im Falle der Wissenschaft handelt es sich um Herrschaftswissen, im Falle der Metaphysik um Orientierungswissen und im Falle der Religion um Heilswissen. Scheler trifft jedoch eine genauere soziologische Unterscheidung dieser Wissensformen, die ihre Unterschiedlichkeit durch ihre verschiedenen sozialen Aspekte (und, wie wir später sehen werden, zugrunde liegende Triebe) beschreibt: Jede »Form« des Wissens hat nicht nur einen gesonderten Ursprung und eine spezifische Funktion, sie erfordert auch eigene soziale Rollen und findet ihren Ausdruck in besonderen sozialen Institutionen der Wissensvermittlung. Jede soziale Gruppe (Klasse, Berufe, Stände) hat eigene Weisen der Erzeugung und Tradierung des Wissens. Das gilt besonders für die Institutionen. Deswegen unterscheiden sich Kirchen, die religiöses Wissen vermitteln, wesentlich von wissenschaftlichen Instituten, Weisheit erfüllt andere Funktionen als positives [93]Wissen, und Forscher unterscheiden sich in ihren Rollen grundlegend von religiösen Führern. Die für die jeweilige Wissensform spezifischen Ausprägungen lassen sich wie oben abgebildet (vgl. Abb. 8).

Die Klassenbedingtheit ist jedoch kein Grund für einen unüberwindbaren Relativismus des Wissens: »Die Klassenvorurteile, und auch die formalen Gesetze der Bildung von Klassenvorurteilen sind vielmehr für jedes Individuum der Klasse prinzipiell überwindbar.« Denn »gäbe es wirklich keine Instanz im menschlichen Geiste, die sich über alle Klassenideologien und ihre Interessenperspektiven zu erheben vermöchte, so wäre alle mögliche Wahrheitserkenntnis Täuschung«.61 Die verschiedenen Denkweisen nämlich sind nicht falsch. Es handelt sich vielmehr um partielle Wahrheiten und damit Ausschnitte einer umfassenden Wahrheit (die sich Scheler als ein die Geschichte transzendierendes Reich der Ideen vorstellte).


Oberklasse
Wertprospektivismus des ZeitbewusstseinsWertretrospektivismus
WerdensbetrachtungSeinsbetrachtung
mechanische Weltbetrachtungteleologische Weltbetrachtung
Realismus (Welt als Widerstand)Idealismus (Welt als Ideenreich)
MaterialismusSpiritualismus
Induktion, EmpirismusAprioriwissen, Rationalismus
PragmatismusIntellektualismus
Optimistische Zukunftsansicht und pessimistische RetrospektionPessimistische Zukunftsaussicht und optimistische Retrospektion (»die gute alte Zeit«)
Widersprüche suchende, dialektische DenkartIdentität suchende Denkart
milieutheoretisches Denkennativistisches Denken

Abb. 8: Schelers Analyse klassenbedingter Denkarten

Die Wissenssoziologie erfüllt in Schelers Augen nicht nur die Funktion, die soziale Mitbedingung der Erkenntnis und des Wissens zu rekonstruieren. Sie ist für ihn auch ein wichtiges politisches Instrument: Sie erlaube die Lösung der ideologischen Konflikte seiner Zeit. In seinen Augen kam der Wissenssoziologie die Aufgabe zu, zwischen den sich befehdenden sozialen und ideologischen Gruppen zu vermitteln, indem sie falsche Vorurteile zerstörte. Zu diesem Zwecke sollte eine Weltanschauungsanalyse die Begrenztheit der einzelnen ideologischen Positionen und ihre Klassenbedingtheit aufzeigen. Eine neue Elite, so Scheler, könnte dann in die Lage versetzt werden, die Wahrheit aus jeder einzelnen sozialen Perspektive auszuwählen und damit ein soziales Programm für alle Bürger zu schaffen. Auf diese Weise glaubte Scheler auch, den Relativismus umgehen zu können und die Grundlage für eine neue, rationale Kulturpolitik zu schaffen.

Auch wenn Scheler sehr stark auf die irrationalistische Tradition zurückgriff, so blieb er doch der aufklärerischen Tradition verbunden. »Indem beide [Max Scheler und Karl Mannheim] von dieser Disziplin auf der Grundlage einer schonungslosen Aufdeckung der sozialen Bedingtheit partikularer Weltansichten und Vorurteile eine Einsicht in die ›Wahrheit‹ sowie eine grandiose Synthese aller partiellen Wahrheiten durch die Elite erwarteten, knüpften sie an die von Marx heftig kritisierte Tradition der »philosophes« an, durch eine ›von oben‹ durchzuführende Erziehung die ›gute‹ Gesellschaft verwirklichen zu können.«62

Wenn von den Begründern der deutschen Wissenssoziologie die Rede ist, werden Max Scheler und Karl Mannheim häufig in einem Atemzug genannt. Dabei wendet sich schon der jüngere Mannheim sehr scharf gegen Scheler, dem er vorwirft, unbemerkt die Inhalte der katholischen Tradition in seine Phänomenologie und damit [100]auch seine Wissenssoziologie einzuschmuggeln.63 Daneben stört ihn, dass Scheler die Realfaktoren durch die Bezugnahme auf die »Triebe« psychologisiert und dadurch von wirklichen sozialen Wirkkräften abkoppelt. Vor allem aber widerstrebt ihm die Zweiteilung der Welt in Real- und Idealfaktoren, die einer Trennung von »Sein« und »Sinn« gleichkomme. Sein und Sinn seien jedoch nicht getrennt, sondern kämen immer nur gemeinsam in dynamischen historischen Verbindungen vor.

KARL MANNHEIM64 hat dennoch einige Gemeinsamkeiten mit Scheler. Wie Scheler arbeitete er vor dem Hintergrund der sich heftig bekämpfenden Ideologien seiner Zeit, und so verfolgte er in nachgerade klassischer wissenssoziologischer Manier die Frage nach den sozialen Bedingungen bestimmter Weltanschauungen.65 Und ähnlich wie bei Scheler handelt es sich bei ihm vorwiegend um philosophische Analysen, in denen er an Diltheys Arbeiten anschloss.66 Durch seine radikale Kritik der herkömmlichen (individualistischen) Erkenntnistheorie jedoch begründet er die Wissenssoziologie als eine eigenständige kritische Theorie des Denkens, Erkennens und Wissens.

Wie Scheler sieht auch Mannheim den Positivismus als einen Vorläufer der Wissenssoziologie. Der Positivismus, wie er etwa bei Comte zum Ausdruck kommt, ist jedoch noch unzureichend, weil er sich weigert, Sinn als Element der Erklärung anzusehen und damit jede Form der intellektuell-geistigen Erklärung ablehnt. Mannheim nimmt auch auf Max Weber Bezug, dessen Vorgehensweise in seinen Augen jedoch ebenfalls unbefriedigend bleibt, weil dieser eine nicht-relativistische Vorstellung der Wahrheit vertritt. Der wichtigste Ausgangspunkt seiner »dynamischen« Wissenssoziologie ist deswegen der Historismus, weil Mannheim von einer historisch veränderlichen Wahrheit ausgeht. Die Entstehung der Wissenssoziologie ist für ihn selbst ein historisches Ereignis, das erst möglich wurde durch eine zuvor noch nie dagewesene Relativierung des Wissens zu seiner Zeit.67 Der Gegenstand dieser Wissenssoziologie ist die Verbindung zwischen Weltanschauung und sozialer [101]Wirklichkeit, oder, noch allgemeiner, das Verhältnis zwischen der unvermeidlich verschieden gearteten Bewusstseinsstruktur unterschiedlicher Subjekttypen und ihrer sozio-historischen Situation.

Dieses Verhältnis war auch schon von Alfred Weber, einem seiner Lehrer, als Gegenstand der Kultursoziologie angesprochen worden. »Wie«, so hatte Alfred Weber gefragt, »hängen soziale Formen und Kultur, Daseinsgestaltung und Kulturgestaltung, vitaler Inhalt und Kulturtendenzen zusammen? Wie bauen sich auf den Lebensformen die Gehäuse und Medien auf, in denen sich das Geistige auswirkt? Welche Schichten tragen die verschiedenen geistigen Tendenzen, und mit welchem Lebenseingestelltsein hängt dies dann zusammen? Was ist die Kulturbedeutung dieser oder jener Lösung, Bindung, inneren oder äußeren Gestaltung der großen lebentragenden Kräfte?«68 Kultursoziologie bedeutete also, die Verbindung zwischen soziokulturellen Kontexten und kulturellen Produkten dadurch zu erfassen, dass man die gesamten Bedeutungen betrachtet, die eine Weltanschauung für die intentionalen Akte eines Bewusstseins hat.

Die aus Webers Kultursoziologie ererbte Aufgabenstellung, sich nicht nur auf soziale Strukturen zu beschränken, sondern auch geistige und kulturelle Gebilde – also Sinn – zum zentralen Gegenstand der Soziologie zu machen, stellt einen wesentlichen Zug von Mannheims Wissenssoziologie dar. Jede vom Menschen vollzogene Handlung oder jedes von ihm oder ihr geschaffenes Handlungsprodukt, also jedes »Kulturgebilde« zeichnet sich durch Sinn aus. Um diesen Sinn zu analysieren, unterscheidet er drei herausragende Dimensionen: den objektiven Sinn, den intendierten Ausdruckssinn und die dokumentarische Interpretation. Veranschaulichen wir uns diese Dimensionen an einem Beispiel. Wir sehen eine Person in einem Fluss, die »Hilfe!« ruft. Wir brauchen die Person nicht kennen, wir müssen nichts über sie wissen – und doch können wir den objektiven Sinnzusammenhang verstehen, in dem das geschieht: Der Ruf und seine Herkunft aus dem Fluss genügen dafür. Das ist, was Mannheim als den objektiven Sinn bezeichnet. Dieser objektive Sinn ist aus der Perspektive einer immanenten Betrachtung zu erhalten: Das Subjekt erkennt den Sinn und identifiziert ihn, es geht im Sinngehalt gleichsam auf. Anders steht es dagegen mit der zweiten Sinnschicht, die Mannheim den intendierten Ausdruckssinn nennt. »Diese zweite Art von Sinn ist im Unterschiede von der ersten dadurch charakterisiert, dass sie keineswegs jene Ablösbarkeit vom Subjekt und dessen realen Erlebnisstrom besitzt, sondern nur darauf bezogen, nur aus diesem ›Innenweltbezug‹ heraus ihren völlig individualisierten Sinn erhält.«69 So könnte es sein, dass ich die Person, die »Hilfe!« ruft, kenne und weiß, dass sie nicht schwimmen kann. Der Ausdruckssinn stellt den Bezug des Erfahrenen [102]zu den Erlebnissen und Intentionen des Produzenten her, durch die wir dann das Ausgedrückte (den Hilferuf) deuten. Daneben weist jedes Kulturgebilde noch eine dritte Sinnschicht auf, die Mannheim die dokumentarische Interpretation nennt: Im Mittelpunkt steht hier nicht das, was die Person ausdrücken wollte oder was der Ausdruck, den sie verwendet, bedeutet, sondern das, was sie sozusagen unbeabsichtigt noch mitteilt: Ihre Miene, ihre Gebärden, ihr Sprachrhythmus – ihr gesamter »Habitus«.70 Durch die Tat dokumentiert sich etwas, das von der Person gar nicht beabsichtigt sein muss. Das, was sich hier dokumentiert, kann sehr allgemeine Züge tragen: Es kann vom kulturellen und sozialen Hintergrund der Person zeugen, der sich in ihrer Handlung ausdrückt: ihre Sprache, ihr Akzent, ihr Dialekt usw.

Eine solche dokumentarische Interpretation lässt sich nicht nur auf eine einzelne Handlung, sondern auch auf andere Kulturgebilde anwenden. So zeigt Mannheim am Beispiel der bildenden Kunst, wie sich hier im einzelnen Werk ein Umfassenderes ausdrücken kann: In Pinselstrich, Grundierung oder Farbenführung kann sich der ganze Stil einer Klasse, einer Kultur, einer Epoche dokumentieren. Das Kulturgebilde kann das Dokument eines »Kunstwollens« sein; haben wir es aber mit einer Handlung zu tun, so kann sie als Dokument einer Wirtschaftsgesinnung angesehen werden. Aus der anderen Perspektive betrachtet: Diese allgemeinen gesellschaftlichen Formen finden ihren Niederschlag in dem einzelnen Kulturgebilde. Kulturerscheinungen haben also jenseits des Bewusstseins der einzelnen Individuen einen Sinn, der sich aus ihrem Zusammenhang und ihren wechselseitigen Verweisungen ergibt.71

Abb. 9: Drei Arten des Sinns nach Mannheim

[103]Die dokumentarische Interpretation setzt entweder eine verdeckte Intention oder ausgebaute soziohistorische Deutungszusammenhänge voraus. Genau diese Verbindung stellt das Zentrum der Mannheimschen Wissenssoziologie dar, die in gewisser Weise die Stilanalyse der Kulturgebilde auf Wissen, Denken und Weltanschauungen übertrug.72

Wie Sinn von Kulturobjekten etwas anderes dokumentiert, geht Mannheim auch in seiner Wissenssoziologie davon aus, dass sich im Wissen das soziale Sein dokumentiert. Besonders deutlich wird das an seinem Begriff der Ideologie, der sich sehr stark von dem der herkömmlichen Ideologienlehre unterscheidet. Mannheim geht davon aus, dass soziale Gruppen »so intensiv mit ihren Interessen an eine Situation gebunden sein können, dass sie schließlich die Fähigkeit verlieren, bestimmte Tatsachen zu sehen, die sie in ihrem Herrschaftsbewusstsein stören könnten.«73 Aus dieser Situationsgebundenheit entsteht die Ideologie. Unter Ideologie versteht Mannheim also, dass Ideen nicht einen Sinn aus sich heraus haben, sondern aus der Perspektive derer, die sie verwenden, betrachtet werden müssen. Ideologie ist jedoch keineswegs mehr nur ein Begriff der sozialwissenschaftlichen Beobachter. Vielmehr ist der Begriff in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen selbst am Werke: Es sind die gesellschaftlichen Gruppen selbst, die sich gegenseitig unter Ideologieverdacht stellen. Das Besondere an Mannheims Begriff der Ideologie besteht darin, dass es sich hier nicht mehr um etwas handelt, das, wie noch bei Marx, hinter den Köpfen der Leute wirkt. Ideologien werden nicht nur von den Wissenssoziologen, sondern von den Leuten selber gemacht.

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