Kitabı oxu: «Eisblumen im Blaubeerwald»

Şrift:

J.C.Caissen

Eisblumen

im

Blaubeerwald

Imprint

Titel: Eisblumen im Blaubeerwald

Autor: J.C.Caissen

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2013 Cornelia Ahlberg

ISBN 978-3-8442-7556-8

Inhaltsverzeichnis:

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Vorwort

Viele Menschen wissen, daß sie unglücklich sind.

Noch viel mehr Menschen wissen nicht, daß sie

glücklich sind.

(Albert Schweitzer)

1

„Aaaaah, du glaubst ja gar nicht, wie wohl das tut.“ Corinna schließt die Augen, sinkt noch ein wenig tiefer in das eigentlich fast zu heiße Badewasser und bewegt langsam ihre Zehen, spreizt sie und krümmt sie, spreizt sie und krümmt sie. Der Badeschaum geht ihr bis knapp unter die Unterlippe. Tief saugt sie Luft in die Nase ein, hält sie an und sinkt dann mit dem Kopf ganz ein in das wohlduftende Badewasser. Nach einer kurzen Weile taucht sie wieder auf, die nassen Haare hängen ihr in Strähnen über die Augen. „Iiiieeeh, das ist total gemein von dir, na warte.“ Corinna sprüht eine hohe Wasserfontäne aus dem Mund hinüber zu Dennis, der neben der Wanne auf der Toilettenbrille hockt. Sie lacht schallend. Jetzt ist er aufgesprungen, füllt schnell seinen Mund am Waschbecken mit kaltem Wasser, dreht sich um und will es seiner Mutter zurückgeben, aber die ist schon wieder abgetaucht. Er wartet, lange kann sie ja nicht dort unten bleiben und sprüht ihr dann aus spitzem Mund das kalte Wasser ins warme Gesicht. „Brrr, das ist ja eiskalt“. Corinna fröstelt plötzlich. „Wir sind ja auch in Schweden, da, wo die Eisbären auf der Straße herumspazieren“, meint Dennis. „Das ist doch nur so eine dumme Erfindung von Leuten, die nicht wissen, wie es hier wirklich aussieht.“ „Ist aber doch eine tolle Vorstellung. Ich fände das lustig, mal einem richtigen Eisbären auf der Straße zu begegnen.“ Dennis ist ein richtiger Tierfreund. In ihren Urlauben am italienischen Strand brauchte er immer gleich einen Eimer, damit er erst einmal Sand in den Boden füllen konnte, dann Meereswasser. Dann sammelte er allerlei Getier, das er am Strand und im Wasser so fand. Corinna wunderte sich immer, daß er auch die kleinsten Tierchen und Muscheln einfach so entdeckte, und alle Strandwanderer blieben stehen bei dem Jungen, der so versunken, völlig mit sich selbst beschäftigt war und leise vor sich hin sang. Sie fragten ihn, was er denn gesammelt hätte und schauten in Dennis' Eimer hinein. Dennis erklärte dann ohne aufzuschauen, daß er nicht nur Muscheln und kleine Krebse, sondern auch eine klitzekleine Flunder, die sich vergeblich im Sand verstecken wollte, einen Mini-Tintenfisch, der bei Berührung kräftig grau schwarze Tinte ausblies, einen Seestern und zwei kleine Quallen in seinem Eimer hatte. Eine der Quallen glibberte ihm dabei durch die Finger zurück ins Wasser. Seltsamerweise sprach er auch Deutsch mit Italienern oder allen anderen Urlaubern. Er plapperte einfach drauf los und die Leute hörten freundlich zu und nickten und schauten nochmal in den Eimer.

„Na, einen Eisbären sehe ich doch lieber hinter einem Wassergraben oder einer dicken Glasscheibe, auf jeden Fall mit sicherem Abstand. Die Jungs sind gefährlich.“ Corinna sieht hinüber zu Dennis, der sitzt da mit verträumten Augen und starrt ins Leere, seine Füße schaukeln hin und her.

Plötzlich steht André in der Tür. „Na, ihr zwei. Habt ihr euch den Reiseschmutz schon abgerubbelt? Wenn ihr dann so langsam fertig seid, können wir essen. Ich habe schnell etwas zusammengerührt. Aber nehmt euch die Zeit, die ihr braucht.“ Er verschwindet wieder aus dem Türrahmen.

Corinna und Dennis waren erst vor gut zwei Stunden bei Andrés Büro angekommen. André war dann mit seinem Wagen, natürlich typisch schwedisch, einem großen und sicheren Volvo, vorausgefahren. Corinna und Dennis hinterher.

Corinna war 19 Stunden lang nonstop von Deutschland nach Schweden gefahren, mit ihrem kleinen, alten Toyota Starlet. Sie hatte mehr als einmal gebetet, daß die Karre nur ja durchhalten solle.

Sie und Dennis waren geflohen aus Deutschland. Und zwar auf Anraten von Corinnas Anwalt. Was für ein mutiger Mensch, jemandem so einen Rat zu geben.

Obwohl ihr Mann Walter, Dennis' Vater, nach der Trennung damit einverstanden war, daß Dennis mit Corinna nach Schweden umziehen dürfe, so wollte er plötzlich nichts mehr davon wissen. Dennis meinte nach einem dieser Wochenenden, die er gewöhnlich mit der berufstätigen Corinna in deren Wohnung verbrachte, er wolle nicht mehr zurück zum Vater. Als Corinna Walter dies telefonisch mitteilte, drehte der völlig durch und wollte die Polizei schicken, um ihn abholen zu lassen. Wenn sie sich jetzt nicht beeilen würden, schnell nach Schweden auszureisen – und nicht erst, wie geplant, in drei Monaten –, so meinte ihr Anwalt, dann würde Corinna ihren Sohn nicht mehr so ohne weiteres mitnehmen können. Ein Gerichtsprozeß könne natürlich angestrebt werden, der könne sich aber schlimmstenfalls einige Jahre hinziehen.

Also hatten Corinna und Dennis schnell ein paar Sachen zusammengepackt, Dennis hatte ein paar gewaltige Butterbrote geschmiert für die Reise, während Corinna notwendige, praktische Dinge erledigte. Sie hatte schließlich auch noch gute Freunde informiert, bevor sie sich endlich auf den Weg nach Schweden machten.

Dennis hatte während der ganzen Fahrt, bis hin zur Grenze, an der sie noch hätten aufgehalten werden können, unentwegt geredet, über Gott und die Welt. Die Anspannung war einfach zu groß für den gerade neunjährigen Jungen. Nach der Grenze dann war sein Kopf, wie auf Knopfdruck, langsam zur Seite weggekippt, er fiel in tiefen Schlaf und wurde über die restlichen gut tausend Kilometer nicht ein einziges mal mehr wach. Erst als sie bei Andrés Büro in Stockholm angekommen waren, wachte er schlaftrunken auf.

Corinna steigt aus der Wanne, und während sie sich abtrocknet, steigt Dennis in ihr Wasser und plantscht erst einmal darin herum, schüttet sich Shampoo auf die Haare und geht auf Tauchstation, um es wieder raus zu waschen. Corinna föhnt sich derweil die Haare und zieht sich frische Wäsche an. Viele Teile zum Wechseln hat sie nicht einpacken können. Sie muß dann eben sehr bald waschen. „Du machst bitte nicht mehr allzu lange. André wartet mit dem Essen“. Corinna geht hinüber zum Wohnzimmer.

Was für ein Glück sie doch hatten. André und sie hatten sich vor einem knappen Jahr kennengelernt, während eines internationalen Managerseminars ihrer Firma. André arbeitete in Schweden, Corinna in Deutschland. Bereits nach dieser einen, gemeinsamen Arbeitswoche war erstaunlicherweise beiden klar, daß sie ihr Leben gemeinsam verbringen wollten. André war schon nach kurzer Zeit bei seiner Familie ausgezogen. Ein Freund, der gerade Witwer geworden war, überließ ihm ein möbliertes Zimmer in seinem Haus. So war einerseits André geholfen, und er selbst mußte nicht abends in dem großen Haus die Wände anstarren. Seine Frau fehlte ihm überall. André und er hatten jeden Abend zusammen gesessen bei einer Flasche Wein.

Jetzt aber, gerade vorgestern, hatte André diese Erstbezug-Neubauwohnung anmieten können. Ein Kollege, der geschäftlich in die USA ziehen mußte, hatte einen Aushang ans schwarze Brett gehängt 'Mieter gesucht für 2 Jahre'. André hatte ihn angerufen und vorgestern die Wohnungsschlüssel abgeholt. Was für ein glücklicher Zufall, gerade jetzt, als Corinna so schnell handeln mußte.

„Na, was hast du denn Schönes gekocht?“ André steht mit dem Rücken zu ihr am Herd und schwenkt die Pfanne. Corinna legt ihre Arme von hinten um Andrés Hüften. Er dreht sich zu ihr um, nimmt sie in die Arme und küßt sie zärtlich. „Ich freue mich so, daß ihr jetzt endlich hier seid. Wir werden es gut haben zusammen, sehr gut, das verspreche ich dir.“ Er wendet sich wieder der brutzelnden Pfanne zu. „Ach, ich habe nur schnell ein Kartoffel-Fertiggericht in die Pfanne geschüttet, mehr nicht.“ Corinna findet, daß es einfach wunderbar duftet. Sie ist wirklich hungrig und einfach glücklich darüber, sich gleich an den gedeckten Tisch setzen zu können. Und außerdem, zusammen mit André schmeckte jedes Essen bestimmt einfach besser.

In der Wohnung, in der sie nun gemeinsam leben würden, gab es bisher keine Möbel. Alles hatte ja so schnell gehen müssen. André hatte sich gestern noch schnell ein paar Matratzen von seinem Freund geliehen. Eine liegt nun im Kinderzimmer für Dennis, eine weitere in Andrés und Corinnas Schlafzimmer. Das war doch schon mal das Wichtigste und ein herrlicher Anfang.

Corinna schaut sich im kombinierten Wohnzimmer mit der großer Einbau-Küche erst einmal richtig um. Sie war vorhin ziemlich bald ins Bad und in die Wanne gegangen. „Toll, wie du das so schnell organisiert hast. Ich finde unsere Wohnzimmermöbel richtig feudal. Ist doch schick?“. Es gibt tatsächlich Möbel - einen Plastik-Gartentisch und vier zusammenklappbare Gartenstühle mit Auflagen im Wohnzimmer. André hat den Tisch bereits mit drei Tellern, Gläsern und Bestecken gedeckt. In die Gläser hat er jeweils eine Serviette hineingesteckt. Das sah doch sehr schön aus. „Du, die Gartenmöbel habe ich daheim einfach aus der Garage mitgenommen. Jetzt im Winter vermißt die sowieso keiner. Und bis wir uns was angeschafft haben, müssen die jetzt herhalten.“

„Hör mal schnell, bevor Dennis reinkommt. Ich habe von deiner Firma aus vorhin mit meinem Anwalt gesprochen. Walter hat bereits einen Haftbefehl gegen mich wegen Kindesentführung bewirkt, der schon an der Grenze vorliegt. Wären wir nur einen halben Tag später losgefahren, hätte ich mit Dennis an der Grenze gleich wieder umkehren dürfen. Das mußt du dir mal vorstellen. Es hätte uns tatsächlich erwischen können“. „Was? Das ist doch unglaublich, fast wie in einem Krimi. Was hätte euch alles passieren können, schrecklich.“ André ist offensichtlich überrascht und geschockt. „Aber, Walter war doch völlig einverstanden damit, daß Dennis mit dir nach Schweden geht. Auch als er und ich uns bei meinem letzten Besuch in Deutschland unterhalten haben, war er doch sehr vernünftig und wollte dem Wunsch seines Sohnes nicht mehr im Wege stehen. Wieso denn jetzt dieser plötzliche Sinneswandel? Ich verstehe das einfach nicht“. Corinna kaut am Nagel ihres rechten Mittelfingers. „Na ja, ein klein wenig verstehen kann ich es schon. Er ist eben verzweifelt. Das wäre ich ja auch. Aber was für mich jetzt am schwersten wiegt, ist, daß Dennis sich so entschieden hat. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn er sich entschieden hätte, bei Walter zu bleiben. Ich wäre sicher nicht glücklich geworden hier. Eine Mutter gibt doch ihr Kind nicht auf.“ „Ja, das war wirklich großes Glück. Wir werden jetzt versuchen, alles richtig zu machen“. Dennis kommt aus dem Badezimmer. André und Corinna lassen das Thema sofort fallen. Der Junge hat schon genug Ängste ausgestanden. „Jetzt bin ich so weit. Ich habe einen Mordshunger. Können wir essen? Wo soll ich denn sitzen? Oh, was sind das denn für tolle Möbel?“ Dennis lacht Corinna und André an und setzt sich dann auf den angewiesenen Platz.

André hat noch einige Haushaltsgegenstände von seinem Freund geliehen, ein Brotmesser, für jeden ein Besteck, einen Büchsenöffner, zwei Töpfe, eine Pfanne, ein paar Teller, Tassen. Nicht einmal eine Kaffeemaschine hatten sie, denn beide, Corinna sowie auch er selbst, hatten nur einige wenige Sachen von daheim mitnehmen können. Aber sie würden schon klar kommen. Was bräuchten sie viel mehr als nur sich selbst? Jetzt sitzen sie jedenfalls gemeinsam in ihrer spartanischen Wohnung und lachen und reden. Dabei kommt ein herrliches Kauderwelsch heraus, denn Corinnas Englisch benötigt wirklich eine Auffrischung, Schwedisch ist ihr natürlich völlig fremd, Andrés Deutsch ist auch schon etwas in Vergessenheit geraten und muß dringend wieder trainiert werden, sein Englisch hingegen ist gut, und Dennis hat in der Schule in Deutschland noch nicht richtig mit Englisch begonnen. Aber mit Händen und Füßen und viel Humor geht das alles ganz prima.

Und das einfache Essen? Das schmeckt Corinna und Dennis so gut, wie schon lange nicht mehr. Von André lernen sie beide auch gleich eine sehr schöne, in Deutschland nicht unbedingt übliche Sitte. Ja, sicher, man erwähnt, daß das Essen gut schmeckt, aber hier in Schweden bedankt man sich ausdrücklich dafür. Nach einem jeden Essen bedankt sich jeder einzelne in der Familie bei der Mutter oder jedenfalls dem, der diesmal gekocht hat. 'Tack för maten' – Danke für das Essen. Vorher steht keiner auf vom Tisch. Corinna findet, dieser Dank zeugt von Respekt, eine nette Geste. „Tack?“ fragt Dennis und muß kichern, „das hört sich ja so an, als wärst du ein Heftapparat“, er sieht André mit großen Augen an. Der lacht „Ja, das hört sich sicher für dich lustig an“.

Corinna genießt die lockere, fröhliche Stimmung am Tisch. Endlich sind sie angekommen an ihrem Ziel.

Sie wird auf einmal furchtbar müde. Die große Anspannung und die lange Autofahrt machen sich nun unmißverständlich bemerkbar. „Ich glaube, wir sollten uns so langsam hinlegen, ich bin todmüde“. Auch Dennis wird bereits ein wenig stiller. „Wenn du Lust hast, kannst du ja noch ein wenig in deinem Buch lesen“. André räumt das Geschirr in die Spülmaschine, und Corinna lernt, daß eine Einbauküche, mit Spülmaschine, Herd, einem riesiger Kühlschrank, einem ebenso riesigen Gefrierschrank in schwedischen Wohnungen und Häusern zur Grundausstattung gehören. „Das ist aber eine feine Sache“ bemerkt Corinna „wenn ich daran denke, wie oft wir umgezogen sind, und jedesmal haben wir die Kücheneinrichtung, wie so üblich, mitgenommen. Die mußte dann immer erneut angepaßt werden. Du kannst dir vorstellen, daß die Schränke das nicht unbegrenzt mit sich haben machen lassen. Da geht hier und da schon mal was kaputt, nach all den Jahren.“ André stellt die Spülmaschine an. „Na prima, da hast du schon gleich etwas Positives mit Schweden. Das freut mich.“ Corinna folgt Dennis in sein neues, ziemlich leeres Kinderzimmer, in dem nur die Matratze auf dem Boden liegt. Daneben hat André eine kleine Nachttischlampe auf den Boden gestellt. Dazu die Sachen, die sie im Auto hatten mitnehmen können. Sie nimmt seinen Schlafanzug aus seiner Kleidertasche, zieht das Bettlaken auf und legt ihm das mitgebrachte Bettzeug zurecht. Schnell noch Zähne putzen, dann schlüpft Dennis auch schon unter seine frisch bezogene Bettdecke. „Mensch, Mama, ist das gemütlich. Das fühlt sich ein kleines bißchen so wie Camping an. Was machen wir morgen?“ Er zieht sein Buch aus seinem Rucksack und kuschelt sich noch mehr ins Kissen. „Ich habe keine Ahnung, laß uns das beim Frühstück zusammen besprechen. Jetzt schlafen wir uns erst einmal aus. Ich bin ja die ganze Nacht durchgefahren mit der alten Mühle, während du neben mir geschnarcht hast, daß sich die Balken bogen. Aber trotzdem, ich bin sehr dankbar, daß unser Autochen so gut gelaufen ist. Es hätte auch ganz anders kommen können. Bis morgen früh, gute Nacht. Und wenn was ist, wir schlafen ja gleich nebenan.“ Sie umarmt Dennis und gibt ihm einen Gutenachtkuß. Dennis macht einen zufriedenen Eindruck, nimmt sein Buch hoch und beginnt zu lesen. „Gute Nacht, Mama“. Corinna lässt die Tür offen und geht in ihr Schlafzimmer, um auch dort die Matratzen fertigzumachen. André, der gerade in der Küche fertig geworden ist, kommt auch gleich hinterher.

Schließlich liegen sie zufrieden und eng umschlungen in den Federn, und Corinna fallen die Augen zu. „Gute Nacht, mein Liebling, ich bin froh, daß ihr endlich bei mir seid und daß du so gut gefahren bist“. Aber das hört Corinna schon gar nicht mehr. „Schlaf gut“, nuschelt sie nur noch, schlaftrunken. Dann ist alles still.

2

Das Geld ist von Anfang an knapp. Corinna war doch vielleicht etwas blauäugig gewesen. Sie hatte angenommen, daß es genüge, daß André gut verdiene, zumindest verdiente er wohl genauso viel wie sie, vielleicht sogar mehr als sie in Deutschland verdient hatte, denn er hatte dieselbe Position wie sie. Sie hatte sogar eine klitzekleine Hoffnung gehabt, sie könne nun von der Ganztagsstelle zu einer Halbtagsstelle wechseln, denn wer sollte sich nun um Dennis kümmern nach der Schule. In Deutschland war Walter den ganzen Tag daheim gewesen. Aber eine Halbtagsstelle mußte sich ja auch erst einmal finden lassen. Und ohne schwedische Sprachkenntnisse?

Einfach sollte es jedenfalls nicht werden.

Andrés Kinder, Karoline und Andreas waren älter als Dennis, aber auch noch einige Jahre lang unterhaltsberechtigt, na klar. André wollte auch seine Familie nicht zwingen, aus dem erst vor ein paar Jahren gebauten Haus ausziehen zu müssen. Aus diesem Grund zahlte er an seine Frau freiwillig mehr als den erforderlichen Unterhaltssatz.

Aber, was war das schon, wenig Geld zu haben, verglichen mit der Zufriedenheit, dem großen Glück und der tiefen Liebe, die Corinna zusammen mit André empfand. Sie würden das schon alles irgendwie hinkriegen.

Jetzt steht erst einmal ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest vor der Tür. Das bevorstehende Fest stellte durchaus organisatorische Anforderungen an Corinna und André. Einige Lebensmittel schreiben sie auf die Einkaufsliste, nichts Besonderes oder Luxuriöses, aber essen muß der Mensch. Auf einen Tannenbaum wollen sie auch nicht verzichten – Weihnachten ohne Baum? Das kommt gar nicht in Frage. Aber, da geht es auch schon los. Sie haben nicht irgendwo im Keller einen Karton mit einer Lichterkette. Da gibt es auch keinen Christbaumständer, der die restlichen Monate des Jahres irgendwo im Tiefschlaf verbringt. Christbaumschmuck? Den hätten sie ja nun auch nicht einfach von daheim mitgehen lassen können. Außerdem, weder André noch Corinna haben überhaupt nur einen einzigen Gedanken an diese völlig unwichtigen Dinge verschwendet.

Aber jetzt plötzlich wäre so ein Keller, mit üblicherweise vielen Kisten und Kartons, bei deren Anblick man sonst eigentlich immer nur mit schlechtem Gewissen ans Aufräumen denkt, eine willkommene Fundgrube. Aber Andrés und Corinnas neuer Keller war leer, einfach nur leer.

Was tun?

Erst einmal fahren sie in den nahegelegenen Wald, nicht ohne vorher bei Andrés Freund eine Säge auszuleihen. Eine Lichterkette und ein Christbaumständer sind sozusagen mit im Paket. Andrés Freund glaubt auch die Geschichte, daß der vorhin angeblich bereits gekaufte Baum um einiges zu lang sei und nun daheim mit der Säge gekürzt werden müsse.

Nicht weit von ihrer Wohnung entfernt fährt André eine schmale sich schlängelnde Straße entlang. Schon hier stehen rechts und links hohe Kiefern. Links ist zwischen den Bäumen eine beleuchtete Joggingspur zu sehen. André fährt weiter, bis die kleine Straße auf einem Waldparkplatz endet. Er stellt das Auto ab, nimmt die Säge unter seine Jacke, küsst Corinna „Bin gleich wieder da, warte hier, es dauert nicht lange“ und ist schon nach wenigen Schritten im Dickicht verschwunden. Der schwedische Wald – für Corinna wieder ein neues Erlebnis - ist nicht versehen mit Parkbänken für rastende Wanderer, nicht ausgestattet mit Papierkörben. Es sind auch keine Wegweiser oder Wegschranken zu sehen, und das nächste Ausflugs-Café oder eine Würstchenbude sind ganz sicher mehr als fünfzig Kilometer entfernt. Außerdem herrscht Totenstille, kein Mensch ist zu sehen, weder solche in Lederhosen, Bundschuhen und mit Rucksack, noch andere. Der Wald ist saftig feucht, schwer und dunkel zur einen Seite hin, zur anderen eher luftiger, offener. Hier wachsen hohe Fichten urwüchsig neben kleineren Tannen, dazwischen Kiefern und vereinzelt auch Birken, die jetzt bereits alle Blätter verloren haben. Der Waldboden ist hügelig, bewachsen mit dickem Moos, dazwischen Heidelbeerkraut, riesige Farne und Preiselbeerkraut.

Auffallend sind die unzähligen, bizarren, moosbedeckten Findlinge, die überall verstreut zwischen den Bäumen liegen. Einige sind fußballgroß, andere dagegen zwei oder drei Meter hoch und mit einem Umfang von mehreren Metern. Die Pflanzen haben sich während vieler Tausend Jahre seit der Ausdehnung des skandinavischen Inlandeises diesen stummen Riesen anpassen müssen, waren ihnen ausgewichen, in kleinen Felsspalten zwischen zwei Findlingen dem Licht entgegengewachsen oder in Felsmulden, in denen sich Erde und Wasser gesammelt hatten, mit ausgedehnten Fadenwurzeln verankert. Ein skandinavischer Urwald. Unberührt, ein wenig unheimlich, aber von überwältigender Schönheit.

Nicht weit entfernt, hinter einer Lichtung, glitzert ein See in der bereits tief stehenden Abendsonne. Absolute Stille, das ist, was Corinna sofort auffällt. In Deutschland hat sie nie rein gar nichts gehört. Irgendwo hörte man immer Menschen, vielleicht von weitem Autos oder zumindest ein Flugzeug. Corinna ist fasziniert von der stillen, unberührten Natur, die sich ihr hier so einfach anbietet und öffnet. Sie atmet tief ein. Es riecht nach Herbst, Moos, nassem Laub, Wald. Die Luft ist glasklar, schon sehr frisch, aber ohne jeden störenden Geruch. Schnee hatte es noch keinen gegeben. Der würde, so versicherte ihr André, auch meistens erst im späten Januar kommen, dann aber bis Februar und März anhalten, und zu Ostern fuhr man dann gern nochmal zum Skifahren in die schwedischen Berge. Skifahren – Corinna hatte Skier in Deutschland gehabt, sie waren auch ein paar mal gefahren, kleine Hänge, nichts Gefährliches, aber so gut wie André kann sie ganz sicher nicht fahren. Vielleicht können Dennis und sie es ja noch lernen?

Corinna erschrickt plötzlich und erwacht aus ihren Tagträumen. Aus dem Unterholz kommt André, mit hochrotem Kopf, zerzaustem Haar und schweren Schritten aus dem Unterholz. Hinter sich her zieht er eine Tanne, die Säge ist unter den Arm geklemmt. Er hält inne, schaute sich mehrmals zur Seite um, aber alles bleibt still. Er lächelt Corinna zu, geht zum Wagen, öffnet den Kofferraum und verstaut den Baum darin. Dabei muß er die Spitze ein wenig zur Seite biegen. Dann drückt er den Kofferraumdeckel zu. „Geschafft. Komm wir fahren heim“. Sie schwingen sich beide in die Autositze. Corinna kommt der Gedanke, daß dieser Wald eigentlich geradezu dazu einlädt, sich seinen Weihnachtsbaum hier und nicht auf dem Marktplatz zu 'besorgen'. Aber richtig ist es natürlich nicht.

Der Geruch des frisch gesägten Baumes erinnert Corinna sofort an den Werbeslogan, 'IKEA, das unmögliche Möbelhaus aus Schweden'. Sie schaut André von der Seite an, beide prusten vor Lachen. „Hast du das schon oft gemacht?“ will Corinna wissen. „Noch nie in meinem ganzen Leben, ich schwöre es“, und wieder lachen beide. Corinna merkt jedoch, daß Andrés Lachen nicht richtig von Herzen kommt. Er ist wohl eher erleichtert, daß seine kriminelle Handlung so glimpflich abgegangen ist.

Als sie den Baum daheim in den geliehenen Ständer stellen, sieht er eher etwas traurig aus. So richtig gleichmäßig ist er ja nicht gewachsen, aber darauf konnte André in der Eile der Dinge keine Rücksicht nehmen. Dennis besieht sich den Baum. „Auch, wenn es vielleicht nicht der teuerste Baum ist, wir kriegen den schon hin.“ Er mußte ja nicht unbedingt alles wissen. „So schlecht ist er doch gar nicht. Ich bin froh, daß wir uns dieses Jahr überhaupt einen leisten können,“hakt Corinna ein.

„Jetzt müssen wir uns aber beeilen, sonst bekommen wir nichts mehr zu Essen, bevor die Läden schließen.“ André drängt zur Abfahrt. „Ich würde lieber hier bleiben. Kann ich nicht schon mal den Baum fertigmachen und an seinen Platz stellen?“ Dennis sieht Corinna fragend an. „Ja, wenn du willst? Aber da ist nicht viel zu tun. Wir haben nur die Lichterkette, Baumschmuck gibt’s dieses Jahr leider nicht.“ Dennis zwinkert ihr zu. „Ich mach das schon“.

Sehr lang ist die Einkaufsliste nicht, aber Corinna freut sich schon darauf, später ihr erstes Weihnachtsessen nach schwedischer Tradition, ein kleines Weihnachtsbufett, wenn auch vielleicht nicht so variantenreich wie üblich, nach Andrés Anweisungen zuzubereiten. Es sind noch sehr viele Berufstätige in den Geschäften, um die letzten Einkäufe zu tätigen. Nur schnell alles einpacken und wieder raus aus dem Gedrängel. Zufrieden lassen sie sich in die Autositze fallen.

Als André daheim die Tür aufschließt, kommt ihnen Dennis schon strahlend entgegen. „Der Weihnachtsbaum ist fertig.“ Sie schleppen die Plastiktüten in die Küche, drehen sich dann zum Wohnzimmer um „Na, dann laß mal schauen“. Corinna erschrickt fast. „Was ist das denn?“ Sie geht durch das Zimmer und bleibt staunend, die Hände vor dem Mund, vor dem Baum stehen. Vor ihr steht der schönste Weihnachtsbaum, den sie je gesehen hat. Festgeschraubt in seinem Ständer, so daß er kerzengerade bis fast zur Decke ragt, steht er da, übersät mit unzähligen weißen Papierblumen, die dicht auf den Zweigen verteilt sind und von den elektrischen Kerzen beleuchtet werden. „Wo hast du denn nur den Baumschmuck hergenommen? Das sieht ja richtig, richtig toll aus.“ Corinna ist wirklich sprachlos. „Ach, weißt du, ich habe mir gedacht, daß ich aus Papiertaschentüchern und etwas Bindfaden Rosetten machen könnte. Sieht doch nicht schlecht aus oder?“ „Das sieht einfach ganz fantastisch aus. Du bist ja richtig pfiffig und hast die richtigen Ideen.“ André staunt nicht schlecht. Er geht an den Baum heran und sieht sich so eine Rosette oder Blume genauer an. Eine Lage Papier hat Dennis in drei Lagen getrennt und dann auseinandergezogen. So waren Blumen entstanden. Corinna sagt immer noch kein Wort. Sie steht da und denkt 'dieser kleine Kerl. Was der sich für eine Mühe gibt'. Sie ist total gerührt.

„Mit deinem festlichen Baum wird das das schönste Weihnachtsfest seit langem“. Sie nimmt Dennis in den Arm. „Danke, Dennis“.

Es wird wirklich ein sehr stimmungsvolles Weihnachtsfest. Das Essen ist gut und reichlich und für Dennis und Corinna auch wieder etwas völlig Neues.

Da gibt es erst einmal eingelegten Hering in süßsaurer Lake, dazu ein paar Krabben, die viel größer sind, als Corinna sie von Deutschland her kennt. Dazu gekochte Eierhälften, roter Kaviar oder Fischrogen, Zwiebelwürfel aus roten Zwiebeln, ein Klick Creme fraîche, und frischer Dill. Außerdem geräucherter Lachs. Das ist der Vorspeisenteil.

Ein ganzer, gekochter, warm servierter Hinterschinken, dazu Salzgurken, gekochte Mohrrüben, süßlicher Senf und Kartoffeln bilden die Hauptspeise. André erzählt, daß zum Weihnachtsbufett eigentlich noch eine Leberpastete mit Cumberlandsoße, Hackfleischbällchen sowie kleine Miniwürstchen, in der Pfanne gebraten, eine Lammkeule und und und gehören. „Was, dann muß man aber wohl eine zehnköpfige Familie sein oder die halbe Nachbarschaft einladen. Wer sonst soll denn das alles essen? An dem Kochschinken werden wir sowieso schon die nächsten zwei Wochen zu knabbern haben.“ Höchst gewöhnungsbedürftig ist nicht nur die Menge und Vielfalt der verschiedenen Speisen, sondern auch, daß viele Dinge, die in Deutschland säuerlich oder mit Essig zubereitet werden, in Schweden eher süßlich schmecken.

Corinna und Dennis sollten sich allerdings sehr schnell und gern daran gewöhnen.

Als typische Nachspeise zum Weihnachtsgericht gibt es dann noch 'Ris à la Malta', ein kalter Reisbrei, mit untergehobenen Apfelsinenstückchen, gehackten Mandeln und luftig geschlagener Sahne. Corinna will erst später davon essen, sie ist einfach zu satt, aber Dennis füllt sein Schälchen mit großen Löffeln „Für Süßes ist doch immer noch Platz“.

Sie spielen zusammen lange Karten und keiner verliert auch nur ein Wort darüber, daß es dieses Jahr keine Weihnachtsgeschenke gibt. Dazu ist einfach kein Geld da. André hat für Dennis aus dem Büro Papier, Schreibblöcke, Filzstifte, Bleistifte, Schere und Tesafilm mitgebracht. Dennis zaubert daraus und aus den Toilettenpapierrollen und Haushaltsverpackungen, die sie von nun an jeden Tag sammeln, kleine Wunderwerke. Corinna ist darüber sehr dankbar. Jedes andere Kind hätte sicher nach tollen Geschenken gequengelt. Aber Dennis und sie sind einfach glücklich und zufrieden zusammen mit André – und was am wichtigsten ist – sie sind gesund, denn eine Erkältung dürfte jetzt niemand bekommen, es gibt nämlich kein einziges Taschentuch mehr im Haus. Die hängen jetzt alle als wunderschöne Rosetten am Weihnachtsbaum.

Am nächsten Tag sollen Andrés Kinder kommen. Der Tag verläuft nicht ohne Anspannung, für niemanden. Man kennt sich ja kaum, nur von einem kurzen Booturlaub im letzten Sommer, den Corinna und André mit allen drei Kindern in Andrés Boot verbracht haben. Jetzt beschnüffelt man sich erst wieder vorsichtig. Und die sprachliche Kommunikation ist ja auch wieder nicht unproblematisch. Karoline, die vierzehn Jahre alt ist, hat schon seit ein paar Jahren Englischunterricht in der Schule. Sie kann sehr gut verstehen und strengt sich höflich und wirklich ohne Scheu an, auch auf Englisch zu antworten. Andreas, er ist zwölf Jahre alt, ist dagegen Corinna und Dennis gegenüber sehr zurückhaltend und scheu, spricht fast ausschließlich Schwedisch mit Karoline und André. Das war auch schon im letzten Sommer so gewesen. Nun richtet er wieder unzählige Fragen an seinen Vater. Corinna kann an seinen Gesten erkennen, daß sich die Fragen um sie und Dennis drehen. Dann lacht er oft hemmungslos und schallend über das, was André dann erklärt. Eine seltsame Situation. Corinna fragt André auf Deutsch, was denn so lustig sei, und André erklärt, daß Andreas einfach nur albern sei und so die Situation besser in den Griff kriegen wolle. Und Dennis, ja der ist der größte Clown am Tisch und versucht, mit Witz die seltsam gekünstelte Begegnung zu meistern. Er macht kleine Kunststücke, plappert munter drauf los, auf Deutsch und auch einigen Brocken Englisch, schneidet Grimassen, lacht und kaspert herum. Na, da hat sich ja ein munteres, zusammengewürfeltes Völkchen am Tisch vereint. Na und? Die Stimmung ist schließlich heiter und gelöst. Sie werden schon irgendwie alle zusammenfinden. Das wird hoffentlich die Zeit schon mit sich bringen. Die erste Hürde jedenfalls ist heute genommen.

15,17 ₼
Janr və etiketlər
Yaş həddi:
0+
Həcm:
320 səh. 18 illustrasiyalar
ISBN:
9783844275568
Naşir:
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