Attentat Unter den Linden

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Was Werpel daraufhin umständlich unter seiner Jacke hervorzog, erstaunte von Gontard dann doch. Pistolen waren gemeinhin fast unterarmlange Schießeisen, deren Technik seit der Erfindung des Perkussionsschlosses vielfach verbessert worden, deren Handhabung aber noch immer recht umständlich war. Hier allerdings handelte es sich um eine abgegriffene, gut handtellerlange Steinschlosswaffe, wie man sie kaum noch in Gebrauch fand.

»Was werden Sie damit tun?«, erkundigte sich Gontard, indem er die Pistole in seiner Hand wog.

Werpel blies sich förmlich auf. »Die Waffe ist das wichtigste Asservat in diesem Fall. Kommt es zum Prozess …« Mit einem grimmigen Blick auf Kirchner verzichtete er auf die zweite Hälfte des Satzes.

Der junge Lieutenant schien nicht sehr beeindruckt.

»Wie ich bereits ausführte, fand ich die Waffe neben dem Toten«, sagte er und blickte Gontard dabei offen ins Gesicht.

Nachdenklich betrachtete der noch einmal die Waffe.

»Die geht Ihnen nicht verloren«, sagte er in einem plötzlichen Entschluss zu Werpel. »Ich werde versuchen herauszufinden, wem sie gehört.«

Werpel, wohl eingedenk der Erfahrungen, die er bereits mit dem hartnäckigen Major gemacht hatte, beließ es überraschenderweise dabei. Gepresst brachte er nicht mehr hervor als »Ich hoffe, Sie informieren mich über alle Ihre Erkenntnisse!«. Er grüßte und stapfte davon.

»Und Sie zeigen mir jetzt, wo Sie die Pistole gefunden haben«, wandte sich von Gontard an Kirchner. »Am besten verfolgen wir Ihren gesamten Weg vom Eintritt in das Stallgebäude bis zum Ort des unglückseligen Ereignisses.«

»Jawohl, Herr Major!«

Gemeinsam betraten sie das Haus von den Linden her und schritten den verschlungenen Weg ab, bis Kirchner mit einer gewissen Unsicherheit schließlich an einer Stelle verharrte, an der zwei halbwüchsige Stallburschen damit beschäftigt waren, frische Streu auszubreiten. »Hier muss es gewesen sein.«

»Weshalb wird hier frisch gestreut?«, wollte Gontard wissen.

»War ja allet janz blutich«, entgegnete der Jüngere der beiden. Er mochte nicht älter als zwölf Jahre sein. »Ham Herr Major nich jeheert, wat hier passiert is?«

»Nee«, antwortete Gontard burschikos. Ihn interessierte, was man wohl im Stall über das Ereignis sagte. »Erzählt mal!«

Der Junge wollte zu einer längeren Tirade ansetzen, doch sein Kamerad gebot ihm Schweigen. »Es hat einer den Oberst-Lieutenant im Streit erschossen«, erklärte er wichtig.

»Du kanntest den Herrn Oberst-Lieutenant?«

Der Ältere, vielleicht fünfzehn Jahre alt, zögerte. »Nicht so genau«, sagte er unbestimmt.

Der andere ergänzte: »Der war imma janz schön streng …«

»Habt ihr ihn gesehen, als er zu seinem Pferd ging?«

»Nee, wir waren hinten in der Futterkammer.«

»Und was ist dann passiert?«

Der Größere hatte rötlich blondes Haar und eine Narbe über dem linken Auge. Er sagte: »Na, wahrscheinlich wollte einer dem Oberst-Lieutenant das Pferd wegnehmen, aber der Gaul ist ihm durchgegangen. Ist ihm scheinbar nicht gelungen, das Tier zu beruhigen.«

»Wie kann denn so etwas passieren? Kommt denn hier jeder ohne Kontrolle herein?«

Die Stalljungen sahen sich an. »Die meisten kennt man ja …« Das war alles, was ihnen dazu einfiel.

»Ihr habt also keinen Fremden bemerkt?«

Die beiden wechselten einen Blick und schüttelten den Kopf.

Gontard traute ihren Antworten nicht so recht. Er sah sich um. In weiter Entfernung führte jemand einen Schimmel zum Ausgang. »Waren hier die ganze Zeit über so wenig Personen anwesend wie jetzt?«, fragte er.

Die beiden guckten sich an, dann sagte der Ältere: »Ist heute so heiß, da bleibt es ruhiger.«

»Es heißt, es sei geschossen worden …«, sagte Gontard. Wieder sahen die beiden sich an, als müssten sie sich die Antwort gegenseitig bestätigen. »Hier knalltet öfter mal«, sagte der Jüngere, und der andere nickte.

»Aber einen Schuss, den kann man doch nicht überhören!«, beharrte Gontard.

»Da müssen Herr Major den Herrn Stallmeister fragen. Wir sind bloß für Streu und Wasser zuständig.«

Es war deutlich, dass die beiden zu keiner einleuchtenden Auskunft bereit waren. Dennoch fragte Gontard:

»Habt ihr irgendwas Auffälliges im Stroh gefunden? Aus Metall etwa?«

Die beiden schüttelten die Köpfe. »Wir haben erst mal alles mit Wasser gründlich gereinigt und dann zusammengekehrt.«

»Seid ihr noch nicht fertig, ihr faulen Säcke!«, tönte eine scharfe Stimme. Es war der Rittmeister. »Oh, Pardon!«, sagte er knapp, als er Gontard gewahrte.

Der lächelte ihm freundlich zu. »Ich versuche, mir ein Bild von dem zu machen, was hier geschehen ist«, sagte er.

»Haben Sie eine Erklärung?«

»Bedaure, nein. Kam erst hinzu, nachdem der Herr Lieutenant die Pistole bereits abgeschossen hatte.«

»Habe ich nicht!«, protestierte Kirchner. »Der Schuss war längst gefallen, als ich der Hilfeschreie wegen hier erschien!«

Gontard legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.

»Das klären wir alles«, versprach er. »Zeigen Sie mir mal, wo die Waffe lag und wo der Herr Oberst-Lieutenant sich befand!«

»Das arme Pferd nicht zu vergessen!«, ergänzte der Rittmeister ein wenig hämisch, bevor er sich umdrehte und verschwand.

»Und das Pferd«, sagte Gontard ruhig.

Kirchner wies auf die entsprechenden Stellen im Stroh. Gontard nickte und erkundigte sich ganz beiläufig:

»Wie standen Sie selber zu dem Herrn Oberst-Lieutenant von Streyth?«

Kirchners Antwort klang ein wenig steif. »Ich hatte keinerlei persönliche Berührung mit ihm. Ich meine, abgesehen von den wenigen Lehrveranstaltungen …«

»Gab es da nicht irgendeinen Einspruch seinerseits bezüglich gewisser optischer Versuche, die Sie unternehmen?«

Gontard schien es, als errötete Kirchner. Aber im Halbdunkel war das nicht wirklich zu erkennen.

»Ich hatte keinerlei persönliche Auseinandersetzung mit dem Herrn Oberst-Lieutenant«, sagte Kirchner reserviert.

Zwei

Der Major von Gontard war geneigt, es eher als ein außergewöhnliches und auffallendes Zusammentreffen denn als einen Zufall zu betrachten, dass ausgerechnet ihm die Aufklärung der Todesumstände des Oberst-Lieutenants Aemilius von Elster, genannt von Streyth, übertragen worden war. Möglichst rasch sollte er Klarheit in den Fall bringen. Deshalb hatte er sich nicht damit aufgehalten, vom Marstall aus noch einmal in seine Mietwohnung in der Dorotheenstraße heimzukehren, sondern war spornstreichs zum Gensdarmen-Markt geeilt, um endlich seinen Freund Kußmaul zu treffen - und ihn wieder einmal um seine medicinische, in diesem Fall pathologische Hilfe zu bitten.

Doktor Friedrich Kußmaul, als praktizierender Arzt an entsetzliche Krankheiten und plötzliche Sterbefälle gewöhnt, teilte Gontards erklärte Vorliebe für geheimnisvolle Todesfälle nur bedingt, war jedoch auch diesmal bereit, sich persönlich für eine gewissenhafte Obduktion des unter so fragwürdigen Umständen Dahingegangenen einzusetzen.

»Ein Einspruch der Familie ist nicht zu erwarten?«, erkundigte er sich sicherheitshalber. Gontards lange zurückliegende Bekanntschaft mit der jäh zur Witwe gewordenen Frau von Streyth war ihm noch in Erinnerung.

»Ich bitte dich!« Beinahe hätte Gontard mit seiner heftigen Handbewegung das zierliche Kaffeetässchen vom Tisch gewischt. »In der Residenz werden alle Unglücksleichen vorschriftsmäßig seziert. Weshalb sollte für unseren Oberst-Lieutenant eine Ausnahme gelten?«

Kußmaul wiegte sein Haupt. »Bei den höheren Ständen weiß man nie, wie weit der Einfluss reicht. Sprachst du nicht seinerzeit von einer gewissen Hand, die schützend über ebendiesem Herrn von Streyth schwebe?«

»Schwebte, mein Lieber, schwebte. Es handelte sich um niemand Geringeren als unseren Gebieter, den Prinzen August, Oberbefehlshaber der preußischen Artillerie …«

»… und letzten direkten Nachfahren Friedrichs des Großen«, ergänzte Kußmaul lachend. »Jetzt erinnere ich mich! Der Gute ist vor einem Jahr gestorben, nicht wahr?«

»Eben. Deswegen wäre die Laufbahn des Herrn Oberst-Lieutenant an unserer Artillerie- und Ingenieurschule ohnedies mit dem auslaufenden Semester beendet gewesen, und niemand hätte ihm eine Träne nachgeweint.«

Kußmaul gab dem bedienenden Markeur ein Zeichen, ihnen noch zwei Mokka zu servieren und dazu zwei Gläschen jenes herben Likörs, den er neuerdings bevorzugte.

»Das spricht natürlich gegen ein Attentat«, stellte er sodann nüchtern fest. »Wenn ihn jemand loswerden wollte, brauchte er doch nur die Zeit abzuwarten, oder?«

Gontard nickte zustimmend. »Allerdings passen die Pistole und der daraus abgegebene Schuss nicht so recht in dieses friedliche Bild.«

»Glaubst du, dieser Kirchner hatte Gründe, etwas gegen von Streyth zu unternehmen?«

Gontard seufzte. »Das eben gilt es herauszufinden. Immerhin halte ich Kirchner für intelligent genug, sich nicht mit einer just abgefeuerten Waffe in der Hand neben einer frischen Leiche erwischen zu lassen.«

»Na bitte! Und wenn es nun der Herr Oberst-Lieutenant höchstpersönlich und eigenhändig war, der die Pistole abfeuerte, um mit dem Ende seiner militärischen Laufbahn auch sein ruhmreiches Leben zu beschließen?«

»Nein, nein.« Gontard dachte einen Augenblick nach und schüttelte abwehrend den Kopf. »Da schätzt du den alten Zausel falsch ein. Er mag nicht besonders klug gewesen sein, aber zäh war er wie ungegerbtes Ochsenleder. Ein ehrpusseliger Soldat von altem Schrot und Korn, der sich zu wehren verstand und ewig Streit suchte. Der hätte sich allenfalls erschossen, wenn Prinz August höchstselbst es ihm befohlen hätte.«

 

Kußmaul hob das Likörglas. »Um den Prinzen ist es auffallend still geworden, findest du nicht?«

Nun war es an Gontard zu lächeln. »Meinst du, um uns wird man ein Jahr nach unserem Tod noch größeres Aufsehen machen?«

»Das meine ich wahrhaftig nicht!«

»Aber August war schließlich eine herausragende Persönlichkeit bei Hofe und beim Militär. Der letzte leibliche Neffe Friedrichs, der Bruder des unsterblichen preußischen Helden Louis Ferdinand … und der reichste Mann Preußens, vergiss das nicht! Dazu ein mehr als dutzendfacher Vater«, fuhr Gontard mit gedämpfter Stimme fort und sah sich dabei um. Im Roten Zimmer gab es immer den einen oder anderen mit langen Ohren. Gespräche über das gottgewollte Herrscherhaus der Hohenzollern waren allemal gefährlich.

»Ich sehe, du bist in deinem Element.« Kußmaul griente breit. »Zwar hast du die Maulfertigkeit deines dahingegangenen Freundes Heidenreich noch nicht erreicht, doch wirst du gewiss herausfinden, welcher Art Verknüpfungen zwischen dem dahingegangenen Prinzen August und seinem vom eigenen Pferd getöteten Günstling existierten.«

Gontard verstand die Anspielung nur zu gut. Doktor Gebhardt Heidenreich war nicht nur ein ebenso beredsamer wie begnadeter Physiker und Experimentator gewesen, sondern auch ein geradezu manischer Erforscher der Hohenzollern’schen Genealogie, in deren illegitime Verzweigungen er tiefer eingedrungen war, als es für seine Beziehung zu der späteren Frau von Streyth gut war.

»Da gibt es wenig Neues herauszufinden«, meinte Gontard in gedämpftem Ton. »Der Hof hat rechtzeitig dafür gesorgt, dass Augusts Nachkommen beim Erbe sämtlich leer ausgehen - darunter auch die stolze Melitta von Potzlow.«

»Ich sehe schon, du musst mir die Zusammenhänge noch einmal ausführlich erläutern.« Kußmaul erhob sich. »Leider warten meine Abendpatienten auf mich.« Er drückte Gontard die Hand und überließ ihm großzügig die Rechnung. »Du hörst von mir, sobald wir ein Ergebnis haben«, sagte er im Abgehen.

Gontard war ihm nicht böse. Dank der umsichtigen Verwaltung seines zwar ungeliebten, doch tüchtigen Schwagers erbrachte sein Gut in der Prignitz so viel Gewinn, dass er hier in der Residenz kein Leben in Armut führen brauchte. Dennoch wurde es allerhöchste Zeit, in Wutike wieder einmal nach dem Rechten zu schauen, seine Henriette in die Arme zu schließen, und sei es nur für zwei kurze Nächte, und den Kindern einige Stunden zu widmen. Sein erklärter Liebling, die kleine Luise, wurde acht und begann sich unter Henriettes Einfluss zu einer eigenwilligen jungen Dame zu entwickeln. Ferdinand hingegen, inzwischen zehn Jahre alt, schien eher dem ruhigen und besonnenen Naturell des Vaters zu entsprechen, dessen Zweifel sich mehrten, ob dem Jungen wirklich die stillschweigend vorgegebene Kadetten- und Offizierslaufbahn zuzumuten war. Es schien immerhin, dass auch in Ferdinand die väterliche Begabung für die Naturwissenschaften und die technischen Neuerungen schlummerte. Vielleicht würde er auf diesem Gebiet einmal die bescheidenen Leistungen des Vaters übertreffen. Eine militärische Karriere jedenfalls erschien Gontard unter den gegenwärtig trüben Verhältnissen in Preußen wenig erstrebenswert für den einzigen Sohn.

Gontards Entschluss stand demzufolge fest. Sosehr von Schnödens Aufforderung und das unerwartete Ableben von Streyths seinem Interesse an jeglichen rätselhaften Vorgängen entgegenkamen, er hatte nicht vor, diesem Ereignis das geplante Wochenende in Wutike zu opfern. Deshalb dachte er auch nicht lange darüber nach, ob von Schnöden bei der Erteilung seines Auftrags, der gemäß der Rangordnung ja eigentlich einen Befehl darstellte, den bereits bewilligten freien Sonnabend einfach vergessen hatte.

Adalbert Kirchner packte seine Unterlagen für den nächsten Tag in die Kartentasche. Er konnte die Augen kaum noch offen halten, so müde und zerschlagen fühlte er sich. Dennoch, die Tasche wurde am Abend gepackt, sonst würde er in der Nacht unruhig schlafen.

Beim Verstauen der Papiere kam Kirchner sich immer vor wie ein Primaner - und das, obwohl er auf die dreißig zuging. Dieses Gefühl verspürte er nur am Abend, wenn er den nächsten Tag an der Artillerie- und Ingenieurschule vorbereitete. Ansonsten unterschied sich das Studium in Berlin erheblich vom Schulbesuch in der schlesischen Provinz. Natürlich, das preußische Militär führte ein hartes Regime, die Schulleitung nahm es mit der Ordnung, der Pünktlichkeit und der Pflichterfüllung bei den Studenten sehr genau. Damit kam Kirchner, seit frühester Kindheit an eine strenge Erziehung gewöhnt, gut zurecht. Das übliche Studentenleben erschien ihm ohnehin kaum erstrebenswert, lieber lernte er und widmete sich in Ruhe seinen naturwissenschaftlichen Studien. Allein die Labore, die neuesten Instrumente und Geräte in Räumen, die so hell getüncht waren wie frisch gestärkte Hemden und so groß wie ein herrschaftlicher Salon! Kein Vergleich mit der Kammer, in der sein Vater die Medikamente seiner Apotheke mischte. Ganz sicher konnte Kirchner bei der Garnison in Breslau nicht so forschen wie hier. Im täglichen Dienst bei den Pionieren würde er kaum Zeit für seine Passion haben: die Optik.

Kirchner steckte eine letzte Papierrolle in die Tasche und stellte diese auf den Stuhl neben seinem Bett. Er schaute zu Bernward von Pragenaus Bett. Der Stubenkamerad schaffte es nur leidlich, seine Decke nach Vorschrift zusammenzulegen. Jeden Morgen beobachtete Kirchner die Hast, mit der Pragenau das Zeug zusammenraffte.

Die Tür wurde aufgerissen, und Bernward von Pragenau torkelte in die Stube. Die Bierfahne erreichte Kirchner, noch bevor Pragenau den Mund öffnete.

»Das ist gut …« Pragenaus Worte klangen so wacklig, wie sein Gang zwischen den Betten ausfiel. »Ich hatte Sorgen, du schläfst schon …«

Kirchner ärgerte sich, dass er nicht ein paar Minuten früher in sein Bett gekrochen war. Auch wenn er Pragenau gut leiden konnte - ein Feingeist war der nicht gerade.

»O Mann, ich sage dir … ich hatte heute ein Erlebnis! Das glaubt mir kein Mensch!« Pragenau lallte herum, schien aber entschlossen, ein Gespräch anzufangen. Das konnte ja heiter werden!

Der Stubenkamerad ließ seinen plumpen Körper auf den Stuhl fallen. Das Holz ächzte, hielt aber stand. Wenn er saß, sah Bernward von Pragenau wie eine zu groß geratene Maus aus - mit seiner spitzen Nase und dem Kopf, der übergangslos in den Bauch überzugehen schien. Im Schein der Ölfunzel, die kaum das durchs Fenster fallende Mondlicht verstärkte, wirkte seine Gesichtsfarbe ungesund und grau.

»Hörst du mir zu?«, lallte Pragenau.

»Erzähl mir lieber morgen von deinem Erlebnis! Ich hatte auch eines, ein ziemlich schreckliches sogar …«

Pragenau, der sein einziger wirklicher Kamerad hier an der Schule war, schien Kirchners Bemerkung aber eher lustig zu finden. »Ssiemlich schrecklich …«, artikulierte er mühsam. »Du meinst die Schule, stimmt’s?

»Es war im Stall. Aber wir müssen jetzt nicht darüber reden.«

»Im Stall!« Pragenau wieherte wie ein Pferd. »Aber ich sage dir, hinter dem Marstall …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, ich sage gar nichts …« Mit weit aufgerissenen Augen glotzte er Kirchner an. »Was war denn los im Stall?«

Ja, was? Wo sollte Kirchner anfangen? »Nun ja … Grani geht es gut.«

Pragenau guckte so verständnislos, als hielte Kirchner einen Vortrag über theoretische Physik. »Grani?«, fragte er gedehnt.

»Na, deinem Pferd.«

»Ich weiß, wie mein Pferd heißt …«

Es war hoffnungslos. Der Einstieg in ein vernünftiges Gespräch war wohl vorerst gescheitert.

Pragenau stützte seinen Kopf in die Hand und nuschelte: »Was ist denn Schreckliches in der Stadt passiert?«

Widerstrebend gab Kirchner Auskunft. »Es fiel plötzlich ein Schuss. Ein Pferd ging durch, und jemand schrie. Und als ich endlich hinzukam, war der Mann tot …«

Zugegeben, das war eine extrem verkürzte Darstellung der Geschehnisse und dennoch die Wahrheit.

»Ein Schuss?«, lallte Pragenau. Anscheinend wurde er immer blasser - oder ging das Öl in der Lampe aus?

»Ja, der Knall war nicht zu überhören. Ich bin sofort losgerannt, und dann fand ich den Oberst-Lieutenant in seinem Blut liegend … und neben ihm die Pistole.«

Pragenau stierte ihn an. Sein Mund stand offen.

»Mit dieser Waffe in der Hand hat mich dann der Rittmeister neben der Leiche von Streyths angetroffen«, ergänzte Kirchner.

»Von Streyth?« Für einen Augenblick schien Pragenau hellwach. »Du meinst, von Streyth ist erschossen worden?«

Kirchner zögerte. Darüber hatte er lange nachgedacht. Konnte er das bestätigen? War die Waffe noch warm gewesen? Er hatte sie am Griff aufgehoben und nicht auf die Temperatur geachtet. Der Criminal-Commissarius hatte behauptet, die Pistole sei kurz vorher abgefeuert worden, und zwar von ihm, Kirchner. Tatsächlich hatte es ja im Stall nach Pulver gerochen. Aber konnte das nicht auch von einer anderen Waffe herrühren? Hatte der Schuss überhaupt von Streyth getroffen? Kirchner schüttelte den Kopf und sagte: »Ich habe keine Ahnung.«

Pragenau starrte ihn an und wollte es nicht glauben.

»Du weißt es nicht?«, lallte er.

»Nein, ich kam zu spät. Und von Streyth … also sein Pferd … er war …« Nun begann auch er, wirr zu reden. Also erst einmal nachdenken! »Nun, das Pferd hatte mit den Hufen den Kopf getroffen. Der war nur noch Brei. Es war wirklich nicht zu erkennen, ob das Blut von einer Schusswunde stammte.«

Pragenaus Kopf rutschte von der Hand. Er konnte den Sturz gerade noch abfangen, bevor das Kinn auf den Tisch schlug. Kirchner fragte sich, ob sein Stubenkamerad die letzten Worte verstanden hatte. Pragenau wackelte mit dem Kopf, als wüsste er nicht genau, wohin er fallen sollte. Mit einem Ruck richtete er sich wieder auf und fragte mit schwerer Zunge: »Was war das denn überhaupt für eine Pistole?«

»Das war so ein kleines Ding. Keine Waffe, die im Heer benutzt wird, würde ich sagen.« Kirchner fiel auf, dass er nicht wusste, ob von Streyth je eine solche Pistole bei sich getragen hatte. Er erinnerte sich an die verdrehten Gliedmaßen, den zertrümmerten Kopf, die Uniform voller Blut … Aber war da eine Tasche für die Waffe gewesen? Er überlegte, aber vor seinem inneren Auge sah er immer nur das Blut - und die Pistole neben der Schulter. Hatte von Streyth selbst geschossen? Oder ein anderer die Waffe des Offiziers benutzt? Oder eine eigene Pistole mitgebracht? Er musste das mit Gontard besprechen. So schnell wie möglich …

Kirchner schaute zu Pragenau. In dessen Gesicht arbeitete nichts mehr, die Augen fielen zu. Der Stubenkamerad riss die Lider hoch und schloss sie gleich wieder. Sein Kopf plauzte auf den Tisch.

Am Freitagvormittag hielt von Gontard die vorgesehenen Lehrstunden zur Ballistik ab, einem Gebiet, das ihn der unabänderlichen Gesetze und der stets gleichbleibenden Beispiele wegen nicht sonderlich berührte, und gab sich dabei alle Mühe, nicht in ein ungebührlich rasches Zeitmaß zu verfallen. Den jungen Herren Studenten fiel es schwer genug, seinen Ausführungen zu folgen, zumal der von Streyth’sche Unglücksfall einige Unruhe an der Schule hervorgerufen hatte. Die Verbreitung der Nachricht, dass einer der Schüler in die Angelegenheit verwickelt war, hatte von Schnöden immerhin unterdrücken können.

Als von Gontard das Schulgelände durch den hinteren Ausgang zur Mittelstraße verließ, überfiel ihn die Junihitze wie eine warme Wolke. Wie so oft verfluchte er innerlich die strenge preußische Uniformordnung, in der den in Preußen herrschenden Temperaturen keinerlei Bedeutung zukam und die es ihm offiziell nicht einmal gestattete, die Kopfbedeckung zu lüpfen. Das tat er jetzt dennoch, während er die in der prallen Mittagssonne liegende Neue Wilhelmstraße entlangeilte und die Spree überquerte. Von dem schmutzig dahinströmenden Wasser stieg kein kühles Lüftchen empor.

Sein Hengst Waldemar stand im Stall der Tierarzneischule, und dorthin hatte er bereits am Morgen das schmale Reisegepäck befördern lassen. Ungesäumt konnte er also die Stadt sogleich über die Unterbaumbrücke in Richtung Spandau verlassen.

Staubig dehnte sich die Straße in der Mittagshitze gen Lietzow und Charlottenburg. Gerne hätte Gontard dem Hengst eine etwas geschwindere Gangart vorgegeben, doch durfte er ihn bei diesen Temperaturen nicht vorzeitig überanstrengen. Bis nach Wutike war es endlos weit, und es würden wahrscheinlich noch einige Jahre ins Land gehen, bis Eisenbahngeleise von der Residenz aus auch ins Nordwestliche führten. Immerhin lag dort Hamburg mit seinem Hafen. Nach Köthen im Anhaltischen fuhren bereits Züge, von wo aus sich Magdeburg, ja Braunschweig oder Leipzig und Dresden erreichen ließen. Selbst nach Stettin konnte man seit zwei Jahren von einer auf dem Gelände der Scharfrichterei angelegten Station aus reisen, und der Frankfurter Bahnhof lag sogar innerhalb der Berliner Stadt- und Akzisemauer. Wie lange würden sich solche künstlichen Absperrungen der Städte und des Handels noch halten?

 

Nachdem Spandau mit dem einzigen Havelübergang hinter ihm lag, gab Gontard der sengenden Sonne endgültig nach, knöpfte den dunkelblauen Uniformrock auf und lockerte die Halsbinde. Die vorgeschriebenen weißen Lederhandschuhe hatte er längst in die Tasche geschoben und die Dienstmütze am Sattelknopf befestigt. Noch schützte ihn sein dichter Haarschopf vor der Sonne. Immerhin war er glücklich, nicht mehr den hohen Tschako tragen zu müssen und dazu die beengende Litewka der alten Uniform mit den flatternden Frackschößen. Der neue, halblange Waffenrock, seit einem Jahr allgemein vorgeschrieben, war um einiges bequemer. Was allerdings die gleichzeitig eingeführte Pickelhaube betraf, so fiel Gontards Urteil gespalten aus. Wie praktisch diese Haube aus gebranntem Leder mit dem abgerundeten Vorder- und Hinterschirm und den Metallbeschlägen in der Schlacht auch sein mochte - bei der Parade oder sonstigen dienstlichen Verpflichtungen fühlte er sich nicht sonderlich wohl unter dem wehenden Rosshaarbusch, der die keck aufragende Artilleristen-Kugel schmückte. Bei Infanterie und Kavallerie handelte es sich um eine regelrechte Spitze wie bei einer altertümlichen Waffe.

Die Uniform, ja überhaupt die gesamte Montierung waren etwas, das einen in dieser Hinsicht gewissenhafteren Offizier als Gontard pausenlos beschäftigen konnte und überdies ins Geld ging. Mancher seiner Kameraden verbrachte mehr Zeit beim Schneider und in den einschlägigen Uniformläden als Gontard beim Lehrbetrieb an der Artillerieschule. Ihm genügte eine verhältnismäßig spartanische Ausrüstung, zu der gehörte als einzige Waffe der Löwenkopfsäbel in der eisernen Scheide, dessen Griff mit derber Fischhaut überzogen und mit einem vergoldeten Bügel geschützt war. Eine Pistole zu tragen wäre Gontard nie in den Sinn gekommen. Mit derartigen Waffen wurden allenfalls verbotene - und doch immer wieder stattfindende - Duelle ausgetragen, weshalb Pistolen häufig gleich paarweise in entsprechenden Kästen angeboten wurden.

Gontard, täglich mit den schweren und schwersten Kalibern von Schusswaffen beschäftigt, hielt solche Waffen schlichtweg für zu sperrig und umständlich im Gebrauch - jedenfalls solange sich die jüngsten Erfindungen der Hinterlader samt Perkussionsschloss noch nicht durchgesetzt hatten. Eine Steinschlosspistole wie die im Marstall gebrauchte war wohl tatsächlich eher zum Erschrecken eines Pferdes denn zu einem Mord geeignet.

Schade, dass er nicht dazu gekommen war, seinem Freund Kußmaul das Spielzeug zu zeigen. Dem, obwohl kein Freund von Feuerwaffen, wäre möglicherweise an der Pistole das eine oder andere besondere Merkmal aufgefallen. Welche Rolle die Waffe beim Tode Streyths wirklich gespielt haben mochte, würde hoffentlich die Obduktion ergeben.

In der glühenden Sonne des späten Mittags und so weit außerhalb der Stadt hielt sich der Verkehr auf der mäßig gepflegten Kunststraße in erträglichen Grenzen. Weit vor ihm wirbelte eine sechsspännige Kalesche eine gewaltige Staubwolke auf. Gontard verspürte wenig Lust, sich dem Gefährt zu nähern und es zu überholen. Der ruhige Trab des Hengstes ließ ihm genügend Zeit, über von Streyths Ende nachzudenken, wobei in ihm der Gedanke an von Schnödens Order eine leichte Unruhe hervorrief. Was, wenn sich in den nächsten Tagen in dieser Angelegenheit doch das eine oder andere ergab, der übereifrige Criminal-Commissarius Werpel eine unerwartete Aktivität entwickelte oder der Verdächtige Kirchner gar die Flucht ergriff? Nein, das hielt Gontard dann doch für gänzlich ausgeschlossen. Ein preußischer Offizier vom Schlage Kirchners entzog sich nicht auf so ehrlose und billige Weise seiner Verantwortung! Abgesehen davon ging Gontard trotz der eigentümlichen Situation, in der man den jungen Lieutenant angetroffen hatte, vorerst nicht von dessen Verantwortung oder gar Schuld aus.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, von Schnöden allein das Überbringen der Trauerbotschaft zu überlassen. Er versuchte, sich an Melitta von Streyth zu erinnern, sah ihre hohe, schlanke Gestalt vor sich, vermochte aber im Augenblick kein Gesicht damit zu verbinden. Hatte er nicht geglaubt, Prinz Augusts Züge in den ihren wiederzuerkennen? Nach allem, was er damals erfahren hatte, bestand kein Zweifel daran, dass sie zu den illegitimen Töchtern der umtriebigen Königlichen Hoheit gehörte, über dessen Unersättlichkeit im Umgang mit Frauen überall in Preußen hinter vorgehaltener Hand geredet wurde.

Der Prinz, eine eindrucksvolle Gestalt mit schlohweißem Haar und großem Charme und in Berlin so etwas wie ein volkstümliches Original, war über drei Jahrzehnte lang bis zu seinem Tode Kommandeur der preußischen Artillerie und Kurator der von ihm begründeten Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule geblieben, gefürchtet wegen seiner strengen Inspektionen und seiner Prüfungen, beliebt jedoch bei Mannschaften und Offizieren.

Jedermann in Preußen wusste, dass es sich bei dem 1779 im Schloss Friedrichsfelde geborenen Prinzen August um den letzten Spross aus der Hohenzollern-Generation Friedrichs des Großen handelte. Er war ein Sohn von dessen jüngstem Bruder Ferdinand, der seine und Friedrichs Nichte Anna Luise von Brandenburg-Schwedt geheiratet hatte. Augusts unvergessener Bruder Louis Ferdinand war 1806 auf dem Schlachtfeld den Heldentod für Preußen gestorben und genoss noch immer allgemeine Verehrung.

Welch mutiger Kriegsheld und tüchtiger Artillerie-Inspekteur der Prinz auch war - seine Erfolge im Bett übertrafen die des Kriegers beiläufig um ein Beträchtliches. Bis an sein Lebensende mit fast 65 Jahren unverheiratet, jedoch mit einer 40 Jahre jüngeren Geliebten begnadet, hatte der wackere Kämpfer sich in mindestens zwei längeren Beziehungen ein Dutzend Mal im Fleische verewigt. Die zur Frau von Waldenburg geadelte Schwester der beiden Bildhauerbrüder Wichmann war die Mutter seiner ersten vier Nachkommen, von denen der Sohn Eduard im Mai 1807 in Soissons geboren worden, wohin Karoline Wichmann dem Geliebten in die französische Gefangenschaft gefolgt war, was den nicht daran hinderte, in Paris einer anderen feurig den Hof zu machen. Wenig später verfiel er seiner großen Liebe Juliette Récamier, die ihn über viele Jahre hinzuhalten wusste. Ende 1807 nach Berlin zurückgekehrt, rief ihn der König nach Königsberg, und dort, so wusste Gontard aus Heidenreichs nachgelassenen Notizen, begegnete er, nicht ohne Folgen, einer weiteren jungen Dame aus gutem Hause, die neun Monate später eine Tochter namens Melitta gebar.

Gontard verfügte über ein gutes Gedächtnis, und der staubige Ritt in der Nachmittagssonne bot ihm ausreichend Gelegenheit, sich die Einzelheiten in Erinnerung zu rufen. Gebhardt Heidenreich hatte nämlich herausgefunden, dass es sich bei Prinz August von Preußen wohl nur um einen vermeintlichen Sohn des 1813 dahingegangenen Prinzen Ferdinand handeln konnte. Dieser Ferdinand, jüngster Bruder des unsterblichen Friedrich und nur angeblich nicht von ähnlicher Abneigung gegen das weibliche Geschlecht befallen wie der und beider Bruder Heinrich, hatte als 25-Jähriger die acht Jahre jüngere Tochter seiner und Friedrichs Schwester Sophie geehelicht.

Prinz Ferdinand stieg so rasch zu militärischen Ehren auf, wie es einem leiblichen Bruder des Herrschers zustand, musste jedoch die Armee des ruhmreichen F II. als 28-jähriger Generalmajor wegen, wie es hieß, »schwächlicher Leibesbeschaffenheit« verlassen. Fortan führten er und seine junge Frau Luise in Friedrichsfelde, Rheinsberg und im eigens erbauten Lustschloss Bellevue ein eher zurückgezogenes Leben. Nach sechs Jahren Ehe wurde 1761 eine Tochter geboren, der ab 1769 in schooner Regelmäßigkeit sechs weitere Kinder folgten, von denen nur der Jüngste, eben der Prinz August, ein höheres Alter erreichte, während Preußens Kriegsgott, der ältere Bruder Louis Ferdinand kaum 34-jährig in der Schlacht bei Saalfeld sein ruhmreiches Ende fand.