Das andere Volk Gottes

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2.2 Postmodern kennzeichnend: Ein Pluralismus von Paradigmen

Welsch erfasst innerhalb zwei Phasen der Entwicklung, die jenen der Moderne des 20. Jahrhunderts zur Postmoderne hin durchaus parallel sind: In einem ersten Schritt kommt es zur Ausdifferenzierung in verschiedene Rationalitätstypen. Hieran schließt sich postmodern eine weitere Scheidung in plurale Paradigmen an. Diesen Vorgang nennt Welsch Paradigmenpluralisierung und zeigt, dass die vorherigen, verschiedenen (noch ansatzweise harmonisierbaren) Rationalitätstypen nicht mehr existieren, „sondern daß das einzige, was es hier wirklich gibt, die Paradigmen sind.“25 Sie übernehmen die Funktion der Rationalitätstypen, indem sie nun einen ausschließlichen Gegenstandsbereich wie auch die Konstitutions- und Verbindungsregeln der Gegenstände zu definieren vermögen.

Ein Paradigma definiert Welsch mit Thomas Kuhn und zugleich in Abgrenzung von ihm.26 Zum einen stimmt Welsch Kuhn zu, wenn dieser Paradigmen als ganze Konstellationen von Meinungen, Methoden und Werten im Sinne einer „diszipilinären Matrix“ beschreibt, andererseits modifiziert er Kuhns Paradigmenbegriff weiter.27 Insbesondere unterstreicht Welsch dabei die Gleichzeitigkeit und damit das Nebeneinander von Paradigmen innerhalb derselben Disziplin. In solcher Simultaneität sieht er – neben weiteren Aspekten – das ausschlagebende Charakteristikum des Paradigmas benannt:

„Innerhalb dessen, was man Wissenschaft oder Kunst oder Philosophie nennt, existieren jeweils verschiedene Gruppen, die durch den Gebrauch unterschiedlicher Paradigmen definiert sind.“28

Die einzelnen Paradigmen verhalten sich also heterogen zueinander, da sie

„[…] keineswegs bloß Versionen oder Varianten eines jeweiligen Rationalitätstyps sind; ihre Unterschiede gehen bis an die Substanz, betreffen Basis-definitionen und erstrecken sich auf sämtliche Dimensionen des jeweiligen Rationalitätstyps. Die Paradigmen vertreten je eigene Axiomatiken. Daher sind [sie] […] hinsichtlich der zu verfolgenden Methoden, Ziele und Kriterien, also hinsichtlich der gesamten kategorialen Struktur des betreffenden Rationalitätstyps hochgradig verschieden und nicht mehr auf einen Nenner zu bringen.“29

Von daher sind Konflikte zwischen den Paradigmen vorprogrammiert und wesentliche Kontroversen in der Postmoderne als Paradigmenkonflikte zu identifizieren. Sie durch Toleranzforderungen oder Versöhnungsversuche harmonisieren zu wollen, wird ihrer Eigenheit nicht gerecht, sondern beraubt sie ihrer sie konstituierenden, heterogenen Identität. Daher ist der Konflikt der Sachaussagen, Methoden, Ziele und Kriterien einem postmodernen Paradigmenpluralismus inhärent. Er ist also nicht die Frage guten oder bösen Willens bzw. Umgangs, sondern Konsequenz der sich gerade in jeglicher Unvereinbarkeit zeigenden Eigenart eines Paradigmenpluralismus. Daher sind „Dissense wirklich radikal, gehen an die Wurzel, betreffen noch jede Grundlage“.30 Sie sind der zu erwartende Normalfall.

Wesentlich ist in diesen paradigmenpluralen Zusammenhängen daher die Fähigkeit zur Pluralitätskompetenz. Sie meint die Möglichkeit, unterschiedliche Paradigmen und ihre Kriterien erkennen und zuordnen zu können. Darin ist die Unverrechenbarkeit und Anstößigkeit heterogener Paradigmen folglich zu erkennen und als solche zu akzeptieren. Solche Pluralitätskompetenz benennt Welsch als die „conditio sine qua non wissenschaftlichen Arbeitens“.31 Zugleich stellt sich angesichts dieses paradigmenpluralen Befunds, der zur Signatur einer postmodern werdenden Kultur gehört, die wesentliche Frage nach Kommunikations- bzw. inhaltlichen Übergangsmöglichkeiten zwischen den Paradigmen.32 Diese Frage ist nun im Rahmen der Vorklärungen dieser Studie zentral zu artikulieren, da sie den Hintergrund für die innere Logik unserer Ausarbeitung anzeigt. Sie wird wiederum mit Wolfgang Welsch und seinem Konzept der transversalen Vernunft aufgenommen.

2.3 Postmodern notwendig: Die transversale Vernunft als innerer Kompass dieser Studie

Welsch hält im Unterschied zu Lyotard jedoch daran fest, dass man sich mit dem festgestellten Dissens der Paradigmen keineswegs zufrieden geben kann, sondern vielmehr „Dissensklärung das letzte Ziel“ darstellt.33 Für ihn ist gerade die Vernunft das Medium der Austragung von Paradigmenkonflikten, denn:

„In ihrem Horizont treten diese Konflikte ja allererst auf, und nur durch Reflexion von Grenzen, Verflechtungen und Übergängen sind sie zu lösen.“34

Voraussetzungen für derartige Übergangsmöglichkeiten zwischen den Paradigmen liegen in deren eigener Konstitution. Maria Widl fasst die Überlegungen Wolfgang Welschs dazu zusammen:

„Bei aller […] Unverrechenbarkeit und Unvereinbarkeit verschiedener Paradigmen sind diese dennoch nicht absolut heterogen, sondern haben bereits durch ihre Entstehung vorgebildete Brücken. Diese sind einerseits binnensektorielle Verflechtungen – Paradigmen bildet [sic] sich stets in Abhebung und Gegenzeichnung von anderen aus und bleiben so von ihnen bis zu einem gewissen Grad gegenabhängig. Andererseits zeigen sich transsektorielle Verflechtungen – ein Paradigma bezieht seine Grundlagen und Überzeugungskraft weitgehend nicht aus sich, sondern aus anderen Bereichen; was nur in sich selbst überzeugend wäre, ist psychotisch, idiotisch, egomanisch. Paradigmen sind also in und trotz ihrer Unverrechenbarkeit interparadigmatisch verfasst, sie bilden ein netzartiges Gefüge aus. In ihnen kommt es allerdings zu laufenden Sinnverschiebungen. Entsprechend braucht es Denkformen, die von vornherein sowohl mit Verflechtungen als auch mit Irritationen rechnen und ihnen gewachsen sind – eine transversale Vernunft.“35

Diese Grundlegung der transversalen Vernunft wirft die Frage nach deren Praxis auf: Wie operiert eine transversale Vernunft, wenn sie Brücken zwischen den Paradigmen schlägt? Wolfgang Welsch gibt eine philosophische, Maria Widl in Ableitung davon eine praktisch-theologische Antwort. Für Welsch macht die transversale Anlage der Vernunft klar, dass die Vernunft an sich keine statische, ortsgebundene Größe, sondern „wesenhaft prozessual ist und in Reifizierungen nur verfehlt werden könnte.“36

Welsch beschreibt diesen Prozess wie folgt:

„Transversale Vernunft nimmt Funktionen von Urteilskraft in mindestens vier Hinsichten wahr. Erstens gibt sie an, welchem Rationalitätstypus eine Gegenstandsfrage zuzuordnen ist. […] Zweitens ist transversale Vernunft ein Vermögen der Findung von Übergängen. „Findung“ soll dabei anzeigen, daß die Übergänge nicht aus einem Gesamtsystem deduziert werden können, sondern entdeckt werden müssen. In dieser Schicht hat transversale Vernunft viel von einem Spürsinn […]. Drittens reflektiert transversale Vernunft Gemeinsamkeiten zwischen Rationalitätstypen, z.B. Gemeinsamkeiten analogischer Art, also Gemeinsames, das als solches gar nicht mehr eindeutig angebbar, sehr wohl aber in seinem Entsprechungscharakter durch Urteilskraft erfaßbar ist […]. Transversale Vernunft stellt dabei die Ähnlichkeit der Verfahrensweise fest, die sie im einen und im anderen Gebiet praktiziert. Gerade darin erweist sie sich als das eigentliche Verbindungsglied der Rationalitäten. Und viertens ist transversale Vernunft als Urteilskraft auch dort tätig, wo sie bei Konflikten zwischen heterogenen Ansprüchen eine Analyse dialektischer Art vornimmt und darin die jeweiligen Rechtsgründe differenziert, prüft und abwägt – und das nicht nur hinsichtlich ihrer Vergleichbarkeit, sondern auch ihrer Unvergleichbarkeit.“37

Es geht der transversalen Vernunft also nicht um ein harmonisierendes Vorgehen, das Unterschiede einebnete, sondern um die Aufdeckung gemeinsamer Grundlagen bzw. Rationalitäten, welche die Paradigmen verschränkbar machen, ohne sie jedoch zu vereinheitlichen. Hierbei wird somit nicht ein Paradigma zum Maßstab des anderen erhoben, was zudem der Gerechtigkeitsoption widerspräche, vielmehr wird die Verwiesenheit beider Paradigmen aufeinander offenkundig. Das Ergebnis bedeutet eine Rationalitätsform, welche beiden Paradigmen inhärent ist, jedoch in keinem der beiden ganz aufgeht und verwirklicht ist. Dies führt Welsch mittels folgender Äußerungen weiter aus:

„Transversale Vernunft realisiert Einheit allein in einer auf Übergängigkeit bezogenen, damit aber grundsätzlich an Diversität festhaltenden Form.“38

Und:

„Sie leistet Kommunikation, ohne Hegemonie zu verfügen, und sie exponiert Differenzen, ohne Brücken abzubrechen. Transversale Vernunft operiert in einem Zwischenbereich, wo derlei Einseitigkeiten nicht favorisiert, sondern korrigiert werden. Sie knüpft Verbindungen, ohne Einheit zu erzwingen, sie überbrückt Gräben, ohne das Terrain zu planieren, sie entfaltet Diversität, ohne alles zu fragmentieren.“39

Damit gibt sich die transversale Vernunft mit der Vorläufigkeit nicht endgültig zu vereinigender bzw. harmonisierender Paradigmen zufrieden. Sie bedingt zudem eine Kommunikationsform, welche das Ermöglichen eines inhaltlichen Brückenschlags intendiert. Zugleich beinhaltet sie dabei eine Korrektivfunktion für manches, schon immer für unhintergehbar Gehaltene eines Paradigmas. Durch solch vielschichtige Korrektivtätigkeit schafft sie umso mehr die Grundlage für Gerechtigkeit und gegenseitige Verbindlichkeit, deren sich deshalb beide Paradigmen verpflichtet wissen können, weil sie aus der gemeinsam grundlegenden Rationalität abgeleitet ist.

 

Praktisch meint das Vorgehen der transversalen Vernunft, vorletzten Festlegungen den Vorrang vor einer mitunter konflikthaften, unvermittelten Existenz verschiedener Paradigmen einzuräumen. Rigorismen werden darin als „Überstabilisierungen“ entlarvbar.40 Theologisch kann dieser Vorzug der transversalen Vernunft für Vorläufigkeit und Begrenztheit durchaus mit dem eschatologischen Vorbehalt korrelieren.

Als praktisch-theologische Kriterien lassen sich aus diesen philosophischen Definitionen folgende Wegmarken ableiten, die Maria Widl unter Bezugnahme auf Rudolf Englert wie folgt erfasst:

• „Ein Paradigma wird von seinen Stärken her beurteilt.

• Es wird dazu in seinen eigenen Wertmaßstäben erfaßt.

• Konstruktive Kritik eröffnet ihm bisher verstellte Perspektiven.

• Diese wirken in den bisherigen Verengungen befreiend.

• Dieser Vorgang braucht und eröffnet Räume des Vertrauens.

• Ein mit Blick auf den gemeinsam bezeugten dreieinigen Gott so geführter Widerstreit über die je eigene Perspektive von Glaube, Hoffnung und Liebe ist kirchenkonstitutiv.“41

Konkret für die innere Logik unserer Studie bedeuten diese philosophischen und praktisch-theologischen Kriterien: Die Verschränkung der Paradigmen (welche sich in Teil I und Teil II 1 gemäß ihren Wertmaßstäben dargestellt finden) ergibt sich, indem in der Rückführung auf eine bereits angelegte gemeinsame Grundlegung beider Paradigmen (hier konkret die Zugehörigkeit zum Volk Gottes) in der konstruktiv-kriteriologischen Erweiterung dieses Gemeinsamen die Stärken wie die Schwächen beider Paradigmen anschaulich werden (Teil II 2+3). Die gemeinsame Grundlegung wird in ihrer nunmehr erweiterten kriteriologischen Substanz (hier die Volk Gottes-Berufung gemäß dem II. Vatikanum) sodann zum Ausgangspunkt für praktisch-kirchenkonstitutive Überlegungen (Teil III), welche nicht in der Rückführung auf die Gültigkeit nur eines Paradigmas bestehen dürfen. Letztere kirchenkonstitutive Überlegungen erweisen sich ihrerseits wiederum transversal, da sie den ebenfalls zuvor transversal ermittelten Berufungsbegriff des II. Vatikanums als neues Paradigma mit dem Paradigma der Lebenswelten und Suchbewegungen heutiger Menschen zu verschränken suchen.

Die Transversalität in ihrer philosophischen Grundlegung wie praktischtheologischen Rezeption eignet sich somit für die Bearbeitung der aufgeworfenen Fragestellung in nahezu idealer Weise.42 Innerhalb der sich unten anschließenden methodischen Grundlegung unserer Studie ergibt sich diese Konzeption gleichsam als erkenntnisleitender Navigator. Denn Gemeinde- und postmoderne Volkskirche erweisen sich zum einen in der Praxis und mehr noch in deren empirischer bzw. theoretischer Wahrnehmung als heterogen-verschiedene Paradigmen, welche nicht ohne weiteres harmonisiert werden können. Es ist zudem praktisch die Unmöglichkeit evident, das eine Paradigma des Christseins zum Maßstab des anderen zu machen, ohne dass man ein hohes Maß von Frustration und Konflikten dafür in Kauf nehmen müsste. Daher zeigt sich das postmoderne Konzept der transversalen Vernunft als hilfreich, über eine Verschränkung der Paradigmen (nochmals: nicht über eine konflikthafte Einebnung oder Harmonisierung) zu praktikablen Zugängen zu gelangen, welche aus der hinter beiden Paradigmen stehenden Rationalität ableitbar sind.

Der nun herzuleitende praktisch-theologische methodische Dreischritt entspricht dabei einem transversal angelegten Erkenntnisinteresse in optimaler Weise.

3. Zur methodischen Konzeption dieser Studie:
Der Dreischritt von Kairologie – Kriteriologie – Praxeologie

Mit dem methodischen Modell von Kairologie, Kriteriologie und Praxeologie ist der Weg des induktiven Vorgehens praktischer Theologie beschrieben, welcher die Wirklichkeit anschaut, sie im Horizont theologischer Kriterien reflektiert, um schließlich zu einer Optimierung kirchlich-pastoraler Praxis zu gelangen. Diese Praxis soll demzufolge den „Zeichen der Zeit“ (GS 4) wie den entwickelten theologischen Kriterien mehr entsprechen können. Sie markiert den Zielpunkt eines dergestalt angelegten wissenschaftlichen Vorgehens. Ausgangspunkt bildet somit eine Praxis bzw. ein Ist-Stand kirchlich-sozialen Lebens, der um seiner Optimierung willen vertieft theologisch reflektiert wird. Paul Michael Zulehner begründet dieses Vorgehen in seiner Fundamentalpastoral wie folgt:

„Thema unserer Praktischen Theologie ist […] nicht eine zeitlose „Ekklesiologie“, eine Lehre von der Kirche, wie sie ist oder sein soll, sondern situative, kontextuelle Lehre von der „Ekklesiogenese“, der „Kirchengeburt“, wobei diese Geburt identisch ist mit ihrer „Praxis“, ihrem Handeln.“43

Herbert Haslinger erfasst die Methode dazu in Beschreibung der unterschiedlichen Grundlegung der drei Schritte von Kairologie, Kriteriologie und Praxeologie:

„Im Hinblick auf die jeweils zu reflektierende bzw. zu konzipierende Praxis

- wird zunächst die Situation mit ihren Gegebenheiten und systemischen Zusammenhängen in Gesellschaft und Kirche kritisch, d.h. mit dem Interesse an der Aufdeckung und Veränderung von Fehlentwicklungen, wahrgenommen und radikal, d.h. möglichst bis auf den Grund der Ursachen und Wirkzusammenhänge gehend, analysiert;

- folgt in einem zweiten Schritt die argumentative Zugrundelegung der im christlichen Glauben, näherhin in Schrift und Tradition enthaltenen Kriterien, um Situation und Praxis nach dem Maßstab des Evangeliums zu beurteilen.

- gelangt man schließlich von dieser Orientierung aus über die Formulierung von Zielen, die Planung von Handlungsschritten und die Verständigung der Beteiligten über ihre Rollen zu einer neuen, den situativen Erfordernissen und Möglichkeiten wie auch den theologischen Kriterien entsprechenden Praxis bzw. zur Konzeption einer solchen Praxis.“44

Zulehner gibt desweiteren Kriterien an, nach welchen diese Methode sinnvollerweise operiert.45 Er erläutert die ersten beiden Schritte als zweifache Reflexion: Die Kairologie erforscht mit den Mitteln der Sozialwissenschaftler bzw. Anthropologen, Philosophen oder Psychologen die „Zeichen der Zeit“. Damit ist die Kairologie eine „Lehre von den Situationen“.46 Notwendig kommt jedoch ein zweiter Schritt hinzu, den Zulehner als „Lehre von den Zielen“ definiert.47 Er ist die Kriteriologie. Sie macht die wahrgenommenen Situationen im eigentlich theologischen Sinne erst zum Kairos. Mit ihr wird die kairologisch wahrgenommene Zeitsituation zum „Erfahrungsort Gottes in der Geschichte“, welcher freilich notwendig den ersten kairologischen Schritt voraussetzt, denn:48

„Wer erfahren will, was Gott von seiner heutigen Kirche an Praxis erwartet, muß die „Zeichen der Zeit“ lesen und fragen, was Gott seiner Kirche durch diese Zeichen der Zeit an Handlungsmöglichkeiten und damit Handlungsaufforderungen eröffnet.“49

Die Kriteriologie ist demnach eine Weise des Auslotens theologischer Denk- und Handlungsmöglichkeiten angesichts einer sozial und anthropolgisch feststellbaren Realität der Gegenwart. Sie führt in den dritten Schritt der Praxeologie, indem sie auf dem Hintergrund von Kairologie und Kriteriologie Handlungsoptionen formuliert.

Praxeologisch kann es jedoch je nach Ergebnis des kriteriologischen Fragens zwei verschiedene Weisen von Handlungsimperativen geben. Entweder erweist der Weg durch die Kriteriologie die bisherige Praxis als zielsicher und situationsgerecht; das kann die Handelnden ermutigen, den eingeschlagenen Weg zielbewusst und sicher fortzusetzen. Die wissenschaftlich angelegte Prüfung der Praxis bzw. eines Handlungsmusters kann allerdings auch nachweisen, dass sich die aktuelle Praxis als nicht mehr angemessen zeigt. Dafür lassen sich nach Zulehner wiederum zwei große Motive ausmachen: Entweder kann das Handeln der Kirche als zielunsicher identifiziert werden, oder es kann ein Handlungsstil einer Situation nicht mehr angemessen sein, da dieser von Prämissen ausgeht, die sich weiterentwickelt und damit verändert haben können. Ein Stil bzw. situativer Umgang mit einer pastoralen Situation kann für seine Zeit adäquat gewesen sein, mittlerweile jedoch unter dem Fortgang diverser Entwicklungen diese Angemessenheit eingebüßt haben. Dies führt unmittelbar in die prophetische Dimension, welche der Praktischen Theologie innerhalb kirchlicher Erkundungsprozesse zukommen kann.

In der Praxeologie ist für den letzten Fall mithilfe der kairologischen und kriteriologischen Ergebnisse eine praktisch-theologische Handlungstheorie für den kairologisch erfassten pastoralen Kontext zu entwerfen. Überdies sind aufgrund dessen bereits erste modellhafte Aussichten auf eine veränderte, weil weiterentwickelte Praxis aufzuzeigen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich das zuvor beschriebene transversale Erkenntnisinteresse innerhalb dieses Dreischritts angemessen verorten: Wenn oben festgehalten wurde, dass unter postmodernen Bedingungen die meisten feststellbaren Dissense als Paradigmenkonflikte identifizierbar werden, eignen sich die Schritte von Kairologie – Kriteriologie – Praxeologie ideal, um Paradigmen transversal zu verschränken. Ein Paradigma wird somit kairologisch erfasst und anschließend kriteriologisch als mit einem anderen unharmonisierbar nachgewiesen. Zugleich können hier trotz aller Heterogenität Brückenpfeiler für eine transversale Verschränkung beider Paradigmen sichtbar werden. Sie führen sodann zu weiteren Kriterien, welche für die praxeologische Umsetzung handlungsleitend werden.

Damit sind bis hierher die wesentlichen methodischen Vorentscheidungen getroffen und erläutert, welche nun den transversal angelegten Diskurs zwischen Gemeinde- und postmoderner Volkskirche mithilfe des Dreischritts von Kairologie-Kriteriologie-Praxeologie ermöglichen.

4. Vorschau auf die Argumentationsstruktur

Inhaltlich wird dieser Dreischritt innerhalb der vorliegenden Ausarbeitung wie folgt gefüllt werden.

Im ersten Schritt der Kairologie wird mithilfe soziologischer bzw. empirischer und theologischer Grundlagen ein Phänomen gegenwärtiger pastoraler Praxis zu erfassen gesucht: Das andere Volk Gottes, das später genauerhin als postmoderne Volkskirche definiert werden wird, soll in einem ersten Blick mithilfe verschiedener Studien bzw. soziologisch-theologischer Wahrnehmungen zusammenfassend und auf gemeinsame Vergleichspunkte hin darstellend erfasst werden. Anschließend wird die pastoralsoziologische Forschung daraufhin befragt, inwieweit innerhalb ihrer Reihen Ergebnisse zu finden sind, welche sich mit den Ergebnissen des ersten Schritts decken. Ein Resümee beschließt diesen Teil und ein Fazit stellt gleichsam den Kairos heraus, dem es sich im Rahmen der weiteren Reflexionen in Kriteriologie und Praxeologie zu stellen gilt.

Der zweite, kriteriologische Teil schaut insgesamt in zwei Perspektiven auf das bislang wahrgenommene Phänomen: zum einen in der Perspektive der Gemeindeidee im Kontext der (Nach-)Konzilszeit, zum anderen in der dann erweiterten Perspektive der Volk Gottes-Theologie des II. Vatikanums.

Die erste Perspektive der Gemeindetheologie wie der Würzburger Synode stellt die bis in die Gegenwart fortdauernden Ideale einer Gemeindekirchlichkeit dar. Hieran soll näherhin nachvollziehbar werden, wieso die Gemeindeidee als Produkt eines als zuweilen neuzeitlich identifizierbaren innerkirchlichen Paradigmenwechsels für postmoderne VolkschristInnen eine wenig attraktive Möglichkeit bedeutet, um ihr Christsein bzw. ihre Religiosität zu leben.50 Dies wird umso evidenter, als vor dem Hintergrund verschiedener Versuche, welche das Konzept der Gemeinde für die seinerzeit sogenannten Gemeindefremden attraktiv zu machen versuchten, deren langfristige Unwirksamkeit konstatiert werden muss.

Daher wendet sich der zweite Teil danach einer anderen Perspektive zu, welche allerdings bereits den Hintergrund der Gemeindetheologie bildete: die konziliare Theologie des Volkes Gottes. Diese wird mithilfe dreier theologischer Hauptaxiome auf das kairologisch dargestellte Phänomen hin reflektiert: Das Volk Gottes als Leib Christi, als gesandte Communio wie in der Theologie der Mehrheit seiner Glieder, der Laien. Alle drei Reflexionspunkte stellen theologische Themenbereiche dar, welche die Existenz einer postmodernen Volkskirche anfragt: Inwieweit kann es eine (Paradigmen-)Pluralität von unterschiedlichen Entwürfen des Christseins im Volk Gottes geben? Was bedeutet die Rede von der Kirche als Communio unter postmodern werdenden Bedingungen? Und: Wie lässt sich darin die Berufung der Laien im Volk Gottes adäquat beschreiben?

 

Diesen zweiten Hauptteil beschließen wiederum ein ergebnissicherndes Resümee und ein Fazit, welche beide einen Übergang zu den abschließenden praxeologischen Reflexionen bahnen.

Dieser dritte, letzte Teil verfolgt das Ziel, die im theologischen Diskurs ermittelten Ergebnisse für eine pastorale Praxis der Gegenwart denkbar zu machen. Zunächst müssen dazu die Grundvollzüge als Dimensionen der pastoralen Existenz der Kirche nachvollzogen und so auf postmoderne Verhältnisse hin reformuliert werden. Hiernach werden Initiativen vorgestellt, welche, den oben entwickelten Kriterien entsprechend, die Berufung der Laien außerhalb der Gemeindekirchlichkeit bereits exemplarisch, weil transversal-evangelisierend leben. Als theologische Ordnungsfigur dient dabei die Urgestalt christlicher Existenz von Sammlung und Sendung, wie sie im kriteriologischen Teil zentral herausgearbeitet werden konnte: Die Sammlung zum Ausgangspunkt der Sendung zu machen. Zugleich zeigen sich konstruktive Perspektiven, wenn sich mancherorts bereits ein anderes, umgekehrtes Zueinander dieser Ordnungsfigur abzeichnet: Wo die Sendung des Volkes Gottes zum Maßstab für dessen Sammlung wird, ergeben sich aussichtsreiche, für postmoderne Verhältnisse zunehmend kompatible Weisen des Christseins. Abschließend werden vertiefende Reflexionen für die Praxis der Begegnung zwischen Gemeinde- und postmoderner Volkskirche im Gemeindekontext angestellt, da diese aller Voraussicht nach auch künftig weiterhin einen Schwerpunkt im pastoralen Umgang mit der postmodernen Volkskirche bilden werden. Ein Schlusswort stellt wesentliche Ergebnisse dieser Studie zusammen und entwirft eine Antwort auf ihre eingangs entwickelte Fragestellung.

1 Diese Studie ist unter dem ursprünglichen Titel „Das andere Volk Gottes. Ein transversaler Diskurs zwischen Gemeinde- und postmoderner Volkskirche“ als Dissertationsschrift eingereicht worden. Zu dieser Themenformulierung ist für ihr richtiges Verständnis anzumerken, dass es sich bei Gemeinde oder Gemeindekirche um Begriffe handelt, die seitens der katholischen Pastoraltheologie im Kontext des II. Vatikanischen Konzils vorwiegend im deutschsprachigen Raum entwickelt wurden (vgl. die Darstellung am Anfang des II. Teils). Damit ist in keiner Weise negiert oder relativiert, dass sich die katholische Kirche ekklesiologisch als Bischofskirche versteht; es werden daher lediglich die seinerzeit entwickelten bzw. übernommenen und bis heute mentalitätsmäßig prägenden Begriffe verwandt.

2 Hier ist darauf hinzuweisen, dass die unten definierte postmoderne Volkskirche vorwiegend in jenen Gegenden des deutschsprachigen Kulturraumes anzutreffen ist, welche nicht durch eine Diasporasituation geprägt sind. Dies sei bereits an dieser Stelle eingrenzend benannt.

3 So berichtet der vormalige Spiritual des Münsteraner Priesterseminars und heutige Weihbischof Stefan Zekorn, wie einer der Seminaristen seine Eindrücke eines Gemeindepraktikums in folgende Worte fasste: „Es begegnen einem bei allen Veranstaltungen dieselben Gesichter.“ [Zekorn, S., Der „Heilige Rest“? Christliche Gemeinde und ihre Zukunft, Kevelaer 2007, 12.] Handfest und prägnant ist damit benannt, was Soziologen mit dem Begriff der „Milieuverengung“ erfassen. Vgl. dazu den Aufsatz von Sellmann, M., Milieuverengung ist Gottesverengung, in: LS 57 (2006), 284-289. Oder auch: Ebertz, M. N., Gleichberechtigte Partner? Entlohnte und nichtentlohnte Dienste und Ämter, in: HerKorr Spezial, 1-2009, 14-18, 16.

4 Zu den Querverweisen innerhalb dieser Studie sei erläuternd angemerkt: Die drei Teile werden jeweils mit den römischen Zahlen I-III bezeichnet, weitere Unterstrukturierungen ohne Punkt angefügt, etwa: II 2.3.2.3 bedeutet Teil II Unterpunkt 2.3.2.3.

5 Zudem ist eine solche Vorläufigkeit für eine transversale Vernunft konstitutiv (vgl. dazu näher: 0 2.3).

6 Was man neben den spezifischen, unumgänglich klassischen Orten kategorialer Pastoral eigentlich während der Nachkonzilszeit immer fraglos voraussetzt. Wie weit diese Mentalität bis in die Gegenwart hinein prägend ist, die kirchliches Leben und gemeindliche Existenz gleichsetzt, mag unbeschadet der detaillierteren Aussagen im Laufe dieser Studie eine Ausführung auf der Bistumsseite kirchensite der Diözese Münster illustrieren: „Die Kirche lebt in den Gemeinden. Dort ist der zentrale Raum für das christliche und gemeindliche Leben der Gläubigen.“ [http://kirchensite.de/bistumshandbuch/—p/pfarreien-bistum-muenster; Zugriff 30.07. 2009]

7 Bieger, E. / Fischer, W. / Mügge, J. / Nass, E., Pastoral im Sinus Land, Berlin 22008, 156.

8 Der Münchner Soziologe Armin Nassehi rät aus seiner fachlichen Perspektive genau dies den beiden deutschen Großkirchen, wenn er auf die Frage nach kirchlichen Verlustängsten und Szenarien einer Minderheitenkirche bestechend reell antwortet: „Wie alle Großorganisationen müssen sich die Kirchen […] fragen, welches die eigentlichen Motive sind, bei ihnen Mitglied zu werden.“ [„Den Unterschied deutlich machen“. Ein Gespräch mit dem Münchner Soziologen Armin Nassehi, in: HerKorr 63 (2009), 447-451, 451.]

9 Höhn, H.-J., Religiös im Vorübergehen? Urbanität als Herausforderung für die Kirche, in: StZ 115 (1990), 363-373, 371.

10 Bucher, R., Vom bösen Zauber falscher Vorstellungen. Zur pastoraltheologischen Problematik der soziologischen Kategorie „Ehrenamt“, in: Diak 40 (2009), 269-275. 274.

11 Dieses letztzitierte Diktum, welches vielfach als Ausdruck postmoderner Beliebigkeit bzw. eines gleichnamigen Relativismus herangezogen wird, bezieht sich auf den österreichischen Philosophen Paul Feyerabend. Er führt es in seiner provokanten Streitschrift „Wider den Methodenzwang“ als Rede gegen den Rationalismus Karl Poppers ein. Insgesamt geht es Feyerabend dabei um die Befreiung der Wissenschaft und ihrer Theorie aus dem rationalistischen Korsett, in die es seiner Ansicht nach der poppersche Rationalismus eingefügt hatte. Feyerabend setzt gegen die eine, verabsolutierte wissenschaftliche Methode deren ausdrückliche Vielfalt. Von diesem Ansatz her sei der einzige wissenschaftliche Grundsatz, welcher den Fortschritt menschlicher Erkenntnis nicht behindert, das „anything goes“. [Vgl. Feyerabend, P., Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main 102007, 21.]

Wolfgang Welsch, der die Postmoderne-Diskussion in Deutschland maßgeblich bestimmt hat, sieht in der Gleichsetzung von Postmoderne und Beliebigkeit ebenfalls eine unzulässige Verkürzung. Er setzt dagegen die Pluralität als Signatur der Postmoderne: „Pluralität ist der Schlüsselbegriff der Postmoderne. Sämtliche als postmodern bekannt gewordene Topoi – Ende der Metaerzählungen, Dispersion des Subjekts, Dezentrierung des Sinns, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Unsynthesierbarkeit der vielfältigen Lebensformen und Rationalitätsmuster – werden im Licht der Pluralität verständlich.“ [Welsch, W., Unsere postmoderne Moderne, Berlin 62002, XVII.]

Die in vielen Feuilletons vorgenommene Gleichsetzung von Postmoderne mit Beliebigkeit ist für Welsch einer der entscheidenden Gründe, weshalb die Bezeichnung „postmodern“ von fast allen Philosophen vermieden wurde. Postmoderne, d. h. radikal-heterogene Pluralität lebt dagegen von der Wertschätzung der Differenz. Um diese Pluralität erfahrbar zu machen, braucht es Kriterien, anhand derer Unterschiede festgemacht und bewertet werden können. Der fundamentale Unterschied zwischen Pluralität und Uniformierung liegt jedoch darin, dass uniformes Denken Abweichungen per definitionem verurteilt, indem es andere Modelle nach dem bewertet, worin sie sich von dem Eigenen, universal Gültigen abheben. Plurales Denken hingegen muss andere Modelle ebenso bewerten, braucht sie jedoch nicht zwingend von vorneherein als ausschließlich defizitär zu definieren. Es kann ihnen in einem transversal geführten theologischen Diskurs sogar fremdprophetische Anteile abgewinnen – wie sich im Weiteren zeigen wird. [Vgl. zu dieser Postmoderne-Option den fundierten Aufsatz von: Becker, P. / Diewald, U., Relativismus, Postmoderne und Wahrheitsanspruch, in: StZ 134 (2009), 673-684.]