Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion

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Seriyadan: Orbis Romanicus #15
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2.1 Die Macht der öffentlichen Rede

Bezogen auf eben beschriebene räumliche Aufteilung in öffentlichen und privaten Bereich liegt ein wichtiger Machtaspekt in der (Un)Möglichkeit sich zu äußern und öffentlich Gehör zu finden. So analysiert die britische Historikerin Mary Beard unter dem Titel Women and Power (2018), wie sich die räumliche Dichotomie von öffentlichem und privatem Bereich auf das Sprechverhalten von Männern und Frauen auswirkt. Beard weist nach, dass Frauen einem seit der Antike immer wieder reproduzierten öffentlichen, d.h. außerhäuslichen Sprechverbot unterliegen, und wie dadurch ein Machtgefälle zwischen Männern und Frauen entsteht. Diese öffentliche Sprach- und damit Machtlosigkeit von Frauen beruhe, so Beard, auf der Tatsache, dass öffentliche Rede und öffentlich Gehör finden Macht bedeuteten – und diese im Umkehrschluss durch Sprechverbote beschnitten werden könne. Als historisches Beispiel für ihre Untersuchungen wählt Beard eine emblematische Episode aus der Homer’schen Odyssee (und liefert damit nebenbei auch ein eindrucksvolles Beispiel feministischen Gegen-den-Strich-Lesens). Sie schildert eine Szene zwischen Penelope, der Frau des Odysseus, und ihrem Sohn Telemachos, in der Penelope einen Barden, der vor ihr und einer Schar Freier traurige Lieder singt, bittet, etwas Fröhlicheres anzustimmen. Ihr Sohn verbietet ihr daraufhin den Mund:

‘Mother’, he says, ‘go back up into your quarters, and take up your own work, the loom and the distaff … speech will be the business of men, all men, and of me most of all; for mine is the power in this household.’94

Penelope fügt sich dem Verbot ihres Sohnes und zieht sich zurück. Diese kurze Episode zeigt nicht nur, welche Macht sich Männer seit der Antike Frauen gegenüber herausnehmen, wenn sie ihnen Sprechverbot erteilen, sondern auch die räumlichen Parameter, die starke Dichotomie zwischen öffentlichem und privatem Raum, die mit diesem Verbot verbunden und deren vielfältige sozioökonomische Auswirkungen bis heute sichtbar sind. So verweist Telemachos seine Mutter ins Innere des Hauses (zur Erledigung ihrer eigenen Geschäfte vulgo Hausarbeiten), reklamiert also den öffentlichen Raum für sich und die anderen Männer. Eine Stimme zu haben (im wörtlichen, nicht nur im übertragenen, politischen Sinn) und damit öffentlich Gehör zu finden, bedeutet damit Macht. Keine Stimme zu haben bzw. öffentlich kein Gehör zu finden, bedeutet hingegen Machtlosigkeit. Diese Macht respektive Machtlosigkeit sei, so Beard, klar geschlechterspezifisch organisiert, d.h. Frauen erhielten nicht nur klare Sprechverbote, sondern es galt schlichtweg als ‚unweiblich‘ öffentlich die Stimme zu erheben:95

[P]ublic speaking and oratory were not merely things that ancient women didn’t do: they were exclusive practices and skills that defined masculinity as a gender. As we saw with Telemachus, to become a man (or at least an elite man) was to claim the right to speak. Public speech was a – if not the – defining attribute of maleness.96

Das öffentliche Ergreifen des Wortes wurde somit zu einem kulturell konstruierten ‚männlichen Geschlechtsmerkmal‘ einer männlichen Elite.

2.2 Diskurs, Heterotopie, Macht, Biopolitik und Gouvernementalität

Während Beards Untersuchungen gezielt auf sprachliche Äußerungen als Ausweis von geschlechterspezifisch organisierter Macht bzw. Ohnmacht ausgerichtet sind und damit nur einen Teilaspekt der Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen fokussieren, ist Foucaults Denken einem lebenslangen Interesse an der Beschreibung und Analyse von Wissensstrukturen in ihrer Historizität sowie den daraus resultierenden gesellschaftlichen Macht-Effekten verbunden. Sprich: Foucault fasst sprachliche Äußerungen als einen von vielen Aspekten, die gesellschaftliche Machtbeziehungen abbilden und strukturieren – allerdings ohne expliziten gendertheoretischen Ansatz. Dass Foucaults relationaler Machtbegriff und in dessen Fortführung seine Konzepte von Biomacht, Biopolitik und Gouvernementalität für diese Arbeit dennoch grundlegend sind, soll mit Rückgriff auf einen feministischen Anschluss an seine Schriften in Kapitel 2.3 nachgezeichnet werden. Es wird zu zeigen sein, dass die Unterteilung in öffentlichen und privaten Raum sowie damit verbundene genderspezifische Machtzuschreibungen auch für Foucaults Überlegungen zur historischen Genese des Gouvernementalitätsbegriffs entscheidend sind, insofern dieser auf dem Konzept der Biopolitik oder Biomacht beruht und damit wiederum eng mit dem Aspekt der Reproduktion verknüpft ist.

Bevor der Zusammenhang zwischen Biomacht, Biopolitik und Gouvernementalität näher erläutert wird, werden jedoch zunächst die von Foucault geprägten Termini Diskurs, Heterotopie und Macht konzeptionell entfaltet. Dadurch sollen die Zusammenhänge zwischen Raum und Macht in seinen Schriften sowie die Genese seines Gouvernementalitätsbegriffs deutlich werden.

Diskurs

Die Vorüberlegungen, die zu Foucaults Diskursbegriff geführt haben, gehen zurück auf die zeitgleiche Publikation zweier sehr unterschiedlicher Monographien. Dies war einerseits die literaturwissenschaftliche Analyse des Gesamtwerks von Raymond Roussel (1963) und andererseits die Geburt der Klinik (1963). Was diese beiden, in Methodik und Wissenschaftsdisziplin so verschiedenen Publikationen eint, ist der Gedanke, eine Sache von ihrem Ende her zu betrachten, sprich: den Tod nicht als Ende, sondern als Schlüssel zum Verständnis zu begreifen. In der Geburt der Klinik (1963) ist das der Blick des Mediziners Xavier Bichat auf den Leichnam.97 Die Krankheit, und gleichsam auch das Leben, werden demnach erst im Stillstand des Todes sichtbar. Das Auge des Pathologen lasse sich dabei nicht von sprachlichen Vorgaben (d.h. von Dingen, die er bereits wissen muss, wenn er sie benennt)98, sondern vielmehr von einem Blick leiten, der die räumlichen Anordnungen der (gesunden wie kranken) Gewebe in einem Körper aufnimmt. Durch die Reihung und Vergleiche dieser Anordnungen und Muster gelange der Arzt zu einem Verstehen der Krankheit. Auch in der literaturwissenschaftlichen Studie gelinge das Begreifen der Texte erst durch ein posthum veröffentlichtes Supplement. Erst die Negation der Autorfigur und damit ein Stillstand, ein Abgeschlossen-Sein des Textes, öffneten dem/r Wissenschaftler*in den Zugang zum Werk. Sarasin expliziert das Verhältnis dieser beiden „Todes-Figuren“ in Foucaults Arbeiten folgendermaßen:

Das heißt nicht, dass dieser Tod bei Bichat und der Tod bei Roussel ein und dasselbe wären – aber es bedeutet, dass Foucault diese Figuren des Todes in seinen beiden am selben Tag erschienenen Büchern verdoppelt und analog setzt. Der Tod, das ist bei Roussel und bei Bichat ‚der einzige Schlüssel‘ […].99

Entscheidend für die Diskursanalyse ist also die Tatsache, dass eine Sache, die untersucht und verstanden werden soll, zum Zeitpunkt der Untersuchung dem zeitlichen Verlauf bereits entzogen wurde. „Die Diskursanalyse verlangt,“ so Sarasin, „[…] dass das Objekt der Analyse tot sei: Dass die Texte, die der Diskursanalytiker vor sich hat, nicht mehr vom Sinn der Tradition beseelt werden, sondern als kalte Formen vor ihm liegen und geöffnet werden können. Dann erst […] offenbaren sich die Bedingungen des Ereignisses […] der Aussage, zeigt sich das Individuelle, das, was […] historisch einzigartig ist.“100 Den „begrenzten Kommunikationsraum“101, von dem Foucault in diesem Zusammenhang spricht, bildet in vorliegender Arbeit Santa María. Allerdings bleibt darauf hinzuweisen, dass Foucault seine Diskursanalyse zur Erforschung wissenschaftshistorischer Phänomene begründete und damit ein empirisch vermessbares Feld bearbeitete. Die Literatur durch ihre per se vermittelte Gestalt, gelte daher als Sonderform.102 Sie bilde sozusagen selbst einen Diskurs ab – und die Metafiktion Santa María demnach einen weiteren, eigenen Diskurs. Denn (zumindest moderne) Literatur impliziere immer die Frage nach ihrem Ursprung, nach einer Autorschaft. So arbeitet Foucault in einem Vortrag aus dem Jahre 1969 heraus, dass die Figur des Autors ein Spezifikum der Moderne und damit historisch veränderlich sei.103 Diese Vermittlungsebene, die Literatur überhaupt erst hervorbringe, sei dabei selbst schon in ein Netz unterschiedlicher Diskurse eingebettet, die sie einerseits generiere und die sich andererseits selbst bedingten:

Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz. […] Das Buch gibt sich vergeblich als ein Gegenstand, den man in der Hand hat; vergeblich schrumpft es in das kleine Parallelepiped, das es einschließt: seine Einheit ist variabel und relativ. Sobald man sie hinterfragt, verliert sie ihre Evidenz; sie zeigt sich nicht selbst an, sie wird erst ausgehend von einem komplexen Feld des Diskurses konstruiert.104

Foucault spielt in obigem Zitat auf die Komplexität und grundsätzliche Unabgeschlossenheit narratologischer Deutungsansätze an. Komplizierter noch werde die oben genannte Eingrenzung, so Foucault, wenn man sich auf das Werk eines Autors zu beziehen versuche. Denn die scheinbar einfache denotative Verbindung, die der Name des Autors zwischen Text und Person generiert, bedürfe zunächst einer interpretativen Praxis, wie er weiter ausführt. So gelte es genau zu definieren, welche Teile des „ganzen Gewimmel[s] sprachlicher Spuren […], die ein Individuum bei seinem Tod hinterläßt“105 nun tatsächlich als Werk zu bezeichnen seien. Foucault gibt keine abschließende Antwort auf diese dringliche Frage, was denn nun ein Werk sei. Die oben zitierte Passage verdeutlicht jedoch noch einmal, wie entscheidend die zeitliche und räumliche Eingrenzung des zu untersuchenden Diskursfeldes ist. Gleichzeitig illustriert sie die Problematik der Subjektzentralität, welche die moderne Literatur durch die Figur des Autors aufweise. Laut Sarasin sei „der Diskurs eine Praxis, in der Subjekte zugleich ihre Welt gestalten, wie sie dabei von den Regeln des Diskurses geleitet, beschränkt und dezentriert werden.“106 Foucaults Diskursanalyse sei eine deskriptive Methode, um bestimmte Aussagen an die Oberfläche zu bringen und aus ihrer Reihung eine spezifische Logik abzuleiten.107

 

Diskurse bilden demnach eine spezifische Wissensordnung ab. Dieses „immense[…] Gebiet“ konstituiere sich laut Foucault „durch die Gesamtheit aller effektiven Aussagen (énonces) (ob sie gesprochen oder geschrieben worden sind, spielt dabei keine Rolle) in ihrer Dispersion von Ereignissen und in der Eindringlichkeit, die jedem eignet […]“108. Diskurse bilden eine Ansammlung von Äußerungen, Verboten und Geboten und sind stets auf ein bestimmtes Wissensfeld bezogen, etwa die Medizin, die Ästhetik, die Gesellschaftspolitik etc. Foucaults Diskurs-Begriff ist also nicht auf die Sprache begrenzt, sondern weist darüber hinaus, d.h. er generiert sich ebenso aus dem Nicht-Gesagten, aus Handlungen und Verboten, die innerhalb einer bestimmten Gruppe oder innerhalb eines bestimmten Feldes praktiziert werden. Einzelne Diskurse können sich palimpsestartig überlagern, bestärken oder unterlaufen.109 Das heißt auch, dass ein bestimmter Diskurs als hegemonial betrachtet werden kann, er also eine bestimmte Dominanz über andere Diskurse ausübt. Diskurse bilden damit auch ein bestimmtes Machtgefüge ab, das sich wiederum auch räumlich verorten lässt. Foucault verwendet dafür den Begriff der Heterotopie.

Heterotopie

Die Heterotopie bezeichnet nach Foucault eine Raumfigur, welche die Strukturen von gesellschaftlichen Normen und insbesondere deren Grenzziehungen sichtbar mache, und wenn Sarasin in seiner Foucault-Einführung auf die „Parallelität von Diskursstrukturen und Raumstrukturen“ hinweist, dementsprechend die Heterotopie „ebenso die Ordnung bzw. eben Un-Ordnung eines Wissens bezeichnet wie auch eine räumliche Struktur, eine architektonische, eine topologische Anordnung“110, spielt er damit auf die doppelte Verwendung des Heterotopie-Begriffs bei Foucault an. Dieser sei einerseits aus der Literatur abgeleitet, wie Foucault mit Rückgriff auf Jorge Luis Borges‘ „Chinesische Enzyklopädie“ in der Einleitung zu Die Ordnung der Dinge (2016 [1966 franz.]) schreibt, und andererseits aus einem fundamental räumlich-soziologischen Denken, wie in seinem Aufsatz Von anderen Räumen (2006 [1984 franz.]) deutlich wird. Ausgangsfrage für die Konzeption des Heterotopie-Begriffs sei die Frage nach der „zugrunde liegenden Ordnungsstruktur, d.h. d[er] Art und Weise, wie mögliche Elemente von Wissen klassifiziert, gruppiert, aufgereiht und miteinander in Beziehung gesetzt werden.“111 Am Beispiel der „Chinesischen Enzyklopädie“ von Borges weist Foucault einer Ordnung, die außerhalb unseres Wissens bzw. unserer Erfahrung liegt, einen Ort zu. Er schreibt:

Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich, weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im voraus die ‚Syntax‘ zerstören und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) ‚zusammenhalten‘ läßt.112

Dieser Grundgedanke der Nebeneinander-Reihung, der in obigem Zitat verbalisiert wird, ist für die vorliegende Arbeit von immenser Bedeutung. Denn Onettis Texte verweisen, wenn auch nicht in gleichem Maße offensichtlich wie Borges‘ fiktive Enzyklopädie, so doch kontinuierlich auf eine spezifische (in diesem Fall patriarchale) Ordnungsstruktur, die in Kapitel 4 noch ausführlich erläutert und deren narrative Syntax nur im Kontext des Onetti’schen Gesamtwerks begreiflich wird. Innerhalb dieser Struktur wirken weibliche Widerständigkeiten als syntaktische ‚Störerinnen‘.

Einige Jahre später transferiert Foucault seinen Heterotopie-Begriff in einen urbanistischen Kontext und weist diesen ‚Störerinnen‘ bzw. Störungen eigene Orte zu: In seinem programmatischen Aufsatz „Von anderen Räumen“113 definiert er Heterotopien als

reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte […] zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.114

Das heißt, Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm lassen sich im realen Raum verorten. Dies geschieht durch, je nach kulturellem Kontext verschiedene Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung. Im fünften Kapitel dieser Arbeit wird daher nicht nur zu untersuchen sein, in welcher Form sich weibliche Figuren bei Onetti dem patriarchalen System widersetzen, sondern auch, an welchen Orten diese Handlungen lokalisiert – und in diesem Sinne dort (und nur dort!) auch gesellschaftlich geduldet – sind. Die Heterotopie beschreibt damit eine Raumfigur, die eine gesellschaftliche Abweichung vom Inneren des Diskurses durch Abgrenzung in ein ‚Außen‘ verlagert.

Je nachdem, unter welchen kulturellen Prämissen diese Grenzziehung vollzogen wird, unterscheidet Foucault Krisen- und Abweichungsheterotopien. Erstere seien vor allem in Kulturen zu finden, die Raum dichotomisch organisieren, etwa über die Zuschreibungen ‚heilig‘ und ‚profan‘ oder ‚privilegiert‘ und ‚verboten‘ – oder, wie sich hinzufügen ließe, ‚privat‘ und ‚öffentlich‘.115 In modernen Gesellschaften, so Foucault weiter, seien diese Formen der Raumaufteilung und damit die Krisenheterotopien jedoch „im Verschwinden begriffen“.116 Abgelöst würden sie von Abweichungsheterotopien. Diese bezeichneten „Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht“117.

Insgesamt führt Foucaults sechs Punkte an, um die Merkmale und Modalitäten, die eine Heterotopie konstituieren, zu beschreiben.118 Zunächst bezeichnet er das Hervorbringen von Heterotopien als „eine Konstante aller menschlichen Gruppen“.119 Deren potentielle Veränderlichkeit bezüglich ihrer Funktions- und Bedeutungsweise im Laufe der Zeit bilde den zweiten Grundsatz.120 Für die vorliegende Arbeit bedeutet das, zu zeigen, welche Orte in Onettis Texten überhaupt als ‚Gegenorte‘ wirksam werden. Der dritte Grundsatz handelt von der räumlichen Vereinbarkeit eigentlich nicht vereinbarer Orte an einem einzigen Ort.121 Ein viertes Charakteristikum stellt die zeitliche Komponente in Form einer Heterochronie dar. Jede Heterotopie funktioniere demnach über „einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit“122. Foucault unterscheidet dabei zwischen „ewigkeitsorientierten“ Heterotopien, wie etwa dem Friedhof oder der Bibliothek einerseits, und „zeitweiligen“, d.h. temporär begrenzten bzw. repetitiven Heterotopien, wie etwa dem Jahrmarkt oder dem Theater andererseits.123 In Kapitel 5.3 dieser Arbeit wird es jedoch weniger um die damit beschriebene ‚Akkumulation‘ von Zeit gehen, sondern vielmehr um die Frage, über welche Zeitspanne genderspezifische Heterotopien bei Onetti wirksam sind bzw. ob sich überhaupt ein entsprechender ‚Wirkungszeitraum‘ definieren lässt. Der fünfte Grundsatz handelt von den praktischen Zugangsmodalitäten einer Heterotopie. Er setzt „ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie [die Heterotopie, eig. Anmk.] isoliert und zugleich den Zugang […] ermöglicht“124. Mit anderen Worten: Eine Heterotopie ist kein willkürlich wählbarer Ort, sondern bestimmten gesellschaftlichen Mechanismen und Gesetzen der Abgrenzung unterworfen, die den Zugang reglementieren – die Modalitäten dieser ‚Einlassbeschränkungen‘ sind wiederum abhängig von der jeweiligen Bedeutungszuschreibung und dem gesellschaftlichen Kontext, in dem eine Heterotopie zum Tragen kommt. Der sechste und letzte Grundsatz beschreibt das Verhältnis zur gesellschaftlichen Ordnung – und rekurriert damit auch stärker als alle anderen Charakteristika auf hegemoniale Machtverhältnisse. So gibt es einerseits die Heterotopien, wie etwa die Bordelle, die „einen illusionären Raum schaffen, der den realen Raum […] als noch größere Illusion entlarvt“125, d.h. einen Illusionsraum, der die Ordnung des realen Raums unterläuft. Das Gegenstück dazu bildet die „kompensatorische Heterotopie“, wie sie etwa in den Kolonien des 17. Jahrhunderts verwirklicht wurde und die sich durch „vollkommene Ordnung“ im Gegensatz „zur wirren Unordnung“ des realen Raumes ausweist.126 Über die Analyse weiblicher Widerständigkeiten in Kapitel 5 dieser Arbeit wird daher auch zu diskutieren sein, in welchem Verhältnis der fiktive Raum der Großstadt (Buenos Aires und Montevideo) und der metafiktive Raum Santa María zueinander stehen.

Macht

Wie bereits in den Ausführungen über die Heterotopien angeklungen, ist jede gesellschaftliche Ordnung von spezifischen Machtstrukturen geprägt.127 So konstituiert sich nach Foucault ein Machtgefüge allein darüber, dass es Dinge gibt, die offen zirkulieren, und andere, die nicht offen zirkulieren, sondern vermittels der Diskursanalyse erst als Negation an die Oberfläche befördert werden müssen. Die Verknüpfung des Foucault’schen Diskursbegriffs mit seinem relationalen Machtbegriff verläuft jedoch nicht geradlinig, sondern geht mit einem radikalen Umbruch in seinem Denken einher, sprich: Foucault wird vom Archäologen zum Genealogen. Diese Ruptur lokalisiert Sarasin in einem Aufsatz, den Foucault 1971 über Friedrich Nietzsches programmatische Frage ‚Wer spricht?‘ verfasst hatte.128 Auch wenn Foucault einen normativen Subjektbegriff nach wie vor ablehnt und das Subjekt weiterhin als historisch Geformtes begreift, kommt er nicht umhin, die Machtfrage auf das Subjekt bezogen neu zu stellen.129 Er spricht dabei von einer Bühne, auf der dasselbe Stück immer wieder gespielt werde, „jenes Stück nämlich, das Herrscher und Beherrschte unablässig aufführen“130. „Die Regel“ dafür sei, „die kalkulierte Lust am Gemetzel und die Hoffnung auf Blut“.131 Letztendlich läuft diese Machtfrage auf ein Durchsetzen des Stärkeren hinaus:

Das große Spiel der Geschichte dreht sich um die Frage, wer sich der Regeln bemächtigt; wer an die Stelle derer tritt, die sie für sich nutzen; wer sie am Ende pervertiert, in ihr Gegenteil verkehrt und gegen jene wendet, die sich einst durchsetzten […].132

Macht stellt bei Foucault demnach ein historisch veränderbares, relationales Konstrukt dar, das nur innerhalb eines bestimmten Diskurses betrachtet werden kann. Macht-Raum-Relationen bildeten gesellschaftliche Hierarchien ab und vice versa. Foucaults Machtbegriff ist damit relational und deskriptiv.133 Anstatt nach Legitimierung, Ursprung oder Grenzen der Macht zu forschen, untersucht Foucault spezifische „Machttechniken“134. Er fragt also nach dem WIE der Macht. Der Foucault’sche Machtbegriff eignet sich damit sehr gut für die Untersuchung genderspezifischer Machtstrukturen, wie diese Arbeit in den Kapiteln 4 und 5 zeigen wird, insofern durch den relationalen Charakter von Macht nicht nur eindimensionale Strukturen, sondern auch machtbesetzte Wechselwirkungen innerhalb der Geschlechterverhältnisse bei Onetti herausgearbeitet werden. Ein weiterer Aspekt des Foucault’schen Machtverständnisses, der sich aus der Relationalität ergibt und eben dieses für die nachstehende Textanalyse so fruchtbar macht, ist die Frage nach der Verortung von Macht. So argumentiert Foucault aus einer historischen Perspektive, dass sich Macht im Laufe der Neuzeit von einem ausübenden Subjekt gelöst und zu einem komplexen gesellschaftlichen Konstrukt verändert hat. Demnach wird eine bis ins 17./18. Jahrhundert gültige subjektabhängige Machtposition von einer relationalen abgelöst:

Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur […] Folglich hat es wenig Bedeutung, wer die Macht ausübt.135

Die alles erfassende Beobachterposition könne folglich von jeder beliebigen Person eingenommen werden und ist nicht mehr an einen bestimmten Herrschaftskörper, wie etwa den des Königs gebunden.136 Analog dazu lässt sich bei Onetti eine „Erzählmacht“ herausarbeiten, die insbesondere in den späten Texten nicht mehr zwingend einer Figur zugeordnet werden kann, sondern sich aus dem Textgeflecht selbst ableitet. Im vierten Kapitel wird dieser Gedanke weiter ausgeführt.

 

Nach Foucault wird Macht also nicht mehr von einer bestimmten Person auf ein Objekt ausgeübt, wie etwa die Macht, die ein mittelalterlicher Herrscher durch das System der Leibeigenschaft auf einzelne Untertanen ausübte, sondern besteht aus einem Geflecht zwischen Personen und Institutionen. Grundlegend sei dabei die Freiheit aller Beteiligten sowie der Körper als (neben dem Raum) wichtigster Referenzpunkt der Macht. Da sie den Körper durchdringe, sei Macht ohne Körper grundsätzlich nicht denkbar. Sämtliche Maßnahmen zur Disziplinierung einer Gesellschaft oder Normierung von Subjekten adressierten den Körper. Dies wiederum führt Foucault auf Machttechniken zurück, die ab dem 17./18. Jahrhundert „Produktion und Leistung“ durch den Einsatz des Körpers zum Ziel hatten.137 Diese Machttechniken beruhten, wie er weiter ausführt, auf einer Ansammlung von Wissen über den Körper. Eine entscheidende Verbindungsachse in der Foucault’schen Terminologie verläuft folglich zwischen den beiden Polen Macht und Wissen und verweist damit auch auf die von ihm stets als positiv herausgestellte Produktivität von Macht.138 Das produktive Wechselspiel von Wissen und Macht fasst er folgendermaßen:

Seit Plato weiß man, dass das Wissen nicht völlig unabhängig von der Macht existieren kann. […] Man kann den wissenschaftlichen Fortschritt nicht denken, ohne die Mechanismen der Macht zu denken.139

Damit grenzt er sich deutlich von einem negativen (paramarxistischen) Machtbegriff ab, der allein über Methoden der Unterdrückung, „der Zensur, der Ausschließung, der Absperrung, der Verdrängung“, gefasst wird:140

Dass die Macht Bestand hat, dass man sie annimmt, wird ganz einfach dadurch bewirkt, dass sie nicht bloß wie eine Macht lastet, die Nein sagt, sondern dass sie in Wirklichkeit die Dinge durchläuft und hervorbringt, Lust verursacht, Wissen formt und einen Diskurs produziert; man muss sie als ein produktives Netz ansehen, das weit stärker durch den ganzen Gesellschaftskörper hindurchgeht als eine negative Instanz, die die Funktion hat zu unterdrücken.141

Er betont damit das hervorbringende, stabilisierende Wirkpotential von Macht. Denn je produktiver, d.h. je stärker gesellschaftlich vernetzt, desto beständiger sei Macht. Über die Betonung der Produktivität von Macht, die wiederum auf einem umfassenden Wissen über den Körper basiere, gelangt Foucault schließlich auch zur Ausarbeitung der Begriffe Biomacht, Biopolitik und Gouvernementalität, vermittels derer zum einen die Geschlechterverhältnisse innerhalb des Analysekorpus diskutiert und zum anderen im Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit der dargestellte Reproduktionsdiskurs in Onettis Texten in einem außerliterarischen gesellschaftspolitischen Kontext verorten werden soll. Nach Foucault materialisierte sich Wissen an spezifischen institutionellen Orten einer Gesellschaft – und konstituiert damit kulturelle Hegemonien:142

Ein Wissen über den Körper hat man erst über ein komplexes Ganzes von militärischen und schulischen Disziplinen ausbilden können. Erst von einer Macht über den Körper aus war ein physiologisches, organisches Wissen möglich.143

Diese enge Beziehung zwischen Wissen über den Körper und Macht über den Körper wird in Onettis Erzählwerk insbesondere auf Frauenkörper bezogen dargestellt. Durch die Figur des Arztes in Verbindung mit der Thematisierung von Schwangerschaftsabbrüchen rückt der weibliche Körper als potentielles Reproduktionsinstrument in den Fokus. Der wissende medizinische Blick auf den weiblichen Körper konkurriert dabei mit einem christlichen Reproduktionsdogma, das die Figur des Pfarrers pars pro toto durch institutionelle Disziplinierung des weiblichen Körpers und weiblicher Sexualität durchzusetzen versucht. Die Wirkweise dieser Maßnahmen und entsprechende weibliche Gegenstrategien werden im fünften Kapitel näher analysiert.