Kitabı oxu: «Inklusive Sprachförderung in der Grundschule», səhifə 2

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1.3 Grenzen der Inklusion im Bildungssystem

Inklusiver Unterricht, der Chancengleichheit für Schüler mit Beeinträchtigungen ermöglichen will, muss sich mit den Fähigkeitseinschränkungen durch die individuellen Beeinträchtigungen der Schüler auseinandersetzen, die zu Behinderungen an der Teilhabe im Unterricht führen können. Diese diagnostische Auseinandersetzung mit den Dimensionen einer Behinderung, also den möglichen körperstrukturellen und -funktionellen Schädigungen, den personenbezogenen Aktivitätsbeschränkungen und Teilhabeeinschränkungen, zeigt die Grenzen des inklusiven Unterrichts im Bildungssystem auf.

ICF

Als Grundlage für die Beschreibung dieser Dimensionen dient die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie soll eine länder- und disziplinübergreifende, einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der sozialen Dimension der Behinderung, der individuellen Beeinträchtigungen und der behindernden Umgebungsfaktoren einer Person gewährleisten. In der Sprachheilpädagogik wurde bereits 2003 von Lüdtke/Bahr die ICF zur Beschreibung der Wechselwirkung von individuellen Funktionseinschränkungen und behinderten Entwicklungsbedingungen herangezogen (Lüdtke/Bahr 2002). Mit diesem Klassifikationssystem wird deutlich, welche pädagogisch relevanten Variablen in der Unterrichtsgestaltung berücksichtigt werden können und welche nicht (→ Abbildung 2).


Abb. 2: Dimensionen einer Sprachbehinderung

ICF und Sprachbehinderung

Das Klassifikationssystem beschreibt fünf unterschiedliche Komponenten, die die Dimensionen einer Behinderung darstellen. So können einer Sprachbehinderung geschädigte Körperstrukturen (Anatomie der Sprechwerkzeuge oder Hirnschädigungen) oder körperliche Dysfunktionen (Sprechmuskulatur) zugrunde liegen. Aufgrund organischer Bedingungen, aber ebenso durch nicht-organische, entwicklungshemmende Faktoren der Umwelt (Vernachlässigung, Lernmodelle) können die individuellen Möglichkeiten zur sprachlichen Aktivität (z. B. Aussprache, Wortschatz, Gesprächsfähigkeit) eingeschränkt sein. Dies kann Beschränkungen in der Teilhabe in einzelnen Lebensbereichen, Alltags- oder Unterrichtssituationen mit sich führen.

Sprachbehinderung und Benachteiligung

Ob diese Benachteiligung in der Teilhabe an einzelnen Kommunikationssituationen zu einer Behinderung des Kindes führt, hängt maßgeblich von den Umweltfaktoren ab, also den Erwartungen und Anforderungen der Kommunikationspartner, aber auch von den gesellschaftlichen Normen vom Sprachgebrauch und der -beherrschung sowie der Einstellung der betroffenen Person zu sich selbst und zu seiner Einschränkung.


Abb. 3: Relationale Qualität einer Sprachbehinderung

relationale Qualität der Sprachbehinderung

Es zeigen sich die relationale Qualität einer Sprachbehinderung (→ Abbildung 3) und die Möglichkeiten der Ansatzpunkte sonderpädagogischer Unterstützungsangebote. Die „Sprachbehinderung“ ist eine Behinderung der gemeinsamen Kommunikation und ergibt sich aus dem individuellen „Können“, dem „Lassen“ der Kommunikationspartner und ihren Erwartungen und Anforderungen („Sollen”) sowie dem „Wollen“ des Schülers mit Sprachbeeinträchtigungen und seinen Erwartungen an sich und seinem Vertrauen in sich selbst. An allen drei Punkten kann sonderpädagogische Unterstützung ansetzen:

•durch Förderung, um zum „Wollen“ zu motivieren,

•durch Beratung, um andere zum „Lassen“ zu motivieren und um das „Sollen“ zu reflektieren und

•durch spezifische Sprachförderung, um zum „Können“ zu verhelfen.

Es hängt von den didaktischen Konzepten der Schulen und den methodisch geschaffenen Freiräumen ab, ob und in welchem Umfang im Unterrichtverlauf einer inklusiven Schule personenbezogene und kontextbezogenen Interventionen möglich sind. Beziehen sich sonderpädagogische Bildungsangebote jedoch ausschließlich auf die Adaption der Lernangebote und Entwicklungsbedingungen, können Grenzen inklusiven Unterrichts auch für Schüler mit spezifischen Sprachbeeinträchtigungen erreicht werden.

„mittendrin“ reicht nicht aus

Denn inklusiver Unterricht für heterogene Lerngruppen ermöglicht Teilhabe am Unterricht in heterogenen Lerngruppen, mehr nicht. Das „Mittendrin“ kann aber nicht die einzige Maxime eines inklusiven Unterrichts sein. Bei der Frage, wie sich Unterricht hinsichtlich seiner Zieldifferenzierung und Anforderungen an die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler mit Beeinträchtigungen anpassen muss, muss geklärt werden, welche Lernbedingungen überhaupt zu Barrieren und damit zur Behin-derung des Schülers mit individuellen Beeinträchtigungen führen können.

Analyse Kind – Umfeld

Sonderpädagogische Diagnostik hat Umwelt, Kind und Problem gleichermaßen im Auge. Sie soll die relationale Qualität der Sprachbehinderung klären, also wie sich durch nicht erfüllte Erwartungen und Anforderungen der personellen Umwelt an sprachliches Handeln die Behinderungen an der Teilhabe ergeben. Sonderpädagogische Unterstützungsangebote fokussieren auf dieser Grundlage durch Beratung und Unterrichtsdidaktik diese Umweltfaktoren als hemmende Entwicklungsbedingungen und, sofern methodisch und didaktisch möglich und inhaltlich sinnvoll, mit spezifischen Interventionen und Hilfen die eingeschränkten sprachlichen Fähigkeiten des Schülers. Inklusiver Unterricht und die inklusive Schule stoßen hier an ihre Grenzen, wenn der Anspruch erhoben wird, dass eben diese personenbezogenen Interventionstechniken langfristige sprachrehabilitative Funktion haben sollen. Unterricht, der barrierefreie Bildungsangebote für alle Schüler bereithalten soll, muss im Bedarfsfall exklusive Individualangebote reservieren, wenn adaptiver Unterricht dem individuellen Bedarf eines Schülers mit Sprachbeeinträchtigungen nicht mehr gerecht wird und integrierte oder ggf. additive sprachtherapeutische Hilfen notwendig werden. Es ist fragwürdig, wenn beispielsweise massive grammatische und Aussprachestörungen, die zur Behinderung der Unterrichtskommunikation führen und keine Verständigung ermöglichen, „als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2009) wahrgenommen werden sollen.

Bagatellisierung

Oftmals werden Sprachauffälligkeiten bagatellisiert („Das wächst sich raus!“). Menschen mit nicht deutlich wahrnehmbaren Beeinträchtigungen wird eine „projektive Empathie“ (Benecken 2004, 624) entgegengebracht und der Auffälligkeit wird eine einfache Selbst- und Fremdbewältigung unterstellt, die keiner professionellen Unterstützung bedarf (Bleidick/Hagemeister 1998; Vernooij 2000). Nicht zuletzt können Schüler mit Verhaltens- und Sprachauffälligkeiten Spott oder Abneigung erzeugen, wie z. B. Untersuchungen von Huber (2009) zeigen.

soziale Integration

Es ist naheliegend, welche Anforderung an Lehrkräfte einer inklusiven Schule hinsichtlich Klassenklima, Akzeptanz und Wertschätzung gestellt werden, wenn z. B. sprachauffällige Drittklässler auf Äußerungen eines stotternden Mitschülers wie z. B. „Po-po-polizei“, „Pi-pi-pistole“ oder „A-a-aber“ reagieren (Benecken/Spindler 2004). Eine Untersuchung zur psychosozialen Situation stotternder Schulkinder in Allgemeinschulen von Benecken/Spindler (2004) zeigt diese Schwierigkeiten der sozialen Integration in Schulklassen auf. Zwar ist die Häufigkeit stotternder Schulkinder mit ca. 4 % relativ gering, dennoch sind die Befunde zu berücksichtigen. Mit einer Fragebogenerhebung zu subjektiv als Mobbing empfundenen schulischen Erlebnissen (n=100, Kontrollgruppe n=100) kamen die Autoren zu dem Ergebnis, dass nach Angaben der Befragten 75 % in ihrer Schulzeit gemobbt worden sind. Am häufigsten wurde diese Erfahrung im Alter zwischen 11 bis 13 Jahren gemacht. Etwas mehr als 10 % gaben an, auch im Grundschulalter solche negativen Erfahrungen gemacht zu haben. In einer Untersuchung kommen Gerbig et al. (2018) zu dem Ergebnis, dass sich 39 % der Kinder im Alter zwischen vier und zwölf Jahren (n=12) mit Sprachentwicklungsstörung in der Selbstwahrnehmung als Opfer von Mobbing-Prozessen erleben. Pädagogische Fachkräfte beschreiben aus ihrer Perspektive, dass sie 51 % dieser Kinder Mobbing-Prozessen ausgesetzt sehen. Diese Ergebnisse korrespondieren mit einer Untersuchung zu Schülern mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich des Lernens, die in allgemeinen Schulen unterrichtet werden und in erheblichem Umfang soziale Ausgrenzung erfahren (Huber 2009).

Akzeptanz und Toleranz durch Beratung

Diese Beispiele und Befunde zeigen auf, welche übergeordneten und langfristigen Ziele in der Beratung und Kooperation mit Regelschullehrkräften, die inklusiven Unterricht gestalten, durch Sonderpädagogen erreicht werden müssen, um sprachliche und kommunikative Barrieren und behindernde Bedingungen im Unterricht zu vermeiden.

Die Veränderung der Erwartungshaltung der Lehrkräfte und die Schaffung von Akzeptanz und Wertschätzung sprachlicher und sprecherischer Vielfalt in der Lerngruppe sind Ziele der Beratung in der Kooperation von Regelschullehrkräften und Sonderpädagogen. Sie können Lernbedingungen für sprachbeeinträchtigte Schüler darstellen, unter denen eine sprachtherapeutische Intervention in der Schule nachrangig wird.

Toleranz ändert nicht die Beeinträchtigung

Ein geeignetes Klassenklima kann ein Kind mit kaum verständlicher Lautsprache zur Äußerung ermutigen, ändert aber nichts an der konkreten Einschränkung seiner sprachlichen Handlungsfähigkeit. Ist die sprachliche Handlungsfähigkeit in einem Ausmaß beeinträchtigt, dass die Teilhabe an einzelnen Unterrichts- und Kommunikationssituationen nicht mehr möglich ist, sind exklusive (nicht exkludierende) individualisierte Maßnahmen der Unterstützung notwendig. Dann gerät der inklusive Unterricht personell, konzeptionell und didaktisch an seine Grenzen.

2 Sprache als Medium des schulischen Lernens und sozialen Handelns

Sprache ist nicht Kommunikation

In Kapitel 1.1 wurde erläutert, dass die Sprache das symbolische und formal-strukturelle Mittel ist für die absichtsvolle, partner-orientierte Interaktion. Sprache ist damit auch das Medium individueller Lernprozesse, die in der Unterrichtskommunikation initiiert, gelenkt und reflektiert werden. Sprache und Kommunikation sind aber zwei unterschiedliche Aspekte ein und desselben Phänomens. Die mangelnde Unterscheidung in der schulischen Praxis führt daher oftmals zu ungenauen oder falschen Einschätzungen der verbalen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler mit spezifischen Entwicklungsstörungen.


Wenn Kinder erfolgreich kommunizieren, also Wünsche und Gedanken ausdrücken und gemeinsames Handeln planen und beschreiben können, ist diese Leistung noch nicht gleichbedeutend mit formal-sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten (Kany/Schöler 2010, 14).

Einige Schüler haben Schwierigkeiten bei der Produktion und Unterscheidung einzelner Laute, mit der regelgerechten Wortstellung oder -form im Satz, mit dem Redetempo oder der Stimme (→ Kapitel 2.2), und können deshalb spezifische Hilfen im Unterricht beanspruchen. Angepasste Lernangebote müssen die Schüler, ggf. mit individueller Unterstützung, herausfordern und neue, sprachliche Lernprozesse in Gang setzen.

Kompensationsund Vermeidungsstrategien

Oftmals haben diese Schüler gelernt, ihre sprachspezifischen Probleme durch nonverbale Ausdruckweisen und Strategien zu kompensieren oder sprachliche Anforderungssituationen zu vermeiden. Die notwendige Unterscheidung zwischen den sprachspezifischen Leistungen und den nonverbalen, kommunikativen Fertigkeiten, die trotzdem erfolgreich umgesetzt werden können, wird „häufig nicht ausreichend gewürdigt, das erfolgreich kommunizierende Kind wird als sprachunauffällig […] betrachtet“ (Kany/Schöler 2010, 15). Ein grundlegendes Wissen über den Aufbau der Sprachstrukturen (→ Kapitel 1.1), die Bedingungen des Erwerbs (→ Kapitel 2.1) und die Phänomene möglicher Sprachstörungen (→ Kapitel 2.4) ist daher bei allen beteiligten pädagogischen Fachkräften notwendig oder sollte in kollegialen Beratungssituation durch den Sonderpädagogen mit dem Förderschwerpunkt Sprache vorbereitet werden.

2.1 Bedingungen des Erstspracherwerbs

Für die Entwicklung der Fähigkeiten und den Erwerb der Fertigkeiten zum sprachlichen Handeln sind organische (Hörfähigkeit und Sprechapparat), neurologische, psychische und soziale Bedingungen gleichermaßen notwendig. Basale, kognitive Entwicklungsschritte bilden einen Teil der Voraussetzungen. Es sind Bewusstsein von der Welt, über die gesprochen wird, Wissen von der Perspektive des Anderen (vgl. Astington 2006), aber auch ein inneres Motiv notwendig, um mit einem und für einen anderen Sprache zu benutzen. Ebenso sind soziale Bedingungen erforderlich, nämlich ein gemeinsamer Gegenstand oder ein Thema sowie ein gemeinsames Medium der Kommunikation, also ein verbindliches und einheitliches Zeichensystem (z. B. Deutsch, Gebärdensprache etc.), das trotz aller Varietäten, Dialekte und Soziolekte benutzt werden kann (→ Abbildung 4; Kapitel 1.1).


Abb. 4: Bedingungen und Voraussetzungen des Sprachlernprozesses

Feld der HNO-Kunde, Phoniatrie und Logopädie

Das Feld der anatomischen und organischen Bedingungen des Spracherwerbs, des Sprachgebrauches und der Lautbildung im Speziellen ist sehr detailliert und wird in den medizinischen Fächern der Hals-Nasen-Ohren-(HNO)-Kunde, Phoniatrie und Logopädie vertieft. In der Praxis sind es oft Logopäden und Sprachtherapeuten, die mithilfe störungsspezifischer Techniken und funktioneller Methoden Muskelfunktionen der Sprechwerkzeuge anbahnen, z. B. nach der operativen Schließung von Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, oder sprachliche Fähigkeiten und Sprechfertigkeiten wiederherstellen, die nach Gehirnverletzungen auftreten können.

sprachheilpädagogische Beratung in der Grundschule

Organische Bedingungen und Muskelfunktion im Mundbereich (orofaziales System) bestimmen die artikulatorischen Fähigkeiten des Kindes im Spracherwerb. Auffälligkeiten müssen von Logopäden klinisch-diagnostisch abgeklärt werden. Im inklusiven Unterricht sollen pädagogische Sprachexperten diese klinischen Diagnosen für den Unterricht brauchbar machen und Grundschullehrkräfte über diese Aspekte informieren, um sprachliche und kommunikative Anforderungen entsprechend anzupassen.


Das Online-Material 1 liefert einen Überblick über die neurologischen und anatomischen Bedingungen, die für die Entwicklung der Fähigkeiten und den Erwerb der Fertigkeiten zu sprachlichem Handeln notwendig sind.


Pétursson, M., Neppert, J. M.H. (2002): Elementarbuch der Phonetik. 3., durchges. u. bearb. Aufl. Buske, Hamburg

Deckert, P. M. (2007): Anatomie der Sprache, Stimme und Atmung: Ein Arbeitsbuch für Studierende der Logopädie, Sprachheilpädagogik und Stimm- und Atemtherapie. 4., überarb. u. erw. Aufl. Lehmanns Media, Berlin

Hartje, W., Poeck, K. (Hrsg.) (2006): Klinische Neuropsychologie. 6. Aufl. Thieme, Stuttgart

Wendler, J. (2005): Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie. 4., vollst. überarb. Aufl. Thieme, Stuttgart

Unterricht als sprachliche Entwicklungsförderung

Der inklusive Unterricht kann aber auch planvoll und zielgerichtet unmittelbar soziale Bedingungen und kognitive Anforderungen schaffen, die die weitere sprachlich-kommunikative Entwicklung der Schüler fördert und Kinder mit sprachlichen Entwicklungsbeeinträchtigungen direkt und indirekt unterstützt. Dazu sind Kenntnisse über die entwicklungsförderlichen Bedingungen der Lernprozesse der Erst- und Zweitsprache notwendig.

Definition:

Mit dem Begriff der Sprachentwicklung wird die Auffassung verbunden, dass sich die sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten ähnlich wie das Nervensystem auf der Grundlage eines vorbestimmenden genetischen Programms entfalten.

Der Begriff des Spracherwerbs dagegen betont die Rolle der sozialen und sprachlichen Umwelt, in der das Kind durch das dargebotene Sprachangebot Erfahrungen macht und in der aktiven Auseinandersetzung mit sprachlichen und kommunikativen Anforderungen die Fertigkeit erwirbt, die Muttersprache zu sprechen.

Die Bezeichnung Sprachlernprozess verdeutlicht, dass dieser Vorgang anderen zu lernenden Fertigkeiten gleicht. „Das Kind eignet sich die Sprache wie andere, beispielsweise soziokulturelle Fähigkeiten und Fertigkeiten an“ (Kany/ Schöler 2010, 16).

Bei der Klärung der Frage, wie das Kind zur Sprache kommt, werden häufig unterschiedliche Begriffe benutzt, um diesen Vorgang zu umschreiben. Die Begriffe ‚Sprachentwicklung‘‚ ‚Sprachlernprozesse’ oder ‚Spracherwerb’ werden mal gleichgesetzt, mal werden damit unterschiedliche theoretische Ansätze verbunden, die das Verhältnis von biologisch-genetischer Ausstattung und sozialer Umwelt und Erfahrung unterschiedlich gewichten.

Die Positionen, die den sprachlichen Entwicklungsprozess als Entfaltung grundsätzlich angeborener Fähigkeiten und Fertigkeiten auffassen, werden in der Literatur häufig als nativistische Ansätze zusammengefasst. Diese Inside-out-Theorie basiert auf dem Argument der sogenannten Inputarmut (Poverty of the Stimulus-Argument, POSA), das davon ausgeht, dass die sprachlichen Informationen, die einem Kleinkind zugänglich sind, nicht ausreichen, um die relativ schnelle Entwicklung sprachlicher, insbesondere grammatischer Fähigkeiten zu erklären (Chomsky 1999, 33–54).

Spracherwerbsmechanismus

Der wohl bekannteste Vertreter dieser Auffassung ist der Linguist Noam Chomsky (2002), der auf dieser Grundlage das Modell des Language Acquistion Device (LAD) entwickelte, das ein erblich bedingtes Vorwissen sprachlicher Universalien (Universalgrammatik, UG) voraussetzt.


Bei den nativistischen Positionen kommt dem Input die Rolle des Auslösers (Trigger) zu, der die biologisch vorbestimmte Entwicklung grammatischer Fähigkeiten von innen nach außen zur Entfaltung bringt.

Outside-in-Theorie

Dem gegenüber betonen interaktionale und auch einige kognitionsorientierte Ansätze als Outside-in-Theorien die Bedeutung der sozialen Lern- und Entwicklungsbedingungen für den Spracherwerbsprozess sowie die unmittelbare Anbindung an die individuelle kognitive Entwicklung des Kindes.


Aus kognitiver Sicht wird der Sprachlernprozess in enger Wechselwirkung mit der Denkentwicklung betrachtet.

Piaget geht davon aus, dass

„[…] das Denken dem Sprechen vorausgeht und daß dieses sich darauf beschränkt, es tiefgreifend umzugestalten, indem es ihm hilft, seine Gleichgewichtsformen durch bessere Schematisierung und mobilere Abstraktion zu erreichen“ (Piaget 1982, 173).

Interaktion

Während die kognitive Perspektive bei der Herausbildung innerer, geistiger Prozesse als Voraussetzung für das Sprachlernen primär die Erfahrung mit der sozialen und gegenständlichen Umwelt des Kindes betont, spielen bei der interaktionalen Sichtweise – insbesondere nach Bruner (2002) – die nächsten Bezugspersonen des Kindes eine entscheidende Rolle. Indem sie sich sprachlich dem kindlichen Entwicklungsstand anpassen, aber dennoch immer auf einem höheren und damit für das Kind herausfordernden Niveau bewegen, wird das Kind angeregt, sich auf den nächsten Entwicklungsschritt hin zu bewegen. Ausgangspunkte des interaktionistischen Erklärungsmodells des Spracherwerbs sind soziale, kognitive und motivationale Fähigkeiten, die dem Spracherwerb vorauslaufen (Grimm 2000). Sie führen das Kleinkind zu globalen, absichtsvollen und verbalen Äußerungen, auf die die Bezugspersonen reagieren und die dann „im interaktiven Zusammenspiel ausdifferenziert und integriert werden“ (Klann-Delius 2008, 137).


Das elterliche Rückmeldeverhalten wird meist dem sprachlichen Entwicklungsniveau des Kindes angepasst durch eine intuitive Reaktionsbereitschaft der Eltern (Papoušek/Papoušek 1989; Klann-Delius 2008, 142 ff.).

Formate elterlichen Rückmeldeverhaltens

Elterliches Rückmeldeverhalten zeigt sich im Blickverhalten, einer ausgeprägten, responsiven Mimik und einer besonderen Bereitschaft für die vokalen Signale des Säuglings. Die von Bruner (2002) durchgeführten Untersuchungen zur Eltern-Kind-Kommunikation zeigen, dass die Bezugspersonen ein kommunikatives Unterstützungssystem aufbauen (Language Acquisition Support System, LASS), indem bestimmte elterliche Äußerungen in regelmäßigen Interaktionsmustern bzw. „Formaten“ wiederkehren (Bruner 2002; Schank/Abselson 1977; z. B. Kuscheln, Essen, Spielen), die eine bestimmte soziale Regulationsfunktion haben (z. B. Trösten, Erklären, Beschreiben; Papoušek/Papoušek 1989).

Sprache imitieren, erproben und erweitern

Durch diese Regelmäßigkeit und emotionale Bedeutung werden nach und nach einzelne sprachliche Strukturen (Wörter, Wortveränderungen, Satzaufbau) erkannt, imitiert, erprobt und schließlich zielgerichtet und absichtsvoll verwendet und weiterentwickelt. Dabei geben die Eltern bestärkende, erweiterte und korrigierte Rückmeldungen, die an den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes angepasst werden.

‚inszenierter Spracherwerb‘

Das Phänomen des angepassten elterlichen, sprachlich erweiternden oder korrigierenden Rückmeldeverhaltens wird als Ausgangspunkt für spezifische Interventionsstrategien in der Sprachförderung und Sprachtherapie als ‚inszenierter Spracherwerb’ herangezogen.

epigenetischer Ansatz

Diese verschiedenen Ansätze, die den Sprachlernprozess aus unterschiedlichen Perspektiven erklären, stehen sich mittlerweile nicht mehr gegenüber. In sogenannten Emergenzmodellen werden diese theoretischen Bereiche zusammengefasst und dienen jeweils zur Erklärung der Entwicklung und des Erwerbs der verschiedenen Ebenen der Sprachstrukturen und -funktionen.


Die äußeren Bedingungen und inneren Voraussetzungen sind sowohl allgemein entwicklungsbezogen als auch formal-sprachspezifisch für den Sprachlernprozess wirksam.

soziale Routinen

Die allgemein entwicklungsförderlichen sozialen Routinen (Formate) unterstützen die sprachlichen Vorläuferfähigkeiten zum Erkennen der absichtsvollen, sprachlichen Äußerungen an sich und die darin enthaltenen symbolischen Zeichen sowie die Fähigkeit zur eigenen, absichtsvollen Verwendung einzelner Laute und später erster Wörter (Mußmann 2015). Diese Formate spielen in der Schule bei der Begründung bestimmter sprach- und kommunikationsförderlicher Arbeits- und Sozialformen im Unterricht eine wichtige Rolle (vgl. Constable 1986). Die kindlichen Fähigkeiten zum Erkennen von Sprache und verbalen Symbolisierungen in diesen sozialen Routinen sind gattungsspezifisch und angeboren.


Die angeborene Sprachfähigkeit ist die Grundlage für die Entwicklung der soziokulturellen Fertigkeiten des sprachlichen Handelns, aber auch der Schriftsprache und mathematischer und anderer kognitiv-intellektueller Kompetenzen (Tomasello 2008).

Der Ausgangspunkt der sprachlichen Lernprozesse ist daher nach Tomasello (2008) weder ausschließlich in einer angeborenen Fähigkeit noch in der Imitation von Umwelt zu suchen, sondern er gründet sich auf der spezifischen Fähigkeit des Menschen, den Anderen als absichtsvoll und symbolisch handelndes Gegenüber zu erkennen bzw. sich eine geistige Vorstellung vom Anderen machen zu können. Die sprach- und kommunikationsfördernden Voraussetzungen und Bedingungen lassen sich wie folgt zusammenführen:

•Die angeborenen Spracherwerbsmechanismen (Language Acquisition Device, LAD),

•die sprachförderlichen Verhaltensweisen und

•die intuitiven sprachlichen Rückmeldestrategien

•in den wiederkehrenden, sozialen Interaktionen (Language Acquisition Support System, LASS) sowie

•die allgemeine kognitive Entwicklung

sind gleichermaßen wichtige Motoren der Sprachlernprozesse.


Bruner, J. S. (2002): Wie das Kind sprechen lernt. 2., erg. Aufl. Huber, Bern

Grimm, H. (Hg.) (2000): Sprachentwicklung. Hogrefe, Göttingen

Klann-Delius, G. (2008): Spracherwerb. 2., aktual. u. erw. Aufl. Metzler, Stuttgart

Kauschke, C. (2012): Kindlicher Spracherwerb im Deutschen: Verläufe, Forschungsmethoden, Erklärungsansätze. Walter de Gruyter, Berlin/Boston

epigenetische Perspektive

Die unspezifischen sozialen und spezifischen sprachlichen Umweltbedingungen können den Erwerb einzelner Bereiche sprachlicher Fertigkeiten fördern oder hemmen. Während die Begriffsentwicklung mehr an die kognitive Entwicklung der Fähigkeit zum Symbolisieren, Klassifizieren und zum räumlichen und zeitlichen Ordnen gebunden ist, hängen die kommunikativ-pragmatischen Fähigkeiten mehr mit den sozialen und interaktionalen Entwicklungsbedingungen zusammen, also der Fähigkeit, sich kognitiv und emotional auf andere einstellen zu können. Dagegen folgt die Entwicklung der Grammatik scheinbar einem sprachspezifischen, möglicherweise angeborenen Programm. Aus dieser epigenetischen Perspektive sind sprachliche Entwicklungsprozesse das „Ergebnis des Zusammenwirkens von Elementen, die zueinander in rekursiver, ko-produktiver Beziehung stehen“ (Klann-Delius 2008, 147).

Dieser Selbstproduktionsprozess wird daher mit dem Begriff der Emergenz beschrieben. Aufgrund der Eigendynamik des Zusammenspiels der sprachlichen Reaktionen der Bezugspersonen und der sich anpassenden Fertigkeiten des Kindes „können neue Fähigkeiten entstehen, die nicht auf den Einfluss eines inneren oder äußeren Parameters allein zurückgeführt werden können“ (Kauschke 2007, 13; vgl. Fogel/Thelen 1987, 752). Keiner der Sprechenden kann die Interpretation und Wirkung seiner Aussagen auf den anderen selbst bestimmen. Die Kommunikation erfolgt in einem zirkulären bzw. rekursiv-interaktionalen Prozess, den „keiner der Beteiligten selbstständig hätte erzeugen können“ (Auwärter 1983, 82).

Aktualgenese der Sprache

Was als sprachliche Leistung des Kindes wahrgenommen wird und was sich dem Kind als sprachliches Lernangebot darbietet, ist eine Ko-Produktion der Kommunikationspartner in ihrer individuellen Situation. Sprache wird zu einer aktualgenetischen Erscheinung (Bindel 2007, 2). Sie ist kein fertiges System phonetischer und grammatischer Formen, die sich von innen heraus entwickeln (Inside-out-Theorien) oder von außen aufgenommen werden (Outside-in-Theorien), „sondern die stilistische Individualisierung, Konkretisierung und Modifikation der Sprache in einer konkreten Aussage“ (Friedrich 1993, 151; vgl. Duchan/Lund 1993, 23).


Die Situation bestimmt mit der Rolle der Akteure (Subjekt), der Aktivitäten (Prädikat) und deren Gegenständen (Objekt) die Grammatik der Sprache zur Situation. Die Grammatik der Sprache wiederum bestimmt das Denken zur Situation und umgekehrt (Hattnher/Hengeveld 2007, 7).

Sprachliches Handeln wird daher auch durch die grammatischen Regeln gelenkt. Gleichzeitig führen neuartig erlebte und kognitiv herausfordernde, soziale Situationen zu einer Erweiterung und Differenzierung des Zugriffs auf grammatische Fähigkeiten, um die Gedanken zur Situation „auf die Reihe zu bringen“.

Sprachlernprozesse aus Diskrepanzerfahrung

Dann entstehen sprachliche „Lernprozesse […] aus Diskrepanzerfahrungen zwischen Intentionalität und Kompetenz. Man kann nicht so, wie man will“ (Faulstich/Grell 2005, 24). Wenn eine solche „Sprech- und Formulierungskrise“ eintritt, „wird Sprache bewusstseinspflichtig“ und eine fachpädagogische Intervention lernwirksam (Homburg 1983, 119), indem das Medium der Sprache zu seinem eigenen Reflexionsgegenstand wird.

2.2 Bedingungen des Zweitspracherwerbs

Erwerb zweier Sprachen bis zum dritten Lebensjahr

Für den simultanen Lernprozess mehrerer Sprachen sind bis ungefähr zum dritten Lebensjahr diesselben inneren und äußeren Entwicklungsbedingungen relevant wie bei einer Sprache. Er erfolgt nach den gleichen Mustern wie der monolinguale Erst-spracherwerb und ist ungesteuert. Von hoher Bedeutung ist die gemeinsam geteilte Situation (Common Ground, → Kapitel 2.1) und der emotionale Bezug zum Gesprächspartner und zum Kommunikationsthema (Bickes 2009, 93 f.). Dabei ist es zunächst irrelevant, dass der sprachliche Input aus zwei unterschiedlichen Sprachsystemen stammt.

balancierte Zweisprachigkeit

Beim simultanen Erstspracherwerb werden zwei Sprachen gleichzeitig und gleichrangig von Geburt an gelernt. Es kann daher nicht differenziert werden, welche der beiden Sprachen Erst- und welche Zweitsprache ist. Im Regelfall ist das Erlernen der beiden Sprachen an jeweils eine Person gekoppelt. Dieses Erziehungsprinzip „Eine Person – eine Sprache“ geht auf den französischen Forscher Ronjat (1913) zurück und wird oft als optimale Bedingung für den doppelten Erstspracherwerb angesehen.

Die Annahme, dass dieses Prinzip zu einem synchronen Erwerbsverlauf führt (Balanced Bilingualism), wird kritisch diskutiert. Zum einen geht aus den Untersuchungen zum doppelten Erstspracherwerb auch hervor, dass der Lernprozess oft in Familien mit bildungsorientierten und stabilen sozio-ökonomischen Bedingungen ohne wesentliche Entwicklungsrisiken stattfand und deshalb nicht klar ist, wie unmittelbar diese positive Entwicklung auf das Erziehungsmilieu zurückzuführen ist (Mertens 1996, 10). Zum anderen spielen die Umgebungssprache und die Identifikation der Eltern mit dieser Umgebungssprache und dem kulturellen Umfeld eine wichtige Rolle. Durch den selteneren Gebrauch der Sprache des einen Elternteils und durch den Besuch einsprachiger pädagogischer Einrichtungen (Tagesmutter, Kindergarten) kann die Sprache des anderen Elternteils, die auch gleichzeitig die Umgebungssprache ist, eine dominante Rolle erhalten. Es kann dann zu unterschiedlichen Entwicklungen in den Fertigkeiten und Modalitäten (Sprechen, Verstehen, Schreiben, Lesen) der beiden Sprachen kommen (Dominant Bilingualism).

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