Kitabı oxu: «Acevado - Wann bleibst du?»

Şrift:


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Acevado

Wann bleibst du?

Jule Heer


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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2015

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

ISBN 978-3-86196-544-2- Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-306-4 - E-Book

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Inhalt

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Für Jana,

weil du wie ein lebender Ratgeber für mich warst.

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Prolog

Er presste mit klopfendem Herz sein Ohr gegen die schwere Eichentür und versuchte, die gedämpften Worte, die dahinter gesprochen wurden, zu verstehen.

Was hatte die Männerstimme da gerade von „zur Strecke bringen“ gesagt?

Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag auf die doppelte Geschwindigkeit und er spürte Panik in sich aufsteigen. Verzweifelt ballte er seine Hände zu Fäusten und grub sich die Fingernägel ins Fleisch, bis es schmerzte. Das konnte doch jetzt nicht das Ende sein, oder? Er war sich vielleicht vieler seiner Ziele nicht bewusst, doch bei einem war er sich sicher: Er wollte noch nicht sterben!

Trotzdem blieb er stumm, um nicht durch hysterisches Schreien die Aufmerksamkeit und womöglich den Zorn derer, die ihn hierher verschleppt hatten, auf sich zu lenken.

Auf dem Weg von der Schule nach Hause war einer der Entführer aus dem Schatten einer Hauswand gesprungen, hatte ihm eine Hand auf den Mund gepresst und in drohendem Ton geflüstert: „Hör gut zu, Junge, du bleibst jetzt ganz ruhig, kommst einfach mit zu meinem Auto, dann wird dir nichts passieren. Mein Chef will dir nur in aller Freundschaft einen Deal vorschlagen.“

„Nichts passieren“ und „einen Deal vorschlagen“ passten nicht gerade zu Mordabsichten, aber jetzt konnte er sowieso nicht mehr entkommen, denn derjenige, der ihn auf der Straße gepackt hatte, und der andere, der im Auto gewartet hatte, hatten ihn hier eingesperrt und jeder Fluchtversuch wäre zwecklos.

„Sie hat etwas an sich“, drang jetzt eine andere Stimme zu ihm in sein Verlies, das ursprünglich eine geräumige Abstellkammer gewesen war.

„Ihr Verlust wäre natürlich zu tragisch“, lachte jemand und es klang gehässig und boshaft, dennoch ließen ihn die Worte aufatmen, denn das hieß, dass sie schon ein anderes Opfer im Blick hatten.

Und auch wenn er wusste, dass es egoistisch war, verschwendete er keinen Gedanken an das Verbrechen, das diese Schweine an einem anderen, offensichtlich weiblichen Menschen begehen würden.

Von dem folgenden Wortwechsel verstand er nur ein paar Fetzen wie „mächtig“, „unersetzlich“ und „Köder“, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen. Offensichtlich hatten sie ihre Stimmen gesenkt, um einen Plan zu schmieden.

Allerdings hatte er keine Zeit, ausführlich darüber nachzudenken, was die Männer wohl tuschelten, denn plötzlich drangen erneut vollständige Sätze an seine Ohren. „Sie besaß die bezaubernde Schönheit einer jungen Frau, die rettungslos verliebt ist.“

Er glaubte, die Stimme seines Entführers zu erkennen, und spitzte die Ohren.

„Ihre Augen leuchteten in der Farbe von geschliffenem Bernstein, ihre Haare wie Ruß. Allein wie er sie ansah, das sprach schon Bände. Er liebt sie, keine Frage, und sie erwidert seine Gefühle mit derselben Intensität. Wäre es nicht eine Verschwendung, diese Gefühle unangetastet zu lassen?“

Eine Zeit lang herrschte Stille in dem benachbarten Raum, doch als er schon annahm, die Männer wären gegangen, wurde mit einem Ruck die Tür aufgerissen und er konnte gerade noch ein paar Schritte rückwärtsstolpern, sonst wäre er dem Entführer, der das Auto gefahren hatte, direkt in die Arme geplumpst.

Dieser lächelte nur höhnisch, als er erkannte, dass der Junge gelauscht hatte. „Ach, hat der kleine Mann unerlaubt ein Gespräch unter Erwachsenen mit angehört? Nun gut, es wurde ja nichts besprochen, was du nicht ohnehin gleich erfahren wirst.“ Und dann fügte er in hartem Ton hinzu: „Komm mit! Der Chef hat wie gesagt noch ein Wörtchen mit dir zu reden!“

Der andere Mann, der stumm danebengestanden hatte, packte ihn nun am Kragen, als er sich nicht gleich regte, und stieß ihn fluchend vor sich her. Sie durchquerten im Laufschritt mehrere Gänge und blieben kurz darauf vor einer Tür stehen.

Der Griff um seinen Nacken verstärkte sich und er krümmte sich vor Schmerz, was seinem Peiniger nur ein schadenfrohes Grinsen entlockte. Dann beugte er sich zu ihm hinunter und zischte ihm drohend ins Ohr: „Hör zu, da drin benimmst du dich gefälligst, verstanden? Du versuchst keine Spielchen, hörst dem Chef zu und überlegst dir dann sehr gut, ob du riskieren möchtest, nicht das zu tun, was er von dir verlangt, oder ob es nicht vielleicht die größte Fehlentscheidung deines Lebens wäre, dich seinem Willen zu widersetzen.“

Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, doch er nickte stumm, weil die Angst ihm die Kehle zuschnürte.

Dann stieß der Mann die Tür auf und gab den Blick frei auf einen großen Saal, der von einem langen Tisch eingenommen wurde, an dem einige Männer und Frauen saßen, die alle ihr Augenmerk auf ihn richteten, als er mit seinen Bewachern den Raum betrat.

Am Kopfende erhob sich ein Mann, strich sein Jackett glatt und sah den Jungen mit einem überaus zufriedenen Lächeln an. In dieser Umgebung schien das für Boshaftigkeit zu stehen.

Möglichst abweisend funkelte er den Chef an, den er hinter diesem Grinsen vermutete, und entlockte ihm damit nun ein leises, belustigtes Lachen. „Da ist aber jemand ein sehr undankbarer Gast“, sagte der unsympathische Kerl mit einer tiefen, kratzigen Stimme und baute sich zu seiner vollen Größe auf, bevor er mit in der Stille unerträglich laut klingenden Schritten zu den drei Neuankömmlingen hinüberschlenderte.

Als er dicht vor dem Jungen zum Stehen kam, ging er leicht in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein, was den Gefangenen nur noch mehr verängstigte. Stahlblaue Augen blitzten ihn an, und ehe er es sich versah, hatte sich eine eiskalte Pranke um seine Hand gelegt. Er zitterte unter der Berührung, während er zugleich versuchte, sich zu seinen vollen 1,55 Metern aufzubauen, die er bereits maß. Doch neben diesem Mann wirkte er wie ein Zwerg. Kalter Schweiß brach ihm aus und er zog bebend seine Hand zurück, um sie an seinen warmen Körper zu pressen. Was wollten diese Menschen von ihm?

„Ich sehe, Manieren scheinen an dieser Stelle nicht angebracht zu sein ... Nun gut, das können wir später noch üben“, sagte der Chef und rieb sich nachdenklich über das rasierte Kinn.

Später? Wie viel Zeit sollte er denn hier verbringen? „Was wollen Sie?“, fragte der Junge und versuchte krampfhaft, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken, um sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Leider erfolglos.

Die Lippen spöttisch verzogen, drehte der Anführer sich um und schritt grauenvoll gemächlich im Raum auf und ab. Keiner rührte sich.

„Ich?“, fragte er nach einer halben Ewigkeit. „Ich will dir lediglich ein Angebot unterbreiten. Im Übrigen wollen wir gar nicht erst mit dem Sie anfangen. Ich bin Darren.“

Er würde sich unterstehen, diesen Kerl mit seinem Vornamen anzusprechen, er schwieg nur beharrlich. Er wollte sich dieses Angebot anhören und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden. Immer noch hörte er unnatürlich laut sein Herz gegen die Rippen pochen und hoffte, dass es niemand sonst bemerkte.

Darren wartete kurz, bis er wohl dachte, dass er keine Antwort mehr erhalten würde, was er mit einem verärgerten Zungenschnalzen quittierte. „Nun gut, dann werde ich dir jetzt einfach sagen, was ich von dir will, bevor du dir vor Angst in die Hose machst.“ Wieder trat ein paar Sekunden lang Schweigen ein, dann seufzte der Mann demonstrativ und begann zu erklären. „Du musst dir keine Sorgen machen, Kleiner! Du bist nicht in meiner Firma, weil dir in irgendeiner Form wehgetan werden soll. Wir wollen dir absolut nichts Böses. Wir brauchen dich nur für ... nun, sagen wir mal, für ein paar geschäftliche Dinge. Was hältst du davon, willst du uns helfen?“

Er sollte arbeiten? Er war doch noch ein Kind. Und er wollte schon gar nicht mit diesem Kerl zusammenarbeiten. Sein Mund wurde trocken und es dauerte eine Weile, bis er genug Spucke zusammenhatte, um etwas zu sagen. „Ge...geschäftliches? Das ... das wäre Kinderarbeit!“, stotterte er und hatte die leise Hoffnung, mit diesem Argument den Klauen dieser Leute zu entkommen.

Doch Darrens Lippen verzogen sich erneut und er stieß ein heißeres Lachen aus, in welches einige der Anwesenden mit einstimmten. Dann wurde er schlagartig ernst, legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter und sagte eindringlich: „Hör zu, das hier ist keine normale Arbeit. Ganz im Gegenteil. Es ist aufregend, besser als jeder Vergnügungspark!“

„Was ... was soll ich denn machen?“, fragte er heiser und Darrens Gesicht nahm einen zufriedenen Ausdruck an, als hätte er bereits eine Zustimmung erhalten.

„Nun ... das ist ein Geheimnis. Wenn ich es dir erzähle, darfst du es niemandem verraten, verstehst du?“ Der Junge nickte leicht und Darren sprach weiter: „Du darfst in die Zukunft reisen! Ja, richtig gehört, du hast die einmalige Chance herauszufinden, wie die Menschen sich in ein paar Jahrzehnten fortbewegen, was gerade Trend sein wird, ob die Schulen in der Zwischenzeit abgeschafft worden sind ... alles! Sag, ist das nicht ein großzügiges Angebot von mir?“

Er sah zu Darren auf und wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Einen solchen Quatsch hatte er noch nie gehört und die Überzeugung, mit der der Chef darüber sprach, als sei es das Normalste der Welt, verlieh ihm etwas Irres.

Wild den Kopf schüttelnd, wich er einige Schritte zurück. „Nein! Nein, ich glaube Ihnen nicht! Und selbst wenn es wahr wäre, hätte ich keinerlei Interesse an Ihren Zeitreisen! Ich bin zufrieden mit der Gegenwart, so wie sie ist. Und jetzt lassen Sie mich gehen!“, rief er zornig und stolperte rückwärts, bis er gegen die Wand stieß.

Mit einem Lächeln, das wohl beruhigend wirken sollte, ihn aber nur noch hysterischer machte, kam Darren auf ihn zu. „Ich würde dich gehen lassen, wenn ich bereits ausgesprochen hätte“, sagte er mit quälend ruhiger Stimme. „Aber ich habe dir noch nicht gesagt, was geschieht, wenn du dich unserer Firma nicht anschließt.“

Der Junge erstarrte. Jetzt kam es, jetzt folgten die Drohungen. „Sagen Sie es! Was wäre die Konsequenz?“, fragte er tonlos.

Darrens Lächeln wurde breiter und er schüttelte sachte den Kopf. „Nun, nichts muss passieren, wenn du einfach hier und jetzt deine Mithilfe zusicherst. Ich will nicht, dass du einen schlechten Eindruck von uns bekommst wegen irgendwelcher Drohungen, die wir nur in die Tat umsetzen, wenn das Jungchen weiterhin zurück nach Hause will.“

Doch der Gefangene sagte noch einmal unbeeindruckt: „Sagen Sie es mir!“

„Na schön, du hast es so gewollt“, erwiderte Darren bedrohlich und baute sich dicht vor ihm auf. Er schien mit seinen stahlharten Augen die des Jungen zu durchbohren. „Ich lasse das Mädchen töten, das du liebst“, erklärte er mit klirrend kalter, emotionsloser Stimme. „Also überlege dir gründlich, wie deine Entscheidung ausfällt.“

Das hatte ihm bereits einer der Männer, die ihn hierher verschleppt hatten, eindringlich draußen vor der Tür klargemacht. Doch was sollte er mit dieser Aussage anfangen? Er war lediglich ein Kind, er hatte keine Freundin und war noch niemals verliebt gewesen. Seine Mutter, die Alkoholikerin war, würde sich bald zu Tode saufen und liebevolle Gefühle hatte er für sie schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr empfunden, so schrecklich es auch klang. Und seinen Vater verachtete er dafür, dass dieser nichts dagegen unternahm. Nur still zusah, wie seine Frau leichtsinnig ihr Leben wegwarf, ohne dabei an ihre Familie zu denken.

Er senkte den Blick und flüsterte kaum hörbar: „Da gibt es kein Mädchen.“ Plötzlich fiel ihm auf, dass ihm damit die Drohungen dieser Leute nichts anhaben konnten, und er funkelte sie alle der Reihe nach böse an. „Seht ihr? Ihr könnt mir gar nicht drohen. Denn es gibt niemanden, den ich liebe, und somit auch nichts, womit ihr mich verletzen könntet. Und nun lasst mich ein für alle Mal in Ruhe!“

Nun verfinsterte sich Darrens Gesichtsausdruck merklich, es schien ihm langsam zu reichen, denn er packte den Jungen am Kragen und zerrte ihn zu sich heran. Durch zusammengepresste Zähne zischte er ihm ins Ohr: „Du sollst gefälligst aufhören, so begriffsstutzig zu sein, sonst schneide ich dir die Zunge ab, um dein Gejammer nicht mehr hören zu müssen.“ Darren schien es, wie man an seiner entschlossenen Miene erkennen konnte, sehr, sehr ernst zu meinen.

Rasch biss sich der Junge auf die Lippen, auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, wieso er angeblich begriffsstutzig war.

„Ich habe dir doch gerade erklärt, dass ich in der Lage bin, Menschen in die Zukunft zu schicken. Zeitreisende, wenn du so willst. Und dabei liegt es an der betreffenden Person, ob sie hundert oder fünf Jahre später landet. Von einem meiner Getreuen habe ich auf diese Art und Weise erfahren, dass du in ein paar Jahren sehr wohl ein Mädchen so sehr lieben wirst, dass du es ganz sicher bereust, es niemals kennenzulernen.“ Darren ließ ihn los und trat ein paar Schritte zurück, beobachtete aber seine Reaktion. „Nun liegt es an dir zu entscheiden, was aus dieser Beziehung werden soll. Ob die Kleine je ein Leben haben wird, das über ihre bisherigen zehn Lebensjahre hinausgeht. Ob sie je erfahren soll, was es heißt, zu lieben und geliebt zu werden. Ob ihr glücklich zusammen werdet oder ob du stattdessen niemals der Person begegnest, die dich auf die Art und Weise vervollständigt, dass du als Mensch ein lebenswertes Dasein führst. Also, wähle nun dein Leben: Du kannst entweder gehen, nie wieder etwas von uns sehen oder hören und hoffen, die Liebe dennoch zu finden. Allerdings kann ich dir versichern, ein solches Mädchen gibt es für einen Jungen wie dich kein zweites Mal, denn man sollte nicht verschwenderisch umgehen mit der Liebe. Oder du verpflichtest dich hier und jetzt dazu, einer meiner Getreuen zu werden. Für mich und meine Zwecke, die dich im Übrigen nichts anzugehen haben, durch die Zeiten zu wandeln, zu erfüllen, was ich dir an Aufgaben auferlege. Und du entscheidest dich damit für ein Leben, das du an der Seite einer Frau verbringen wirst, für die du mehr empfindest als für sonst irgendwen auf der Welt oder sogar für dich selbst. Vielleicht werdet ihr Kinder bekommen, heiraten, das kann ich dir nicht sagen, doch ihr werdet zusammen sein und das ist nur möglich, wenn du jetzt schwörst zu tun, was ich verlange.“

Der Junge merkte, wie er unkontrollierbar am ganzen Körper zu zittern begann. Wieso er nicht glaubte, dass dieser Mann ihn belog? Vielleicht, weil er an das Gespräch dachte, das er zuvor belauscht hatte. Der Mann, der ihn selbst wohl mit diesem Mädchen gesehen hatte, hatte so ehrfürchtig von der Begegnung gesprochen, dass die Liebe zwischen den beiden unübersehbar war und somit unmöglich eine Lüge sein konnte. Jetzt schien das alles auch einen Sinn zu ergeben. Die Entführer hatten etwas von „unersetzbar“ gemurmelt.

Darren gab sich offensichtlich große Mühe, ihn für seine dubiosen Geschäfte zu gewinnen, weil er aus irgendwelchen Gründen wusste, dass er für ihn sehr nützlich sein konnte. Das Mädchen war nun zum Köder geworden, um ihm diese zweifelhaften Aufgaben zu übertragen. Das machte ihn unglaublich zornig, auch wenn er diese Person noch nicht einmal kannte, konnte er nicht einfach zulassen, dass sie umgebracht wurde. Besonders nicht, wenn von ihr sein Glück abhing. Er dachte an die Beschreibung, die er zuvor belauscht hatte. Seine zukünftige Freundin hatte bernsteinfarbene Augen und rußschwarzes Haar so wie er. Er presste eine Hand auf sein Herz, das noch nie aus Liebe oder Zuneigung schneller geschlagen hatte. Liebe. Nichts wünschte er sich sehnlicher in diesem Moment, als jenes unbekannte Gefühl eines Tages zu verspüren.

Und schon hörte er sich sagen: „Ich schwöre.“

Erst viele Jahre später sollte er erfahren, worauf er sich da eingelassen hatte und weswegen der Chef ihn für das Erreichen seiner Ziele benötigte.

*

1

Wenn ich eines gelernt habe in Bezug aufs Schreiben, dann ist es, dass das Schwerste immer der Anfang einer Geschichte ist. Man kann auf unterschiedlichste Arten zu erzählen beginnen, entweder mit „Es war einmal ...“ oder mittendrin ins Geschehen einsteigen. Oder man macht es wie ich und erklärt, wie schwer es ist, einen Anfang zu finden.

Wieso ich das tue? Vielleicht, damit ihr Verständnis habt, vielleicht aber auch nicht.

Ich heiße Amber Black und am Anfang meiner Geschichte war ich 16 Jahre, 4 Monate und 23 Tage alt und befand mich irgendwo zwischen London und Rain Village in einem für mein Gefühl eindeutig zu großen Lastwagen. Was ich dort zu suchen hatte? Ich war im Begriff, mit meinen Eltern umzuziehen. In den besagten Ort Rain Village, schon der Name ließ in mir, aus einem unerfindlichen Grund, die Befürchtung hochsteigen, dort würde es den ganzen Tag nur regnen. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wieso wir wohl unsere Siebensachen gepackt und eine der schönsten Hauptstädte Europas verlassen haben, um in irgendein Kaff am Ende der Welt aufzubrechen. Tja, das frage ich mich selbst bis heute noch. Denn weder hatten meine Eltern berufliche Gründe für den Umzug noch hatten wir ein Haus geerbt oder beschlossen, ab jetzt bei Verwandten zu wohnen.

Nein, die Begründung meiner Eltern hierfür war, dass sie einfach mal etwas anderes bräuchten als das anstrengende Stadtleben. Also musste ich meine Freunde, die Schule, mein Leben aufgeben, weil meine Eltern nach 30 Jahren in London gemerkt hatten, dass die Großstadt eigentlich nichts für sie war.

Ich denke, man merkt, wie sauer und schockiert ich damals über diese Entscheidung war, und ich weiß nicht, ob sich daran etwas geändert hätte, wenn ich gewusst hätte, wie sehr sich mein Leben dadurch verändern würde. Ja, dass mich dieser Umzug komplett aus der Bahn werfen und meine Vorstellungen von einem normalen Leben völlig auf den Kopf stellen würde. Und was wäre gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass diese Entscheidung meiner Eltern mich zur Liebe meines Lebens führen und mich dazu zwingen würde, mit all meiner Kraft um diese zu kämpfen?

Als wir in Rain Village ankamen, schien die Sonne. Kein Regen in Sicht. Mein Dad besah sich den wolkenlosen Himmel und stieß einen Pfiff aus. „Wow, dieses Rain Village sollte Sun Village genannt werden, so gutes Wetter war in London in den letzten zehn Jahren nicht!“

Ich warf ihm einen spöttischen Blick zu und merkte verärgert, dass ich mir trotz meiner miesen Stimmung ein Lächeln nicht verkneifen konnte. „Und woher willst du wissen, dass das hier nicht auch der Fall war? Vielleicht ist die Sonne heute ausnahmsweise mal rausgekommen, um die ersten Zugezogenen seit zwei Jahrhunderten nicht gleich wieder zu vergraulen.“

Dad quittierte das mit einer grimmigen Miene, wie immer, wenn ich ihm Kontra gab. Mum schaute unterdessen mit verkniffenem Gesicht auf die vor ihr ausgebreitete Landkarte, heftig bemüht, die Stimme des Navigationsgerätes zu ignorieren, die ihr eindringlich versuchte klarzumachen, dass sie rechts abbiegen müssten. Trotz heftiger Proteste ihrerseits hatte Dad es sich nicht nehmen lassen, sein heiß geliebtes Navi die ganze Fahrt über quatschen zu lassen. Was den eher negativen Effekt hatte, dass Mum alles, was die liebreizende Frauenstimme von sich gab, anzweifelte, es sei denn, ihre Karte stimmte rechtzeitig zu, aber da diese nicht sprechen konnte, war das selten der Fall.

Das war der Grund dafür, dass wir auf der Autobahn eine Ausfahrt zu spät genommen hatten und uns einem noch längeren Herumgegurke auf dem Land ergeben mussten. Auch die Navitante war von der Wahl dieser Route außerordentlich schockiert und sagte erst mal nichts mehr.

„Mum, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber ich glaube, wir hätten da rechts abbiegen müssen“, sagte ich mit einem Blick auf die Karte.

Dad grinste triumphierend, es stand jetzt 9:0 für ihn und sein Navi. Um zu beweisen, dass sein technisches Instrument absolut nötig und unentbehrlich war, folgte er brav den Anweisungen meiner Mum und fuhr stets in die von ihr angegebene Richtung.

Doch sie tat, als würde sie ihren Fehler nicht bemerken, und sagte: „Ja, Schätzchen, das weiß ich doch, aber auf diesem Weg sehen wir gleich ein bisschen mehr vom Ort und ich dachte, das könnte ganz interessant für uns sein, hm?!“

Ich musste alle Mühe aufbringen, um nicht lauthals loszulachen, und auch Dad sah belustigt aus. Aber Mum hielt weiterhin daran fest, sie hätte uns mit Absicht einen Umweg fahren lassen.

Schließlich kamen wir jedoch an unserem Ziel an und ich stand mit offenem Mund vor dem Traumhaus, das Mum uns angepriesen hatte. Ich fand wirklich viele Bezeichnungen für diese Ruine, aber ganz sicher war das Wort Traumhaus nicht unter ihnen. Doch um Mum nicht ihre Euphorie, mit der sie verträumt unseren neuen Wohnsitz bewunderte, zu rauben, sprach ich meine Gedanken nicht aus.

Dad hingegen tat es: „Das ist kein Traumhaus, das ist eine Bruchbude!“ Er sagte das mit einem Lachen in der Stimme, aber auf sein Gesicht trat ein gequälter Ausdruck bei dem Gedanken, in Zukunft hier zu wohnen.

Mum zuckte bei seinen Worten kurz zusammen, hatte sich aber schon wieder gefangen, als sie sprach: „Ach, es stimmt vielleicht, es gibt am Haus die ein oder andere Sache zu reparieren, aber da wir zu dritt sind, dürfte das doch locker zu schaffen sein! Wir müssen halt alle mit anpacken.“

Dad warf mir einen verzweifelten Blick zu und mir drehte sich bei dem Gedanken, dieses Haus auf Vordermann zu bringen, fast der Magen um. Allein schon der Garten war ein regelrechter Urwald aus Unkraut und ich erinnerte mich mit einem Schaudern an mein Praktikum beim Gärtner im letzten Jahr. Dabei sahen die Gärten, in denen wir zu tun hatten, nicht mal halb so verkommen aus wie dieser hier. An der Hausfassade war der Putz teilweise abgeblättert, also ließ sich vermuten, dass eine komplett neue Verkleidung nötig sein würde. Und nur um das mal zu betonen: Dieses Haus war vieles, aber klein ganz sicher nicht.

Ich war nun gespannt, wie es innen aussah, also wandte ich mich an Mum und schlug vor: „Lass uns doch mal reingehen, hast du den Schlüssel?“

Eine schlechte Idee, wie sich herausstellte, denn Mr Lord, der Vermieter, wollte persönlich vorbeikommen, uns begrüßen und den Schlüssel übergeben. Ich fand das durchaus mutig, wenn man bedachte, dass eine normale Familie sofort den Mietvertrag gekündigt und einen Abflug gemacht hätte. Aber wir waren nun mal keine normale Familie und vielleicht hatte Mr Lord das schon geahnt, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass sich jemand halbwegs Gescheites auf seine Anzeige gemeldet hätte. Diese war nämlich mit Bild gewesen. Da Mum sich nicht informiert hatte, wo dieser Herr denn wohnte, konnten wir nichts anderes tun, als uns auf die Bank im Vorgarten, die unter unserem Gewicht bedenklich knarrte, zu setzen und darauf zu warten, dass er selbst hier antanzte.

Als er schließlich kam, stöhnte er erst mal ausgiebig und wandte sich dann uns zu. „Das ist vielleicht immer eine Tortur bis hierher, puh! Gut, dass meine alte Rosie es noch macht. Aber den Weg hat sie sich auch nicht merken können.“

„Ihre ... äh ... Frau?“, fragte ich verwirrt nach und sah mich nach ihr um.

Mr Lord prustete scheppernd los, es klang eingerostet, als wäre es viele, viele Jahre her, dass er das letzte Mal gelacht hatte. „Nein, die ist schon seit über zehn Jahren tot“, sagte er und wurde schlagartig ernst. „Rosie ist mein Auto, wenn die den Geist aufgibt, beweg ich mich auch nicht mehr weiter als bis zum nächsten Supermarkt.“ Er lächelte gedankenverloren, aber irgendwie sah es unendlich traurig aus. Wie schlimm es sein musste, wenn das Auto einem auf der Welt am vertrautesten war und man über es redete, als wäre es ein Mensch.

Mr Lord fuhr sich mit einer schwungvollen Bewegung durch das kinnlange graue Haar, wie um sich daran zu erinnern, mit wem er da sprach. „Aber ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Oscar. Ich denke, es ist in Ordnung, wenn wir uns duzen, oder? Ach, es ist gut, mal wieder hier zu sein, das ist schon so lange her. Wie gesagt, Rosie und ich, wir haben uns beide nicht mehr an den Weg erinnert. Aber jetzt sind wir ja da. Ja, ja, die gute alte Betty! Hätte nicht gedacht, dass ich die noch mal wiedersehe, nein, das hätte ich wirklich nicht geglaubt. Aber nun zu Ihnen ... ach, wir wollten uns ja duzen. Wie heißt ihr denn überhaupt?“

Mum, die ein bisschen überfordert von Oscars Redeschwall zu sein schien, musste das Gesprochene erst mal verarbeiten. Doch Dad streckte sofort eine Hand aus und stellte sich vor: „Mein Name ist Owen, das“, er deutete mit einer Handbewegung auf Mum, „ist meine liebreizende Frau Evelyn und die süße Kleine dort“, jetzt zeigte er auf mich, „ist meine Lieblingstochter Amber.“

Ich warf Dad einen vernichtenden Blick zu, den er aber nicht weiter beachtete. Er sah immer noch zu Oscar, die Hand weiterhin ausgestreckt, doch dieser schien durch ihn hindurchzustarren. „Amber ...“, hauchte der alte Vermieter bloß mit kaum hörbarer Stimme und ein Schauer lief mir über den Rücken. Was wollte der denn jetzt? Er schüttelte plötzlich heftig den Kopf und sein Blick wurde wieder klar. „Oh, entschuldige mich, Owen, Sie ... äh, du darfst mich gar nicht beachten, ich bin nur ein einsamer, alter Mann. Weißt du, meine Frau hieß auch Amber.“ Endlich packte er Dads Hand und schüttelte sie, dann grinste er verschwörerisch und zog ein blaues Band aus seiner Hosentasche, an dem ein Schlüssel baumelte. „Dann wollen wir mal schauen, wie sich Betty so gehalten hat, was?“

Ich ging mal davon aus, dass Betty das Haus war, und konnte mir nun doch ein Grinsen nicht verkneifen.

Mum war natürlich begeistert und ich musste zugeben: Schlecht sah Betty von innen wahrlich nicht aus. Während Mum anfing, mit Mr Lord alias Oscar über dieses und jenes zu plaudern, sah ich mich in Ruhe um.

Direkt hinter der Haustür befand sich eine größere Eingangshalle mit dicken, verstaubten Vorhängen vor den Fenstern und gigantischen Wandgemälden. Auf der gegenüberliegenden Seite führte eine breite hölzerne Wendeltreppe nach oben, die über und über mit Schnörkeln und anderen Verzierungen versehen war. Nachdem ich einen kurzen Blick in die herrschaftlich wirkende Küche, die zwei lichtdurchfluteten Arbeitszimmer und das Badezimmer geworfen hatte, ging ich die wunderschöne Treppe nach oben und fühlte mich dabei erhaben wie eine Königin.

In London hatten wir eine winzige Wohnung im 7. Stock gehabt, nicht, dass sie nicht schön und gemütlich gewesen wäre, aber das hier haute mich einfach um. Oben war gleich links das erste Zimmer, daneben ein weiteres Badezimmer, diesmal größer und sogar mit Badewanne. Ich konnte ein entzücktes Aufseufzen nicht vermeiden. Dann ging ich zurück in den langen Flur, der von Wandteppichen, die ebenfalls ziemlich staubig waren, geschmückt wurde. Eigentlich wollte ich mir erst noch die anderen Zimmer ansehen, doch es war, als spürte ich, dass das am anderen Ende des Flurs meines war.

Ich lief wie ferngesteuert darauf zu, öffnete die schwere Holztür ... und atmete geräuschvoll aus. Das war es, ich würde mit allen Mitteln dafür kämpfen, dass dies mein Zimmer wurde. Das mag vielleicht ein bisschen übertrieben klingen, aber ich hätte einiges für einen solch wunderschönen, nur mir allein gehörigen Raum gegeben.

Ich sah schon vor mir, wie ich in der Mitte zwischen den beiden monströsen Holzsäulen, die wohl das Dach stützten, mein Bett aufstellen würde, auf drei Seiten von Fenstern umgeben. Mein Schreibtisch würde unter einem von ihnen Platz finden, dem in der Dachschräge, sodass ich beim Lernen perfektes Licht von oben bekäme.

Diese Vorstellung überwältigte mich unversehens, sodass ich völlig vergaß, dass ich eigentlich sauer auf meine Eltern war, weil sie mich gezwungen hatten, mein Leben aufzugeben. Es war klar, dass ich mich damit würde abfinden müssen, hier ein neues zu beginnen.

17,16 ₼

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