Kitabı oxu: «Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020»

Şrift:

Franz-Michael-Felder-Archiv

Jahrbuch
Franz-Michael-Felder-Archiv
der Vorarlberger Landesbibliothek

21. Jahrgang 2020

mit dem Protokoll der LII. ordentlichen Generalversammlung

des Franz-Michael-Felder-Vereins


Inhalt

Felder-Rede

ROLAND GNAIGER

Dem Nächsten und Konkreten zugewandt

Edition

BARBARA GLAUERT-HESSE

Yvan Goll. Unveröffentlichte Gedichte und Tagebücher 1918 – 1940

Aufsätze

BARBARA WIEDEMANN

„Celan zerrüttet, C.G. zerrüttet, die ganze Welt ein Hospital.“ Neues Material zur sogenannten Goll-Affäre

CLAUDIO BECHTER

Zwischen Tradition und Moderne. Die Lyrik Paula Ludwigs in Kunst- und Literaturzeitschriften ihrer Zeit

HELGA ZITZLSPERGER

Wer sind die ‚Schwabenkinder‘? Auf der Suche nach Spuren ihrer Schicksale in Märchen, Sagen oder anderen Geschichten

GÜNTER FELDER

Johann Koderle und Franz Michael Felder – eine ambivalente Beziehung

ULRIKE LÄNGLE

Wilhelm Furtwängler in Dornbirn und Heiden

WOLFGANG STRAUB

Umtriebige Schweinchen. Vorarlberg im Œuvre Werner Koflers

HARALD WEIGEL

Ein Testament und seine Folgen. Der Nachlass Joseph Bergmann im Franz-Michael-Felder-Archiv

Schreiben über den See. Texte, Paare, Korrespondenzen

MARCUS TWELLMANN

„Ein ordentliches Meer“. Bodenseeliteratur und Tourismus

ANDREA CAPOVILLA

Den See sehen: Eva Schmidts Die untalentierte Lügnerin vis-à-vis Anna Sterns Der Gutachter

HERMANN GÄTJE

Blicke auf Konstanz von Norbert Jacques, Eduard Reinacher und Oskar Wöhrle

IRMGARD M. WIRTZ

Warten am Wasser. Thomas Hürlimanns Grossvater und Halbbruder

Nachruf

ULRIKE LÄNGLE

Abschied von Oscar. Grabrede für Dr. Oscar Sandner (1927 – 2020), gehalten am Friedhof Bregenz St. Gallus am 30. Juni 2020

Berichte

Jahresbericht des Franz-Michael-Felder-Archivs 2019

Protokoll der LII. ordentlichen Generalversammlung 2020

Anhang

Liste lieferbarer Bücher und CDs

Beiträger/-innen

Felder-Rede


Vorbemerkung

Zum dritten Mal wurde in diesem Jahr eine Persönlichkeit des Vorarlberger Kulturlebens eingeladen, ihre Eindrücke, Gedanken und Gefühle, Fragen und so etwas wie Antworten zu Franz Michael Felder zu formulieren und vorzutragen, in diesem Jahr im Rahmen der 52. Generalversammlung des Vereins. Nach den Felder-Reden von Reinhard Haller (2018) und Monika Helfer (2019) fiel unsere Wahl auf den Architekten Roland Gnaiger.

Roland Gnaiger hat diese Einladung gerne und sehr „sicher“ angenommen. Für seine Rede hat er den Titel Dem Nächsten und Konkreten zugewandt gewählt, um sich von den Bedingungen der Felder-Zeit ausgehend, der Weiterentwicklung von Landleben und Landwirtschaft zu widmen und in Folge die allgemeinen Phänomene unserer Entfremdung und Verabschiedung von Welt- und Lebensrealitäten zu thematisieren: „Es sind diese Ferne zu den Dingen und unsere Fühllosigkeit, die uns stumm bleiben lassen vor dem Rückzug der Demokratie, der Verrohung der Sprache und dem Monogrün unserer sogenannten Wiesen, die uns untätig sein lassen angesichts der unfassbaren Banalisierung der städtischen Peripherien, des Insekten- und Vogelschwunds und des maßlosen Leids in Flüchtlingslagern“.

Roland Gnaiger ist 1951 in Bregenz geboren, dort und im Salzkammergut aufgewachsen, studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien und an der TU in Eindhoven in Holland Architektur. Er gehört zu den zentralen Vertretern der international hoch geachteten Vorarlberger Baukunst, realisierte in Vorarlberg mehrere Schlüsselbauten und ist einem breiten Publikum durch seine Architekturvermittlung, insbesondere 152 Fernsehbeiträge (Plus/Minus), im ORF bekannt. Mit seiner 1996 erfolgten Berufung zum Professor und Leiter der Architekturausbildung an die Kunstuniversität Linz verlegte er seinen Arbeitsmittelpunkt in den Osten Österreichs und im Zusammenhang mit universitären Realisierungsprojekten in die ärmsten Teile Asiens und Afrikas. Als planender Architekt, Architekturvermittler und Lehrer gehört Gnaiger zu den vielseitigsten seiner Zunft, er richtet sein Betrachtungsfeld weit über sein Fachgebiet aus und behandelt in Vorträgen und Essays allgemeine kulturelle und gesellschaftspolitische Themen.

Norbert Häfele (Obmann des Franz-Michael-Felder-Vereins)

ROLAND GNAIGER

Dem Nächsten und Konkreten zugewandt. Felder-Rede 2020, Schoppernau, am 2. Oktober 2020

Doren, im Coronasommer 2020

Wie lässt sich einer Gesellschaft begegnen, die sich weder durch Vernunft noch durch Argumente von ihrem Selbstvernichtungstrip abhalten lässt?

Liebe Freundinnen und Freunde Franz Michael Felders, verehrte Stützen und Förderinnen und Förderer von Vorarlbergs Kultur- und Geistesleben!

Zum Auftakt

Als mich Norbert Häfele zu dieser Rede einlud, konnte er nicht von meiner Felderkenntnis ausgehen. Somit fühle ich mich bezüglich der Ausrichtung meines Vortrags frei. Außer im Feld der Architektur ist es mir nicht mehr möglich, thematischen Wünschen zu folgen. Ich möchte mich den in mir drängenden Themen widmen und suche den Zusammenhang und die logische Reihung versprengter Gedanken. Gesprochenes und Geschriebenes bleiben bei mir im Umfang bescheiden. Damit bin ich versöhnt. Umso mehr, als ich ohnehin mutmaße: Wir schreiben zu viel und lesen zu viel, wir reden zu viel, wir konsumieren zu viel. Und … wir meinen und werten zu viel. Vor allem aber denken wir zu viel, zu viele jener Gedanken, die uns haben anstatt wir sie.

Franz Michael Felders Werk bin ich spät begegnet. Das hat mit einer Störung meiner Schulkarriere zu tun. Ich sage es ungeschönt: mit meinem Lehrer, einem Altnazi und gewalttätigen Schläger, der mich und andere prügelte, Neunjährige salutieren und marschieren ließ, mich mit einem Schultrauma und ohne Berechtigung fürs Gymnasium entließ. Mein Weg zum Architekten führte somit über die Hochbau-HTL in Krems an der Donau. Zum dortigen, überaus beherzten Deutschlehrer drang Felder nicht durch. Dank einer glücklichen Fügung stieß ich in Wien als Student der Kunstakademie auf Felders Bedeutung. Friedrich Achleitner erwähnte Felders Arbeit im Rahmen einer Vorlesung zur damals neuen Architektur Vorarlbergs besonders anerkennend. Das Prädikat „Weltliteratur“ im Zusammenhang mit Felder und Vorarlbergs vielversprechende Baukünstler verpassten meinem unterversorgten Vorarlberger Selbstwert einen kräftigen Auftrieb.

Das Aufmaß des Reichs

Franz Michael Felders Welt und Lebenswirklichkeit waren mir lange vor der Lektüre seines Werks vertraut. Die Kenntnis architektonischer Codes lässt einen aus Land-, Stadt- und Parzellenplänen Herrschaftsverhältnisse, Lebens- und Wirtschaftsformen „lesen“.

Es war ein Habsburger, der in weltweit einmaliger Weitsicht sein Reich zu Zwecken der Besteuerung vermessen ließ, einzigartige Plandokumente sowie das Fundament unseres Grundbuchs schuf. Das Aufmaß Vorarlbergs datiert exakt zu Felders Lebenszeit. Der Franziszeische Kataster ist eine historische Fundgrube der Sonderklasse und obendrein ein ästhetisches Vergnügen. Die verfertigten Mappenblätter eröffnen Rückschlüsse auf die Wirtschaftsform und Leistungsfähigkeit einzelner Bauern, auf ihre Vermögens- und Familienverhältnisse, auf die Stellung Einzelner in der Gemeinschaft, auf soziale Strukturen in Dorfgemeinschaften und deren Hierarchien. Beispielsweise verrät das Parzellengefüge das ganze Wohl und Weh des Erbrechts und damit wiederum viel von der Lebensfähigkeit der Gehöfte, die etwa durch Vorarlbergs Realteilung immer wieder auf eine harte Probe gestellt wurde. Ergänzt durch historische Stiche oder Fotografien erschließt der Franziszeische Kataster somit die Biographie ganzer Regionen.

Mit dem Leben und Wirtschaften am Land beginne ich mit einem mich ein Leben lang begleitenden und bewegenden Thema, das durch meine Rückkehr in den Vorderwälder Ort, an dem ich ab 1980 mit meiner Familie sechzehn Jahre lebte, erneuert mein Interesse gewinnt. Im Salzkammergut meiner Kindheit erlebte ich während der Sommerfrische in der Hauswirtschaft, im Gartenbau, in der Werkstatt und in den Dorfverhältnissen meiner Großeltern noch die Reste der alten Vielfalt, Fülle, Logik und Poesie eines Daseins am Land und dessen Einheit mit der Natur und dem Sein. Zudem erklärt das Privileg, den wenigen Architekten anzugehören, die durch die Planung von Landwirtschaftsbetrieben den Verhältnissen bäuerlicher Existenz nahekamen, mein Interesse an der Landwirtschaft und meine Suche nach einem erneuerten Ausgleich zwischen Nachhaltigkeit und Schönheit.

Landbau und Landleben

Mitte des 19. Jahrhunderts war – anders als in weiten Teilen der Monarchie – im Bregenzerwald die Zeit der Subsistenzwirtschaft1 schon weitgehend vorbei und die Selbstversorgung auf bescheidene Verhältnisse geschrumpft. In Felders Autobiographie kommen Kraut und Rüben gerade zweimal vor, Salat einmal, Kartoffeln oder Nüsse gar nicht. Darin liegt die wesentlichste Ursache für die Abhängigkeit von der Milchwirtschaft und die Übervorteilung durch Käsehändler. Ausbeutung war zwar als Begriff noch nicht geboren, aber die Arbeitsteilung war so weit vorangeschritten, dass dem Welthandel der Boden bereitet war. In seiner heutigen Form führt dieses System nicht mehr nur den einzelnen Landwirt, sondern den gesamten Stand an die Grenze seiner Existenz. Damit kommt eine jahrtausendealte Kreislaufwirtschaft zum Erliegen, verkümmern Biodiversität und Artenvielfalt, expandieren Abhängigkeiten und Monokulturen und wird der Landbau zu einem Hauptverursacher von Umweltschäden und Klimawandel, zum Auslöser des fatalen Attraktivitätsverlusts eines Lebens am Land, der Landflucht und letztlich zu einer globalen Bedrohung unser aller Existenz.

Heute sind Land und Landschaft die Gestalt gewordene Ignoranz ökologischer Zusammenhänge und ästhetischer Fühllosigkeit, das Ergebnis wirtschaftlicher Gier und verlorener Liebe zur Schöpfung.

Fotografien von Vorarlbergs Rheintal zum Ende des 19. Jahrhunderts lassen Ortschaften kaum erkennen, sie lagen versteckt in Obstbaumhainen. Während der großen Depression der 1930er Jahre reiste meine Großmutter in 22-stündiger Zugfahrt aus dem Salzkammergut ins Rheintal, um dort ihren Rucksack und zwei große Taschen mit Obst zu füllen.

In meinem Vorderwälder Ortsteil, von dessen zwanzig historisch belegbaren Höfen aktuell zwei eine Zukunft haben, wurden die letzten Obstbaumreste von den heurigen Februarstürmen weggefegt. Wohin, ließe sich fragen.

Ein Südtiroler Apfelbauer hat mir sein Leid geklagt. Derzeit erlöse er nur noch 10 bis 17 Cent für ein Kilo Golden Delicious. Sie wissen, dass wir für ein Kilo Äpfel teils das Dreißigfache bezahlen? Wo bleiben die Gewinne? Denn selbst ihre schäbigen Prozente haben die Bauern mit Düngemittel- und Maschinenproduzenten zu teilen. Der Handel forciert gewisse Sorten, und wenn sich deren Hype verbraucht, beginnt in Südtirol der Kahlschlag. Riesige Plantagen werden aktuell gerodet, um eine neue Sorte anzubauen. Sie können sich jetzt schon gefasst machen, in Kürze werden wir im Apfelregal des Supermarkts auf den Shinano Gold treffen. Die Unbill wurde neu gekleidet. Gemäß Bert Brechts Feststellung, dass der Wahnsinn unsichtbar wird, sobald sein Ausmaß groß genug ist, wurden die „Käsegrafen“ zahl-, namenlos und unsichtbar. Und je ferner die konkreten Produktionsverhältnisse unserem Blickfeld rücken, umso brutaler wird ihr Vergehen an Mensch und Natur.

Nachdem mein Sohn Lukas im Rahmen seines Zivildienstes in Ecuador die Lebensumstände dortiger Bauern mitverfolgte, drängt er auf den Kauf von Fair-trade-Bananen. Und nachdem er im Zuge von Dreharbeiten Schlachthöfe und fleischverarbeitende Betriebe von innen gesehen hat, isst er kein Fleisch mehr.

Das historische Landwirtschaftsmodell

Lassen Sie mich darstellen, was sich 1783 ein in den Alterssitz weichender Bauer im salzburgischen Flachgau zur alljährlichen Unterhaltssicherung vom Hofübernehmer ausbedungen hat:

„3 Metzen Waiz, 12 Metzen Korn, 2 Mäßl Bohnen, 2 Mäßl Hirse, 3 Pfund wohlgeläutertes Schmalz, im Sommer täglich ein Viertel kuhwarme Milch, wöchentlich 6 Eier, im Winter ein Kändel Milch und 3 Eier, dann den Bedarf an Kraut, Rüben, Salz, Schotten und Licht und auch den Vierten Teil vom Obst.“2

Je nach Region kamen Kartoffeln, Tees, Kräuter, Honig, Säfte, Most oder Wein und Schnäpse dazu.

Vier Tiergattungen, deren Produkte und Verwertung, verschiedenste Getreidearten, Gemüse- und Obstsorten, die Gewinnung von Brenn- und Bauholz, die Formen der Lagerung und Konservierung haben die ländliche Wirtschaftsweise und den Tageslauf bestimmt, die Zyklen und Rhythmen des Lebens und das Bild des Landes.

Bitte werfen Sie auch einen Blick auf die ästhetische Dimension solcher Verhältnisse, vergegenwärtigen Sie sich die Gestalt der Landschaft und der Dörfer als Folge solchen Haushaltens. Deren Vielfalt und Schönheit folgten nicht ästhetischen Konzepten und keinen schöngeistigen Wünschen. Kaum je in unserer Geschichte – und wenn, dann nur im Umfeld der Kunst, und auch in dieser selten erfolgreich – blieben Schönheit und Nutzen unverbunden. Unzählige Alleen, die einst die Gebiete der österreichisch-ungarischen Monarchie durchzogen, gehen auf Joseph II. zurück. Er verfügte, dass zur Marschverpflegung seiner Heere entlang von Landstraßen Obstbäume zu pflanzen sind. Regelmäßig schlenderte ich als Kind durch die Birnbaumallee, die das Haus meiner Großeltern mit dem Dorfzentrum verband. Sie wurde mir zur Lehrmeisterin von Raum und Poesie. Gründete ihre Schönheit gar auf einem militärstrategischen Motiv?

Immer wenn politische Funktionäre die Forderung „Grenzen dicht“ erheben, möchte ich lautstark mit einstimmen: Ja, aber wirklich dicht! Zu gerne möchte ich erleben, wie dieselben Politikvertreter ihrer Klientel erklären, wieso uns keine Bananen und Orangen aus Afrika erreichen, kein arabischer Treibstoff aus den Zapfsäulen rinnt, wieso nicht nur in Gaststätten keiner, sondern nirgendwo Tabak zu bekommen ist, und warum im Kaffeehaus selbst der „Kleine Schwarze“ des Landes verwiesen bleibt.

Sicherheitspolitik und Entfremdung

Der einstige Generalstabschef Othmar Commenda benannte als ranghöchster Verteidiger Österreichs in seinen Vorträgen wiederholt den mangelnden Selbstversorgungsgrad als größtes Sicherheitsrisiko. Für Vorarlberg kenne ich Zahlen: Während wir bei Milch und Käse weit überversorgt sind, produzieren wir gerade einmal 7 % des Bedarfs an Gemüse, 6 % an Kartoffeln und 1 % des konsumierten Getreides. Auch wenn diese Verhältnisse in anderen Teilen Österreichs weniger krass sind, im Falle eines versiegenden Treibstoffnachschubs wären die Unterschiede, angesichts der allgemeinen Unkenntnis und des fehlenden Handgeräts gering.

Wieso wird dieser Sachverhalt in allen politischen Debatten und Maßnahmen ausgespart? Wieso wird angesichts des gesellschaftlich prioritären Bedürfnisses nach Sicherheit das von Kriminellen, Terroristen und Asylanten gefährdete Eigentum und Leben als einzige Sicherheitsbedrohung suggeriert – selbst in den von Kriminaltaten am wenigsten betroffenen Regionen der Welt? Wieso stellen wir keine Verbindung her zwischen einer labilen Weltlage und dem Landbau als Sicherung unserer elementarsten Lebensgrundlage? Bedürfen wir der Autorität eines Generals oder müsste nicht ein wenig politische Bildung, ein Restbestand historischen Wissens ausreichen, um die diesbezüglichen Zusammenhänge zu verstehen?

Eigentlich meine ich, ein Blick ins Land sollte genügen. Aber ohne Liebe scheint biologisches Wissen vergebens, und ohne Begeisterung bleibt ästhetische Erziehung folgenlos. Ich fürchte, das Wesentlichste lernen wir in der Schule nicht. (Wäre das Phänomen Franz Michael Felder anders erklärbar?) Zumeist bleiben die Inhalte formaler Bildung abstrakt, zu selten verknüpfen sie uns mit der konkreten Welt.

Wäre es möglich, dass unsere Fremdheit gegenüber dem Land und seiner existenzsichernden Dimension mit etwas Größerem zu tun hat? Mit mangelnder Realitätswahrnehmung, mit fehlender „Bodenhaftung“, mit Ausweichmanövern vor dem „mit der Hand zu Greifenden“? Könnte Elias Canetti diese Wirklichkeitsverdrängung gemeint haben, als er formulierte:

„Zu den unheimlichsten Phänomenen menschlicher Geistesgeschichte gehört das Ausweichen vor dem Konkreten. Es besteht eine auffallende Tendenz, erst auf das Fernste loszugehen und alles zu übersehen, woran man sich in nächster Nähe unaufhörlich stößt. […] Die Situation der Menschheit heute, wie wir alle wissen, ist so ernst, dass wir uns dem Allernächsten und Konkretesten zuwenden müssen.“3

Nicht bei sich und nicht bei der Sache

Vor etwa 25 Jahren besuchte uns ein befreundetes Ehepaar inklusive Schwester beziehungsweise Schwägerin – eine US-amerikanische Ernährungsberaterin. Deren Aufgabe bestand in der Unterstützung junger Mütter bei der Versorgung ihrer Babys. Ihre Schilderungen haben mich sensibilisiert für einen bestürzenden Sachverhalt: Sie erzählte von Klientinnen, die Neugeborene ausschließlich mit Zucker füttern, und von solchen, die ihren Babys steinharte, in Öl angeröstete Nudeln kredenzen, weil sie nicht wissen, dass Nudeln gekocht werden müssen.

Die Grundform dieser Realitätsferne und Weltfremdheit ist die Unverbundenheit mit sich und der Welt, mit Orten, Bedingungen und Situationen, und ein mangelndes Wahrnehmen der eigenen Empfindung.

Als Architekt sind mir Menschen begegnet, die erst nach Bezug ihrer neuen Wohnung feststellen mussten, dass im Norden keine Sonne scheint. Als vor Jahren Übereckbadewannen hoch im Kurs waren, erzählte mir ein Wohnungsverkäufer, eine dieser Wannen im Verkaufsplan erspare ihm nervende Fragen und Diskussionen – wohl zu jenen Themen, die an Kernfragen des Wohnens gingen.

Dieses Nicht-bei-sich- und Nicht-bei-der-Sache-Sein, die Fremdheit gegenüber konkreten Situationen und Verhältnissen ist kein schichtspezifisches Phänomen, auch kein Ausdruck fehlender formaler Bildung. Nicht selten habe ich im akademischen Umfeld der geerdeten Intelligenz mancher Handwerker gedacht. Eine Studentin erzählte mir von ihrem Professor, einem hoch dekorierten Juristen und Inhaber eines renommierten Lehrstuhls. Dieser trug immer ein Thermometer mit sich, und dieses Messgerät befand über das Maß seiner Bekleidung, selbst im Hörsaal befahl es: Sakko aus!, oder: Sakko an!

Warum, wäre zu fragen, erscheint inmitten eines explizit philosophischen Traktats folgende Feststellung: „Bewegt man sich, so friert man nicht; verhält man sich ruhig, macht einem die Hitze nicht zu schaffen.“ Seit 2.600 Jahren ist das zu lesen und wurde gemäß der Legende von Lao Tse formuliert.4

Dass unser Temperaturempfinden auch von der Luftbewegung oder der Oberflächentemperatur der Umgebungswände, von Zugluft und Strahlungsenergie abhängt, muss man nicht wissen, würde man jedoch, hätte der Physikunterricht eine Verbindung zu unserem alltäglichen Leben hergestellt. Jedoch: Dass unser Maß an Schlaf oder Bewegung über unseren Wärmehaushalt mitentscheidet, sollte die Erfahrung lehren. Aber was zählt schon eigene Erfahrung, wenn der Blick auf ein Messinstrument oder die Mode körperliche Empfindung ersetzen und man wärmegestresst die Fenster aufreißt, selbst wenn es draußen um sechs Grad heißer ist. Irritiert müssen wir feststellen, dass Selbstwahrnehmung zu den aussterbenden Gütern zählt und Fachkompetenz nicht zu Selbst- und Weltverhältnis führt.

Es fehlt uns an Intelligenz der Verbundenheit mit dem Konkreten und Nächstliegenden. Es mangelt uns am Verstehen, aus dem Verständnis wächst. Wir leiden an unterentwickelter emotionaler Kompetenz und Empathie – auch der sogenannten Eliten.

Sinneseindrücke hinterlassen keine Eindrücke, Emotionen wabern unbeachtet durch unseren Empfindungsraum, auf kulturelle und religiöse Traditionen gestützt fristet unser Körper ein Dasein unter der Wahrnehmungsgrenze. Vor die konkrete Welt wurde die vorgestellte Welt gestellt. Vor zwanzig Jahren postulierte McDonald’s großflächig und quer durch den süddeutschen Raum: „Butterbrot ist tot.“ Und in eindrücklicher Hellsichtigkeit ließ Luigi Pirandello bereits vor über achtzig Jahren in seinem Stück Die Riesen vom Berge den Zauberer Cotrone sagen: „Zwar fehlt es uns am Nötigsten, aber von allem Überflüssigen haben wir mehr als reichlich.“5

Die Mode hat Entfremdung zur Marke gemacht und die Werbung hat sie zur Stilform erhoben. Und beide lassen uns unablässig wissen, dass wir nicht genügen. Als primäre Triebkraft des Wachstums höchstinstanzlich legitimiert, hebeln die psychologische Gerissenheit der Werbung und ihre dreiste Verheißung jedes Bildungsbemühen schamlos aus.

Erklärt sich daraus die erstaunliche Karriere der Wörter „Hier“ und „Jetzt“? Was sich aus östlicher Tradition ableitet, können wir durchaus mit uns kulturell vertrauteren Begriffen benennen: „Innehalten“ etwa. Geht es dabei doch gerade darum, den Kontakt mit dem Augenblick und dem Ort, die Bewusstheit für Zeit und Raum zurückzugewinnen.

Mein Freund C. T. liebt es, eine Begegnung mit der Frage zu eröffnen: „Was ist gerade in dir lebendig?“ Er erzählt mir, dass diese Nachfrage den Menschen als Zumutung erscheint, dass sie darauf verstört oder verärgert regieren. Ist es ungehörig, ernsthaftes Interesse am Befinden des Gegenübers zu bekunden? Ist deshalb ein interessiertes „Wie geht es dir?“ im schnellen „Wie geht’s?“ zu einer Phrase verkommen, von der sich niemand mehr wirklich angesprochen fühlt? Wir scheinen es vorzuziehen, von unserem Befinden gesteuert zu werden statt bewusst zu ihm vorzudringen.

Den Prototypus verflachten Innenlebens und eines sich selbst fremd gewordenen Menschen hat Stefan Zweig in der Figur des Baron Friedrich Michael von R… geschaffen, der bei sich bemerkt:

„[…] ich sagte es ja schon, dass ich auch Dinge, die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm. Auch zum Leiden hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte mir, dass dieser seelische Defekt außen so wenig wahrnehmbar war […], und sosehr ich mich auch anstrengte, etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu Gefühlen überreden wollte, es kam keine Antwort aus jener inneren Starre zurück.“6

Oft erstaunt mich, mit welcher Ausdauer sich mancher Intellektuelle an ohnehin jederzeit ersetzbaren Mächtigen, Verführern und Manipulatoren in Politik und Wirtschaft abarbeitet, an deren moralischer Halt- und Orientierungslosigkeit, ohne das grundlegendere Dilemma zu benennen.

Von mangelnder Anteilnahme sind auch die Struktur und das Bild unserer Städte und Dörfer geschunden. Wie wäre anders erklärbar, dass kein Schrei von uns ausgeht angesichts einer Hässlichkeit, zu der sich in unserer Geschichte kein Vergleich finden lässt? Monoton, fantasie- und endlos gleich ist die effizienzgetrimmte Stadtgestalt jedem Einklang mit Menschen überdrüssig. Sie lässt keinen Ort, kein Dorf und erst recht keine Stadt entstehen und gibt keiner Begegnung oder Gemeinschaft Struktur und Zuhause.

Zeitgleich hat sich der Landbau im Sog des Marktes von seiner Tradition verabschiedet, tatkräftig unterstützt auch von Bauern, ihren Beratern und Vertretern. Ohne Respekt und Sinn für die Kultur der Land- und Bodenpflege, befreit vom Blick auf die Folgen des eigenen Tuns, ohne Perspektive und Vision und ohne Mitgefühl gegenüber dem unermesslichen Leid in den Tierfabriken, hat der älteste und elementarste Wirtschaftszweig seine Bestimmung pervertiert.

Und doch, auch wenn mich über Jahre die Frage sorgte, wie meine Studierenden, ohne dem historischen Modell ländlicher Lebens- und Wirtschaftsweise persönlich je begegnet zu sein, neu eine nachhaltige Architektur und Lebensweise entwickeln können: Heute gärtnern viele von ihnen – selbst in beengten und urbanen Räumen –, sie bauen selbst an ihrem Zuhause und verweigern sich dem verordneten Leistungszwang. Das sinnliche, körperlich konkrete Tun und Erfahren erlebt Zuspruch. Landwirte und Handwerker erzählen mir von Studierenden und Akademikern, die sich um Praxisplätze bewerben. Selbst Hofübernahmen bleiben nicht mehr am Letzten hängen, zunehmend interessieren sich die am besten Ausgebildeten dafür. Und ebenso nimmt die Zahl der Bäuerinnen und Bauern zu, deren Eigenversorgung zum Auftakt ihrer wachsenden Produktpalette wird.

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ISBN:
9783706561198
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