Kitabı oxu: «Dode pissen nich mehr»

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Konrad Warden

Dode pissen nich mehr

Unheimliche Geschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Dode pissen nich mehr

Der Fall Kaiser

Sein letzter Kampf

Danach

Zu Spät

Pechvogel

Unheilbar Mensch

Shia

Imaginär

Impressum neobooks

Dode pissen nich mehr

Von Konrad Warden

Langsam torkelte er den schmalen dunklen Weg hinunter.

In einer Hand die Tüte mit seinen Habseligkeiten. In der anderen die Flasche mit dem billigen Schnaps, den er sich vorhin noch vom erbetteltem Geld gekauft hatte. Er blieb kurz stehen, nahm einen tiefen Zug aus der jetzt nur noch halbvollen Flasche und schlurfte dann weiter.

Müde blickte er sich um.

„Scheise, `s das düsder hier“, murmelte er sich in seinen schmutzigen Bart. Der Weg, eigentlich mehr ein Pfad, endete beim hinteren Tor des alten Friedhofs. Dorthin wollte er, und schläfrig blinzelte er in die Dunkelheit.

„`s so düsder wie `m Arsch von `ner ollen Ratte.“ Er lachte meckernd, zog sich die zu große Hose hoch und wankte weiter. Er stank, doch das nahm er nicht mehr wahr. Nur verschwommen sah er die versteckte Pforte und beeilte sich nun doch, in Erwartung eines netten und trockenen Schlafplatzes. Wie immer war diese nicht verschlossen. Wie immer quietschte sie laut beim Öffnen und vorsichtig blickte er sich um.

„Keener da“, lallte er vergnügt und fiel dann fast durch sie hindurch.

„Imma schön wieda su machn“, krähte er weiter und schloss die eiserne Pforte wieder. Er hatte die Flasche dabei so geschüttelt, dass ihm der Schnaps dabei über die Hand lief. Er leckte diesen wie nebenbei ab.

„Niggs verschwenden“, murmelte er und taumelte dann zwischen den alten Grabsteinen durch. Diese ragten wie die alten Finger einer grotesken Hand aus der Erde und nur mit Mühe fand er seinen Weg. Der Mond spendete ihm dabei noch etwas Licht und obwohl der Tag regnerisch und kühl war, hatte es am Abend aufgeklart. Er war fast durchnässt, fror aber nicht. Woher auch, wenn ihn der Alkohol doch so schön von innen wärmte. Glucksend setzte er die Flasche wieder an.

„Komm, mein Schads, suchen wir uns `n nettes Plätzchen.“

Er hatte hier schon viele Nächte verbracht und hielt diesen Platz immer geheim. Schon zu viele Male war er morgens mit brummendem Schädel erwacht, weil ihm des Nachts einer seiner Saufkumpane einen über die Mütze gebraten und beklaut hatte. Nein, nein, dies hier war sein Platz, schon immer gewesen und hier brauchte er keinen dieser alten Pisser zu fürchten. Er rülpste laut und gackerte danach wieder los.

„Des war mal `n Ding.“ Er erinnerte sich vage an etwas. Schreiende Gesichter tauchten in seinen Gedanken auf. Tote, dabei schreiende Gesichter und er meinte, leise Geräusche zu hören. Doch so schnell wie die Erinnerung kam, verging sie auch wieder und er schüttelte verwirrt den Kopf.

„Alde Geisder“, brummte er und stieß sich dabei die magere Hüfte an einem Grabstein.

„Du olles Scheisding“, fluchte er nun und rieb sich die schmerzende Stelle. Mit vom Alkohol wässrigen Blick suchte er die Dunkelheit ab, bis er das große Mausoleum entdeckte. Halb verfallen und trübe im Mondlicht schimmernd, erhob es sich wie ein schlafender Dinosaurier. Glücklich wankte er darauf zu.

Dies hier war ein Ort den er schon seit Kindertagen kannte, und auch in seiner Jugend hatte er hier viel Zeit verbracht. Womit, das wusste er nicht mehr, dass lag im Dunst seines über Jahre dauernden Säuferlebens verborgen. Aber sein Gefühl zu diesem Ort war gut, also musste sein früheres Erleben hier auch gut gewesen sein.

Das kleine zierliche Tor, welches das Mausoleum eigentlich verschlossen halten sollte, hing nur noch leise schaukelnd in den Angeln. Auch die rotweißen Bänder, die Unbefugte von einem betreten abhalten sollten, flatterten schon lange abgerissen im Wind. Wankend trat er ein. Durch das halbverfallene Dach leuchtete hell der Mond und den abgesackten Boden bedeckte nur eine Schicht trockenen Laubes. Hinten in einer Ecke war sein Platz und selbst wenn es jetzt noch regnen sollte, blieb es dort doch schön trocken. Er schlurfte eilig hin und das Laub raschelte zu seinen Füßen. Grunzend setzte er sich.

„Salud“, prostete er den Wänden zu, in denen die Fächer mit den Überresten der längst Verstorbenen lagen. Er hatte keine Angst vor Toten, woher auch, diese konnten ihm doch nix mehr tun. Wenn er da aber an die anderen Jammerlappen dachte?

„Was für Deppn, habn Schiss vor `ne paar Dode.“ Er nahm noch einen großen Schluck, stellte die Flasche beiseite und zog dann aus seiner Tüte seine alte, löchrige Decke hervor.

„Dode pissen nich mehr“, und grinsend legte er sich nieder. Die schmuddelige Decke über sich ziehend, blinzelte er müde ins helle Mondlicht.

„Nö, die pissen echt nich mehr“, murmelte er noch und schlief dann langsam ein.

Er merkte nicht den Ruck, der wenig später den Boden unter ihm erschütterte. Sein trunkener Körper lag noch in tiefem Schlaf, als der durchweichte Boden unter ihm plötzlich einbrach und er in die Tiefe rutschte. Erst jetzt schreckte er hoch und seine volle Blase entleerte sich spontan. Nach knapp fünf Metern war die Rutschpartie beendet und unangenehm hart schlug er auf.

„Wass`n des für`n Scheis?“ Fluchte er benommen, und blickte sich übellaunig um. Durch das Loch in der Decke fiel nur noch wenig Mondlicht und Erde rieselte leise hinter ihm herunter. Müde suchend fummelte er in seinem alten Mantel nach seinem Feuerzeug. Schnippend ließ er es aufflammen und blickte sich fragend um. Vom flackernden Schein erhellt sah er müde in eine kleine Kammer. Gemauerte Wände. Viel Staub und Dreck und so dunkel, wie für ihn nur der Anus eines speziellen Nagers sein konnte. Langsam versuchte er aufzustehen, doch gelang ihm dies erst beim dritten Versuch. Torkelnd trat er tiefer hinein. An der hinteren Wand erblickte er im Dämmerlicht viele alte Knochen. Wie hingeworfen lagen hier dunkle Skelette. Die fast schwarzen Gebeine waren völlig durcheinandergeworfen, als wäre dies der makabre Spielplatz eines Kindes. Doch viele der ewig grinsenden Schädel waren abgetrennt. Diese lagen säuberlich aufgeschichtet auf einem Haufen etwas Abseits und blickten mit ihren leeren Augenhöhlen in seine Richtung. Wieder durchzuckte seinen müden Geist eine ferne Erinnerung und er wusste, dass es seine Art war, etwas so aufzuschichten und zu sortieren. Sein Feuerzeug verbrannte ihm die Finger und er ließ es fluchend fallen. Unbehaglich ging er wieder zum Loch zurück.

„Was`n Scheis, wa?!“ Und wieder meinte er, dass sich dunkle Bilder in seinen vom Alkohol berauschten Geist schlichen. Gesichter sah er. Panische, ängstliche Gesichter. Doch wieder verschwanden diese wie Nebel in den Tiefen seines verwirrten Geistes. So, wie er sie einst vergessen hatte, stahlen sie sich nun auch wieder davon.

„Scheis druff“, fluchte er böse, „ich will pennen und Dode pissen nich mehr,“ damit rollte er sich schräg unter dem Loch zusammen und zog wieder seine alte Decke über sich.

Später in der Nacht, als er wieder fest schlief, sich herumwarf und von grauenhaften Dingen träumte, erschütterte noch einmal ein fester Ruck den vom Regen durchfeuchteten Boden. Das Mausoleum senkte sich knirschend und deren alte Mauern gaben nun entgültig ihrer Last nach. Sie begruben polternd den alten Schläfer tief unter sich, wie dieser hier einst seine Greul begraben hatte.

Der Fall Kaiser

Andrea fuhr durch den dichten Regen.

Als sie aufgebrochen war, um zu Kaisers zu fahren, war es zwar bewölkt, aber nur leicht am Regnen. Doch jetzt schüttete es wie aus allen Kübeln und wenn sie einen Blick auf die Landschaft erhaschen wollte, blickte sie nur auf graue Regenschleier. Das Wuppwupp ihrer Scheibenwischer wirkte auf sie beruhigend, ebenso wie das gleichmäßige Rauschen auf dem Wagendach. Sie strich ihr langes Haar aus ihrem nicht unattraktiven Gesicht, und blickte kurz neben sich, um sich noch einmal davon zu überzeugen, dass die Mappe auf dem Beifahrersitz noch trocken und intakt war.

Sie durfte sich keine Patzer erlauben, war dies doch ihr erster Auftrag, und als Neue im Team hatte sie es so schon nicht leicht. Grade von der Uni und schon ins kalte Wasser gestoßen. Doch sie hatte im Psychologie-Studium eifrig gelernt, und war davon überzeugt, diesem Fall gewachsen zu sein.

Ihre erste Familie hieß Kaiser, lebte etwas außerhalb der Stadt, und die Eltern betrieben einen landwirtschaftlichen Hof. Hauptsächlich Kälbermast, wie in ihren Unterlagen stand. Sie waren bis dato noch nicht auffällig geworden, doch nun hatten Nachbarn die Eltern Kaiser beim Jugendamt gemeldet. Da die Beamten des Jugendamtes selbst nicht jeder Meldung nachgingen, beauftragten sie den Verein, für den Andrea seit kurzem tätig war. Robert, ihr Vorgesetzter, hatte ihr erst gestern früh die spärlichen Unterlagen gereicht.

„Hier“, hatte er gegrinst, „dein erster Fall.“

Andrea war erstaunt gewesen, hatte sich danach aber sehr über sein Vertrauen gefreut.

„Kaiser“, erzählte er ihr noch, „leben außerhalb. Ersteindruck, keine Analyse. Mach dir ein Bild, schreibe einen Bericht fürs Amt, und dann sehen wir weiter.“

Sie hatte sich glücklich bedankt, kurz in den dünnen Ordner geschaut, und danach bei Kaisers angerufen.

Hartmut Kaiser war ruhig, fast stoisch am Telefon, und die Nachricht von ihrem Erscheinen schien ihn auch nicht sonderlich aus der Fassung zu bringen. So vereinbarte sie für heute Nachmittag einen Besuchstermin, um sich einen ersten Eindruck machen zu können.

In der dünnen Mappe standen alltägliche Dinge, die Kaisers Nachbarn beobachtet und dennoch alarmiert hatten. Und sie ging davon aus, dass hier wohl übertrieben wurde, doch mussten sie jedem Hinweis nachgehen. Vielleicht konnte ja mehr dahinterstecken, als nur eine bloße Vernachlässigung der drei Kinder.

Familie Kaiser bestand aus Hartmut und Angela Kaiser, beide in den Dreißigern, Frank, zehn, Tom, acht und Marie, sechs. Laut ihren Unterlagen soll der Hof gut in Schuss sein, und auch die Eltern seien, laut der Nachbarn, nette und umgängliche Leute. Nur die Kinder wären vom Verhalten her wohl sehr auffällig, und hier sollte sie einmal schauen, ob dies nun Tatsache, oder bloßer Nachbarschaftskrieg sei.

Zweifelnd blickte Andrea aus dem Fenster und hoffe, dass sie sich auf Grund des starken Regens nicht allzu sehr verspäten würde. Doch dieser ließ nun langsam nach, und als sie schließlich auf den großen Hof bog, nieselte es nur noch. Sie hatte sich bloß zweimal verfahren, doch dank ihrer Straßenkarte lag sie nur ganze zehn Minuten hinter dem vereinbarten Termin.

Der grüne Familienwagen der Kaisers war etwas abseits geparkt, so suchte sie sich einen Platz neben dem großen Traktor. Stellte den Motor ihres Wagens aus, griff sich die Mappe und stieg aus. Die grauen Wolken über ihr drängten sich wie eine Decke hinunter, es tropfte überall, und sie wunderte sich über die Stille hier. Wo blieb der, immer vorhandene, brüllend auf sie losstürzende Hofhund? Vorsichtig, und in Erwartung eben diesen, blickte sie sich um. Der Hof war sehr sauber und aufgeräumt. Die großen Gebäude gepflegt und hell gekalkt, und sie war überrascht. Das hatte sie nun nicht erwartet. Sie war selbst fast auf dem Lande groß geworden, und kannte Höfe zur Genüge, doch dieser war ein Mercedes unter lauten Fiats. Eine Scheune und ein großer Stall lagen zu ihrer Rechten, das Haupthaus zu ihrer Linken, und sie waren wie ein unterbrochenes U angeordnet. Sie ging langsam über den Hof und blickte sich fragend um. Doch nur einige Hühner scharrten träge im Misthaufen, der schräg hinter dem großen Stall hervor lugte. Dann war Familie Kaiser sicher im Wohnhaus und wartete dort auf sie. Sie wandte sich dem Haus zu und ging zur Eingangstür.

Das Namensschild erzählte jedem, dass hier die glücklichen Kaisers lebten, und sie schellte einmal kurz. Langsam wurde ihr kalt, und fröstelnd zog sie ihre Jacke enger. Es nieselte immer noch. Nichts rührte sich. Sie schellte noch einmal und lauschte nach Geräuschen. Doch wieder blieb alles still. Andrea stöhnte einmal auf, oh man, sollte man sie gefoppt haben. Oh bitte, nicht gleich beim ersten Fall, das wäre dann die Blamage schlechthin. Sie schellte noch einmal, und bemerkte erst beim Wegdrehen, das die Tür nur angelehnt war. Erstaunt blieb sie stehen, überlegte und drückte dann vorsichtig die Tür auf.

„Herr Kaiser?“ Rief sie ins stille Innere des Hauses. Der Flur lag verlassen vor ihr.

„Hallo?“ Langsam trat sie ein und blickte sich vorsichtig um. Immer in Erwartung, dass plötzlich jemand vor ihr stünde.

„Ich bin Frau Reimers, wir hatten einen Termin vereinbart.“

Das Haus war geschmackvoll, und recht Antiquar eingerichtet. Die Wände mit dunklem Holz vertäfelt, und überall blitze und blinkte es vor Sauberkeit und Ordnung. Langsam ging Andrea durch das große Wohnhaus und blickte dabei kurz in jedes der unteren Zimmer, doch nirgends eine Spur der Bewohner. Verwirrt erreichte sie wieder die Eingangstür und beschloss, die Kaisers in den Stallungen zu suchen. Vielleicht war ja etwas geschehen, was diese dortbleiben ließ. Doch der Gedanke, dass sie auf den Arm genommen wurde, spukte immer noch durch ihren Kopf. Sie drehte sich um... und erschrak bis ins Mark.

Ein hübscher blonder Junge stand in Regenkleidung ruhig hinter ihr, und hatte wohl nur darauf gewartet, dass sie ihn bemerken würde. Seine hellen blauen Augen blickten sie neugierig und ohne scheu an, und dann lächelte er, als würde die Sonne aufgehen. Andrea fühlte sich sofort zu ihm hingezogen.

„Bist du der Tom?“ Fragte sie und ging dabei leicht in die Knie. Denn sollte er es sein, war er klein für sein Alter. Sie streckte ihm ihre Hand zur Begrüßung entgegen.

„Ja, und wer bist du?“ Wollte Tom neugierig wissen, und schüttelte feierlich ihre Hand.

„Ich bin die Andrea“, antwortete sie und erntete darauf ein strahlendes Lächeln von ihm. Dieser Junge war etwas Besonderes, dass spürte sie sofort, ein richtiger kleiner Sympathieträger.

„Weißt du, wo deine Eltern und Geschwister sind?“

„Nicht mehr da“, sagte Tom und in seinen hellen Augen blitzte kurz Verwirrung.

„Kommen sie denn bald wieder?“ Wollte Andrea erstaunt wissen, doch Tom zuckte jetzt nur mit den Schultern. Sein Anorak glänzte feucht, seine Jeans waren fast durchnässt, und die Gummistiefel starrten vor nassem Schlamm.

„Mist“, murmelte Andrea, „weißt du, wo sie hin sind?“

Wieder erntete sie nur ein Achselzucken, und dann nahm der Junge sie plötzlich an die Hand.

„Komm, ich zeige dir mein Pony.“

Er zog sie lachend hinter sich her und hinaus in den feinen Nieselregen, der immer noch vom dunkler werdenden Himmel fiel. So überrascht Andrea vom Anblick des Hofes auch gewesen sein mochte, dies hier gefiel ihr überhaupt nicht. Wie konnten seine Eltern ihn einfach hier allein lassen. Einfach verschwinden, wie ging denn so was. Also, allein das ließ schon vermuten, dass hier mehr hinter der schmucken Fassade lauerte, als anfänglich sichtbar. Dennoch musste sie lachen, als Tom sie eifrig mit sich zog, und sie so wenig später ein Gatter erreichten, in dem sein schmutzig weißes Pony im dunklem Schlamm lag.

„Das ist Mirabell“, meinte Tom und deutete dabei zärtlich lächelnd auf sein schlafendes Tier, das etwas entfernt von ihnen auf dem Bauch lag.

„Na“, sagte Andrea grinsend, „das ist aber mal ein wirklich schönes Pony, dass du da hast.“ Tom strahlte sie wieder mit diesem entwaffnenden Lachen an.

„Ja, ne? Ich reite es sogar, willst du mal sehen?“

Doch Andrea hatte nicht richtig zugehört. Sie starrte mit wachsender Erkenntnis zum Pony hinüber, welches sich überhaupt nicht rührte.

„Nein, Tom, nicht jetzt, lassen wir es einfach schlafen, ja?“ Sagte sie jetzt wie nebenbei, und blickte weiter auf das reglose, zottige Tier, das dort im leichten Regen lag. Das dieses auf der anderen Seite eine große Fleischwunde hatte, an der es erst vor kurzem jämmerlich verblutet war, konnten beide nicht sehen.

Andrea schauderte dennoch etwas. Das musste sie dem Jungen unbedingt ersparen.

Mein Gott, das arme Kind. Erst ganz allein zu Hause, und nun auch noch sein Pony tot. Wo, zum Henker, waren seine Eltern. So etwas war einfach verantwortungslos. Na, wenn die heim kamen, würde sie denen aber gewaltig den Marsch blasen, das schwor sie sich. Von einer Meldung beim Jugendamt mal ganz zu schweigen. Doch Andrea verbiss sich ihren Ärger, und blickte lächelnd zu Tom hinunter, der immer noch verträumt sein Pony betrachtete.

„Komm, wir gehen jetzt ins Haus und warten da zusammen auf deine Eltern“, rief sie übertrieben vergnügt, und zog ihn fort vom toten Tier. Tom ging fröhlich schnatternd mit ihr, und erzählte ihr auf dem Rückweg zum Haus viel über seine Familie.

Seine Eltern waren für ihn ganz in Ordnung, hatten aber immer viel zu wenig Zeit. Aber seine Geschwister, die mochte er nicht. Der Frank würde ihn immer nur necken und ärgern, und Marie, auf die er immer Aufpassen musste, war ihm eine Qual.

Andrea hörte sehr aufmerksam zu, nickte oft und unterbrach ihn nur selten. So erfuhr sie mehr, als ihr lieb war. Sie erreichten schließlich das leere Haus. Andrea half ihm beim Umziehen, machte ihm Brote und sich selbst einen heißen Tee. Rief noch kurz ihre Kollegen wie Familie an, damit diese über ihr Wegbleiben Bescheid wussten und setzte sich dann zu ihm in die Küche.

Hier verbrachten sie die nächsten Stunden, redeten, lachten und spielten Spiele, während sie auf Toms Familie warteten. Andrea hatte Mühe ihre Wut auf die Kaisers zu beherrschen, und konzentrierte sich statt dessen nur noch auf Tom. Und dieser wickelte sie mit seinem natürlichen Charme um den kleinen Finger. Intelligent stellte er Fragen nach ihrem da sein, erzählte von der Schule und seinen Freunden. Schwärmte von seinem Pony, dass es Andrea wieder schwer ums Herz wurde, und plapperte vergnügt weiter. Dabei blickten beide oft in die zunehmende Dunkelheit hinter dem Küchenfenster, die sich draußen wie eine Decke über das weite Land legte. Heller Nebel stieg von den Weiden auf, und tauchte alles in ein gespenstisches Licht. Andrea wurde langsam richtig unruhig, und auch Tom erschien ihr stündlich immer hibbeliger zu werden. Sicher vermisste er seine Familie, und Andrea bemühte sich, ihn etwas abgelenkt zu bekommen. Dennoch wollte sie bald die Nachbarn und die Polizei über das Verschwinden der restlichen Kaiser-Familie informieren. Egal, ob die nur mal eben wohin waren, und sie sich so der Lächerlichkeit preisgab, so ging es zumindest nicht.

Doch gegen zwanzig Uhr, als sie grade Telefonieren wollte, lauschte Tom plötzlich auf.

„Hast du etwas gehört?“ Fragte Andrea ihn ruhig, denn sie selbst meinte, nichts vernommen zu haben.

„Ja“, antwortete Tom nur, schob seinen Stuhl eilig zurück und stand auf. Er rannte in den Flur, schlüpfte in seine Gummistiefel, griff sich seine Jacke und verschwand durch die Tür in die Dunkelheit dahinter. Andrea hatte grade erst begriffen, als er schon fort war. Sie erhob sich und überlegte schon die Worte, die sie seinen Eltern entgegenschleudern wollte und wartete im Flur. Doch nichts geschah. Die offene Tür schwang leise im rauschenden Wind hin und her, und die Finsternis dahinter blieb vollkommen. Kein Licht zerriss sie, keine Schritte oder Gespräche waren zu hören, nichts.

Langsam trat sie zur Tür und blickte hinaus.

Nichts. Der Hof lag still und verlassen vor ihr, und sie fragte sich, was Tom wohl durch den Wind gehört hatte, dass er so eilig davongelaufen war. An der Garderobe hing eine große Taschenlampe, und Andrea ergriff diese. Sie zog ihre Jacke an, prüfte dabei sorgfältig ob die Lampe ging, und trat hinaus in die jetzt schneidende Kälte. Wieder fröstelte sie, aber mehr wegen der Situation, als wegen des Windes. Hier war nichts, absolut nichts. Und langsam stahl sich etwas Angst in ihre Gedanken. Doch sie schob diese energisch beiseite und ging mit schwankendem Lichtstrahl langsam und suchend über den Hof.

Ein leises Geräusch, als würde etwas im Wind sachte gegen eine Wand schlagen, ließ sie aufhorchen. Hatte Tom das gehört? Gott, was musste der Junge für ein Gehör besitzen. Sie ging dem leisen Geräusch nach und erreichte so die große Scheune. Hier wurde es etwas lauter, und sie zögerte. Was war das nur?

„Tom?“ Rief sie hinein, „bist du hier?“

Sie erhielt keine Antwort.

Überlegend trat sie ein, und ließ ihren Lichtstrahl über den staubigen, mit dunklen Flecken übersäten Boden wandern. Ein komischer Geruch lag in der Luft, und sie brauchte etwas, um diesen als Maschinenöl zu erkennen. Damit waren auch die Flecken erklärt. Doch noch etwas roch ziemlich intensiv, nur konnte sie diesen erst nicht richtig erfassen. Langsam ging sie tiefer in die stockdunkle Scheune.

Bis ihr Lichtstrahl den Hund fand. Ein großes, gelbes Tier, das mit dem Rücken zu ihr an einer Wand lag. Sie trat ungläubig näher, und wandte sich dann würgend ab. Sie hatte Blut gerochen, dass wusste Andrea nun, denn der Bauch des Hundes war aufgerissen, und dessen blutig-blaue Eingeweide traten hervor. Ihr Herz raste vor Schreck.

„Gott“, stöhnte sie, und schluckte zweimal hart, um sich nicht erbrechen zu müssen. Doch der Druck in ihrem Hals blieb. Jetzt wusste sie zumindest, warum sie hier kein Wachhund begrüßt hatte. Was war nur mit diesem armen Tier geschehen, das hier selbst im Tode noch die Wand anfletschte. Und erst Tom, mein Gott. Was musste der kleine Kerl alles erlebt haben. Er hatte den toten Hund sicher schon lange vor ihr entdeckt, und dann auch noch sein armes Pony. Wobei sie sich noch fragte, ob dieses wohl eines natürlichen Todes gestorben sei. Angesichts des Hundes erschien ihr das sehr fraglich. Gott, welcher Sadist tat so etwas nur und nahm einem Kind den Hund und das Pferd. Tom tat ihr so unendlich leid.

Na, aber zum Glück war sie ja da, und konnte sich so lange um ihn kümmern, und ihn im Zweifelsfall auch beschützen, bis seine Eltern wieder hier waren. Sie überlegte, ob deren verschwinden wohl etwas mit dem gewaltsamen Ende der Tiere zu tun hatte, und beschloss, ihn nachher mal vorsichtig danach zu fragen. Bei all diesen Gedanken trat sie langsam tiefer in die drückende Finsternis.

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80 səh. 1 illustrasiya
ISBN:
9783742778505
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Bookwire
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