Anna Karenina | Krieg und Frieden

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12

Die Ladung war festgeschnürt. Iwan sprang herunter und führte das tüchtige, wohlgenährte Pferd am Zügel. Die junge Frau warf die Harke oben auf die Fuhre hinauf und ging, rüstig ausschreitend und mit den Armen schlenkernd, zu den andern Weibern hin, die sich versammelten, um ihr Reigenlied zu singen. Iwan fuhr von der Wiese auf den Weg und rückte in die Reihe der übrigen Heuwagen ein. Die Weiber, mit den Harken auf der Schulter, in hell leuchtenden, bunten Kleidern, gingen hinter den Wagen her und schwatzten laut und lustig miteinander. Eine derbe, naturwüchsige Weiberstimme stimmte das Lied an und sang eine Strophe vor; dann fielen auf einmal gleichzeitig etwa fünfzig verschiedene, teils derbe, teils feine, gesunde Stimmen ein und sangen dasselbe Lied noch einmal von Anfang.

Die singenden Weiber kamen Ljewin näher, und er hatte eine Empfindung, als ob eine dichte Wolke von laut schallender Fröhlichkeit sich auf ihn zu bewege. Die Wolke erreichte ihn und umfing ihn, und der Heuhaufen, auf dem er lag, und die anderen Heuhaufen und die Fuhren und die ganze Wiese mitsamt den fernen Feldern, alles drehte und wiegte sich im Takte dieses kunstlosen, ausgelassen lustigen Liedes, das von Schreien, Pfeifen und Jauchzen begleitet wurde. In Ljewin regte sich ordentlich der Neid auf diese gesunde Fröhlichkeit, und er hätte sich am liebsten an diesem Ausbruche von Lebenslust mit beteiligt. Aber das ging selbstverständlich nicht, und er mußte da liegenbleiben und sich darauf beschränken, zuzusehen und zuzuhören. Als das singende Völkchen so weit weg war, daß er es nicht mehr sah und nicht mehr hörte, da überkam ihn ein drückendes Gefühl des Grames über sein einsames Dasein, über seine körperliche Untätigkeit und über die feindselige Stellung, die er dieser Welt gegenüber einnahm.

Einige Bauern gerade von denen, die am allerhartnäckigsten mit ihm um das Heu gestritten hatten, also Leute, die nach ihrer Behauptung von ihm benachteiligt worden waren oder vielmehr ihn hatten betrügen wollen – ebendiese Bauern grüßten ihn jetzt ganz vergnügt; sie hegten offenbar keinen Groll gegen ihn (wozu sie ja auch eigentlich keinen Anlaß hatten), verspürten aber augenscheinlich auch keine Reue, ja, sie hatten sichtlich überhaupt keine Erinnerung mehr daran, daß sie ihn hatten betrügen wollen. All das war in dem Meere der frohen, gemeinsamen Arbeit untergegangen. Gott hatte den Tag gegeben, Gott hatte die Kräfte gegeben; und den Tag und die Kräfte hatten sie der Arbeit gewidmet und in der Arbeit selbst ihren Lohn gefunden. Für wen die Arbeit stattfand, welches die Früchte der Arbeit sein würden, das war Nebensache, das war von keiner Bedeutung.

Ljewin hatte oft mit Bewunderung auf dieses Leben hingeblickt und oft ein Gefühl des Neides gegen die Menschen empfunden, die dieses Leben führten; aber heute zum ersten Male, namentlich auch unter dem Eindruck, den Iwan Parmenows hübsches Verhältnis zu seiner Frau auf ihn gemacht hatte, heute zum ersten Male kam ihm klar und deutlich der Gedanke, daß es ja nur von ihm abhänge, jenes drückende, müßige, gekünstelte, selbstsüchtige Leben, das er jetzt führte, aufzugeben und dafür dieses arbeitsame, reine, dem Gemeinwohle dienende, wundervolle Leben einzutauschen.

Der Alte, der mit ihm auf dem Heuhaufen gesessen hatte, war schon längst nach Hause gegangen; das Arbeitervolk hatte sich geteilt. Die Näherwohnenden waren nach Hause gefahren; die Fernerwohnenden trafen auf der Wiese ihre Anstalten zum Abendessen und zum Nachtlager. Ljewin blieb, von ihnen unbemerkt, auf dem Heuhaufen liegen und fuhr fort, nach ihnen hinzuschauen und hinzuhören und seinen Gedanken nachzuhängen. Die Leute, die zum Übernachten auf der Wiese geblieben waren, schliefen während der kurzen Sommernacht fast gar nicht. Zuerst, während des Abendessens, hörte Ljewin ihr allgemeines, lustiges Geplauder und Gelächter; dann folgten wie der Lieder und wieder Lachen.

Der ganze lange Arbeitstag hatte bei ihnen keine andere Wirkung hinterlassen, als daß er sie in die fröhlichste Stimmung versetzt hatte. Erst kurz vor der Morgenröte wurde alles still. Nur das nächtliche Quaken der unermüdlichen Frösche im Sumpfe war zu hören und das Schnauben der Pferde auf der Wiese in dem Nebel, der vor dem Anbruch des Tages aufsteigt. Ljewin ermunterte sich, erhob sich von seinem Heuhaufen, und ein Blick nach den Sternen zeigte ihm, daß die Nacht vergangen war.

›Was werde ich also tun? Und wie werde ich es tun?‹ sagte er zu sich selbst, in dem Bemühen, zu seinem eigenen Nutzen einen klaren Ausdruck für das zu finden, was er in dieser kurzen Nacht gedacht und empfunden hatte. Alle diese Gedanken und Empfindungen verteilten sich auf drei voneinander gesonderte Gedankengänge. Der erste betraf die Abkehr von seinem alten Leben und von seiner Bildung, die niemandem etwas nützte. Diese Abkehr gewährte ihm schon in der Vorstellung einen großen Genuß, und ihre Durchführung erschien ihm leicht und einfach. Die zweite Gruppe von Gedanken und Vorstellungen betraf das Leben, das er von nun an zu führen wünschte. Daß es ein schlichtes, reines, streng rechtliches Leben sein müsse, fühlte er mit vollster Klarheit, und er war überzeugt, daß er in ihm diejenige Befriedigung, Gemütsruhe und selbstbewußte Festigkeit finden werde, deren Mangel er jetzt so schmerzlich empfand. Sein dritter Gedankengang jedoch bezog sich auf die Frage, wie sich dieser Übergang vom alten zum neuen Leben bewerkstelligen lasse. Und hierüber vermochte er schlechterdings nicht zur Klarheit zu kommen. ›Ich muß heiraten. Ich muß eine Arbeit haben und einen äußeren Zwang zur Arbeit. Soll ich Pokrowskoje verlassen? Anderswo Land kaufen? Mich in eine Bauerngemeinde aufnehmen lassen? Ein Bauernmädchen heiraten? Wie soll ich es angreifen?‹ fragte er sich von neuem und fand darauf keine Antwort. ›Übrigens habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und bin daher jetzt nicht imstande, mir über solche Dinge klare Rechenschaft zu geben‹, sagte er zu sich. ›Darüber werde ich später schon ins klare kommen. Aber eins ist sicher: diese Nacht hat über mein Schicksal entschieden. Alle meine früheren Träumereien von der Gestaltung des Familienlebens sind töricht, sind nicht das Richtige‹, sagte er zu sich. ›Das läßt sich alles weit einfacher und besser ausführen ...‹

›Wie schön!‹ dachte er, als er auf einmal ein seltsames Gebilde von weißen Lämmerwölkchen erblickte, das, einer Perlmuttermuschel ähnlich, gerade über seinem Kopfe mitten am Himmel stand. ›Wie entzückend alles in dieser wundervollen Nacht ist! Wann hat sich nur diese Muschel gebildet? Ich habe doch noch eben erst zum Himmel hinaufgesehen, und da war an ihm nichts vorhanden als zwei weiße Streifen. Ja, ganz ebenso unvermerkt haben sich auch meine Lebensanschauungen geändert!‹

Er verließ die Wiese und schritt auf dem breiten Landwege dem Dorfe zu. Ein leichter Wind erhob sich, und der Himmel wurde grau und düster. Es kam jetzt die trübe Spanne Zeit, die gewöhnlich der Morgendämmerung und dem vollen Siege des Lichtes über die Finsternis vorangeht.

Vor Kälte sich ein wenig zusammenkrümmend, den Blick auf den Boden geheftet, schritt Ljewin hurtig aus. ›Was ist das? Da kommt jemand gefahren!‹ dachte er, als er Schellengeläute hörte, und hob den Kopf in die Höhe. Etwa noch vierzig Schritte von ihm entfernt kam ihm auf dem breiten, grasigen Fahrwege, auf dem er ging, ein vierspänniger Wagen entgegen, auf dem er mehrere Koffer erblickte. Die Deichselpferde drängten von den Geleisen nach der Deichsel zu; aber der geschickte Kutscher, der seitwärts auf dem Bocke saß, hielt die Deichsel zwischen den Geleisen, so daß die Räder auf den glatten Streifen liefen.

Weiter hatte Ljewin auf nichts geachtet und blickte nun zerstreut in den Wagen hinein, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wer da wohl gefahren kam.

In einer Ecke des Wagens schlief eine alte Dame; am Fenster aber saß ein junges Mädchen, das offenbar eben erst aufgewacht war und mit beiden Händen die Bänder eines weißen Häubchens angefaßt hielt. Hellen, sinnenden Blicks, ganz erfüllt von einer schönen, bunten, inneren Gedankenwelt, die Ljewin fremd war, schaute sie über ihn hinweg in die Morgenröte.

Gerade in dem Augenblicke, da diese Erscheinung bereits verschwand, blickten die treuherzigen Augen des jungen Mädchens ihn an. Sie erkannte ihn, und ein frohes Erstaunen leuchtete auf ihrem Gesichte auf.

Er konnte sich nicht irren. Solche Augen gab es nur einmal auf der Welt. Es gab auf der ganzen Welt nur ein Wesen, das imstande war, für ihn alles Licht und seinen gesamten Lebensinhalt in sich zusammenzudrängen. Das war sie. Das war Kitty. Er sagte sich sofort, daß sie auf der Fahrt von der Eisenbahnstation nach Jerguschowo begriffen sei. Und alles, was ihn in dieser schlaflosen Nacht so erregt hatte, alle die Entschlüsse, die er gefaßt hatte, das alles war in einem Nu verschwunden. Nur mit Widerwillen erinnerte er sich an seinen Gedanken, ein Bauernmädchen zu heiraten. Dort allein, in diesem Wagen, der sich schnell entfernte und eben nach der andern Seite des Weges hinüberfuhr, dort allein war für ihn die Möglichkeit einer Lösung seines Lebensrätsels, das in der letzten Zeit mit so peinvollem Druck auf ihm gelastet hatte.

Sie hatte nicht mehr aus dem Wagen herausgeschaut. Das Geräusch der Federn des Wagens war nicht mehr vernehmbar; kaum konnte Ljewin noch das Schellengeklingel hören. Hundegebell ließ ihn erkennen, daß der Wagen durch das Dorf fuhr – und nun waren wieder rings um ihn nur die menschenleeren Felder, vor ihm das Dorf, und er selbst, ein einsamer Fremdling, wanderte allein auf dem verwahrlosten, breiten Landwege dahin.

Er blickte zum Himmel hinauf, in der Hoffnung, dort noch jene Muschel wiederzufinden, die er mit solcher Freude betrachtet hatte und die ihm eine Art von Sinnbild seines Denkens und Empfindens in dieser Nacht gewesen war. Aber am Himmel war nichts zu sehen, was mit einer Muschel Ähnlichkeit gehabt hätte. Dort in der unerreichbaren Höhe war bereits eine geheimnisvolle Veränderung vorgegangen. Von der Muschel war keine Spur mehr vorhanden, sondern über die ganze eine Hälfte des Himmels breitete sich ein gleichmäßiger Teppich immer kleiner und kleiner werdender Lämmerwölkchen aus. Der Himmel war blau und hell geworden und antwortete auf seinen fragenden Blick ebenso freundlich, aber auch ebenso unnahbar wie vorher.

 

›Nein‹, sagte er sich, ›mag auch dieses einfache, arbeitsvolle Leben noch so schön sein, ich kann doch zu diesem Gedanken nicht zurückkehren. Sie liebe ich, sie!‹

13

Niemand außer den Allernächststehenden wußte, daß Alexei Alexandrowitsch, anscheinend ein so kühler Verstandesmensch, eine Schwäche hatte, die mit seinem ganzen sonstigen Wesen im Widerspruch zu stehen schien: er konnte es nicht ruhig mit anhören und mit ansehen, wenn ein Kind oder eine Frau weinte. Der Anblick von Tränen machte ihn verwirrt, und er verlor dann vollständig die Fähigkeit vernunftmäßiger Überlegung. Sein Subdirektor und sein Sekretär wußten das und warnten Bittstellerinnen, sie möchten unter keinen Umständen weinen, wenn sie nicht ihre ganze Sache verderben wollten. ›Er wird dann zornig und hört sie gar nicht weiter an‹, sagten sie zu solchen Damen. Und in der Tat bekundete sich in solchen Fällen die seelische Verstimmung, die bei Alexei Alexandrowitsch durch die Tränen hervorgerufen war, durch einen plötzlichen Zornesausbruch. ›Ich kann dabei nichts tun! Bitte, gehen Sie!‹ rief er in solchen Fällen gewöhnlich.

Als Anna auf der Heimfahrt vom Wettrennen ihm ihre Beziehungen zu Wronski aufgedeckt hatte und unmittelbar darauf das Gesicht in den Händen verbarg und in Tränen ausbrach, da fühlte Alexei Alexandrowitsch trotz des Ingrimms, der in seinem Herzen gegen sie aufwallte, doch gleichzeitig, daß wieder jene seelische Verwirrung über ihn kam, die Tränen stets bei ihm hervorriefen. Da er dies wußte und sich bewußt war, daß er in diesem Augenblicke nicht imstande sei, seine Gefühle in einer der Lage entsprechenden Weise zum Ausdruck zu bringen, so gab er sich Mühe, jede Lebensäußerung zurückzuhalten, und deshalb rührte er sich nicht und sah Anna nicht an. Und daher kam denn auch der sonderbare, leichenhafte Ausdruck seines Gesichtes, der Anna so betroffen machte.

Als sie bei dem Landhause angelangt waren, half er ihr beim Aussteigen aus dem Wagen, zwang sich dazu, mit gewohnter Höflichkeit von ihr Abschied zu nehmen, und sagte ihr einige Worte, durch die er sich in keiner Weise band: er sagte, er werde ihr am folgenden Tage seinen Entschluß mitteilen.

Die Worte seiner Frau, die seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten, hatten Alexei Alexandrowitschs Herz sich in furchtbarem Schmerze zusammenziehen lassen. Diesen Schmerz steigerte noch das durch ihre Tränen bei ihm hervorgerufene sonderbare Gefühl eines physischen Mitleids mit ihr. Aber als Alexei Alexandrowitsch im Wagen allein geblieben war, fühlte er zu seiner Verwunderung und Freude eine vollständige Befreiung sowohl von diesem Mitleid wie auch von den Zweifeln und den Qualen der Eifersucht, die ihn in der letzten Zeit gepeinigt hatten.

Er hatte eine ähnliche Empfindung wie jemand, der sich einen Zahn, der ihn lange geschmerzt hat, endlich hat ausziehen lassen. Nach einem furchtbaren Schmerze und nach einer Empfindung, als werde etwas ungeheuer Großes, größer als der Kopf selbst, aus seiner Kinnlade herausgerissen, fühlt der Patient, der an sein Glück noch gar nicht recht zu glauben wagt, auf einmal, daß das, was ihm so lange das Leben verbitterte und ihn an nichts anderes denken ließ, nicht mehr in seinem Munde vorhanden ist und daß er wieder leben und denken und sich wieder für andere Dinge, als immer nur für seinen Zahn, interessieren kann. Eine derartige Empfindung machte Alexei Alexandrowitsch durch. Der Schmerz war seltsam und furchtbar gewesen; aber jetzt war er vorbei; Alexei Alexandrowitsch fühlte, daß er wieder leben könne, ohne immer nur an seine Frau zu denken.

›Ein verworfenes Weib ohne Gefühl für Ehre und Anstand, ohne Herz, ohne Religion! Das habe ich immer gewußt und immer gesehen, obgleich ich aus Mitleid mit ihr mir Mühe gab, mich selbst zu täuschen‹, sagte er zu sich. Und er hatte wirklich die Vorstellung, daß er das immer gesehen habe; er erinnerte sich an kleine Vorfälle aus den früheren Zeiten der Ehe, die ihm damals nicht als etwas Schlimmes erschienen waren; jetzt aber bewiesen diese Vorfälle deutlich, daß sie von jeher ein grundschlechtes Weib gewesen war. ›Ich bin in einem Irrtum befangen gewesen, als ich mein Leben mit dem ihrigen verknüpfte; aber in meinem Irrtum liegt nichts moralisch Schlechtes, und daher kann ich nicht unglücklich sein. Nicht ich bin schuldig‹, sagte er zu sich, ›sondern sie. Aber ich habe mit ihr nichts mehr zu tun. Sie ist für mich nicht mehr vorhanden.‹

Was nun weiter mit ihr und dem Sohne geschehen werde, gegen den sich seine Gefühle ebenso wie gegen sie verwandelt hatten, das kümmerte ihn nicht mehr. Das einzige, was ihn jetzt beschäftigte, war die Frage, wie er auf die beste, anständigste, für ihn selbst bequemste und daher gerechteste Weise den Schmutz, mit dem sie ihn durch ihren Fall bespritzt habe, von sich abschütteln und dann seinen arbeitsvollen, ehrenhaften, der Menschheit nützlichen Lebensweg fortsetzen könne.

›Ich kann dadurch nicht unglücklich werden, daß ein verachtenswertes Weib ein Verbrechen begangen hat; es kommt nur darauf an, den besten Ausweg aus der schwierigen Lage zu finden, in die sie mich versetzt hat. Und ich werde ihn finden‹, sagte er zu sich, indem er die Stirn immer mehr in Falten zog. ›Ich bin nicht der erste und werde nicht der letzte sein.‹ Und ganz abgesehen von den aus der Weltgeschichte zu entnehmenden Beispielen, von Menelaus an, der durch die Schöne Helena damals allen wieder von neuem ins Gedächtnis zurückgerufen war, vergegenwärtigte Alexei Alexandrowitsch sich eine ganze Reihe von Fällen aus der Gegenwart, in denen Frauen aus den höchsten Gesellschaftskreisen ihren Männern untreu geworden waren. ›Darjalow, Poltawski, Fürst Karibanow, Graf Paskudin, Dram ... Ja, auch Dram, so ein ehrenhafter, tüchtiger Mann ... Semjonow, Tschagin, Sigonin‹, all diese betrogenen Ehemänner stellte Alexei Alexandrowitsch sich im Gedächtnis zusammen. ›Allerdings fällt auf diese Männer ein der gesunden Vernunft widerstreitendes ridicule; aber ich meinerseits habe darin nie etwas anderes als ein ihnen zugestoßenes Unglück gesehen und sie stets wegen eines solchen Unglücks bedauert‹, sagte Alexei Alexandrowitsch zu sich, wiewohl das der Wahrheit nicht entsprach und er Unglückliche dieser Art nie bedauert, sondern nur sich selbst in seiner Selbstachtung immer mehr gehoben gefühlt hatte, je mehr sich die Beispiele von Frauen häuften, die ihren Gatten die Treue brachen. ›Es ist das ein Unglück, das einen jeden treffen kann. Und dieses Unglück hat nun auch mich getroffen. Es handelt sich jetzt nur darum, wie man diese Lage am besten übersteht.‹ Und nun durchdachte er eingehend die verschiedenen Wege des Handelns, die Männer in derselben Lage wie er eingeschlagen hatten.

›Darjalow hat sich duelliert ...‹

Über das Duell Betrachtungen anzustellen, dazu hatte Alexei Alexandrowitsch, als er noch ein junger Mensch war, sich immer ganz besonders hingezogen gefühlt, weil er seinem ganzen Wesen nach ein furchtsamer Mensch war und dies auch recht wohl wußte. Nicht ohne Entsetzen vermochte er an eine auf ihn gerichtete Pistole zu denken und hatte nie in seinem Leben von irgendeiner Waffe Gebrauch gemacht. Diese Ängstlichkeit hatte ihn in seiner Jugend oft veranlaßt, an ein Duell zu denken und sich in eine Lage hineinzuversetzen, wo er gezwungen sein würde, sein Leben einer solchen Gefahr preiszugeben. Als er in seiner Laufbahn Erfolg gehabt und eine feste Stellung im Leben erlangt hatte, war diese Überlegung bei ihm lange Zeit in Vergessenheit geraten; aber doch war sie ihm immer noch so geläufig, daß sie auch jetzt noch ihren Platz behauptete; und die Besorgnis wegen seiner Feigheit erwies sich auch jetzt noch als so stark, daß Alexei Alexandrowitsch die Frage eines Duells lange von allen Seiten erwog und gleichsam liebkosend damit spielte, wiewohl er im voraus wußte, daß er sich in keinem Falle duellieren werde.

›Zweifellos ist bei uns die obere Gesellschaftsschicht noch so wenig zuvilisiert (anders als in England), daß sehr viele (und unter diesen vielen waren auch Männer, auf deren Meinung Alexei Alexandrowitsch besonderen Wert legte) dem Duell eine gute Seite abgewinnen; aber was für ein Erfolg kann durch ein Duell erzielt werden? Nehmen wir an, ich fordere ihn‹, fuhr Alexei Alexandrowitsch in seinen Überlegungen fort; aber als er sich nun lebhaft die Nacht vorstellte, die er nach der Forderung verleben würde, und dann die auf ihn gerichtete Pistole, da zuckte er zusammen und wurde sich klar darüber, daß er das nie tun werde – ›nehmen wir an, ich fordere ihn. Nehmen wir an, man leitet mich an‹, dachte er weiter, ›man stellt mich auf meinen Platz, ich drücke auf den Abzug‹, sagte er bei sich und machte die Augen zu, ›und es stellt sich heraus, daß ich ihn getötet habe‹, sagte Alexei Alexandrowitsch zu sich und schüttelte mit dem Kopfe, um diese törichten Gedanken zu verscheuchen. ›Welchen Sinn hat es, einen Menschen zu töten, um das eigene Verhältnis zu einer verbrecherischen Gattin und einem Sohn zu ordnen? Ich werde mir nachher ganz ebenso darüber schlüssig werden müssen, was ich mit ihr machen soll. Oder, was noch wahrscheinlicher ist, ja zweifellos eintreten wird, ich werde getötet oder verwundet. Ich, ein schuldloser Mensch, ein Opfer fremder Schlechtigkeit, werde getötet oder verwundet. Das ist noch sinnloser. Und damit noch nicht genug: eine Forderung von meiner Seite würde eine unehrenhafte Handlung sein. Als ob ich nicht voraus wüßte, daß meine Freunde es nie zu lassen werden, daß ich mich duelliere, es nie zulassen werden, daß ein Staatsmann, den Rußland braucht, sein Leben einer solchen Gefahr aussetze. Was würde also die Folge sein? Die Folge würde sein, daß es schiene, als hätte ich, vorauswissend, daß es nie zu einer wirklichen Gefahr kommen werde, mich durch diese Forderung nur mit einem falschen Ruhm umgeben wollen. Eine solche Handlungsweise ist nicht ehrenhaft, das ist eine Unwahrhaftigkeit, ein Versuch, andere und sich selbst zu täuschen. Ein Duell ist hier ganz ausgeschlossen, und niemand erwartet ein solches von mir. Meine Aufgabe besteht darin, meinen guten Ruf zu wahren, dessen ich zur ungehinderten Fortsetzung meiner amtlichen Tätigkeit bedarf.‹ Die amtliche Tätigkeit, die schon früher in Alexei Alexandrowitschs Augen eine große Bedeutung gehabt hatte, erschien ihm jetzt ganz besonders wichtig.

Nachdem er ein Duell erwogen und verworfen hatte, machte Alexei Alexandrowitsch nunmehr die Scheidung zum Gegenstande seines Nachdenkens, den zweiten Weg, für den einige jener Männer, deren er sich erinnerte, sich entschieden hatten. Aber indem er in seinem Gedächtnisse alle ihm bekannten Fälle von Ehescheidungen durchmusterte (es waren ihrer gerade in der höchsten, ihm wohlbekannten Gesellschaft recht viele), fand er auch nicht einen einzigen Fall, wo der Zweck bei der Scheidung der gewesen wäre, den er selbst im Auge hatte. In allen diesen Fällen hatte der Ehemann die treulose Gattin abgetreten oder verkauft, und gerade der Teil, der als der schuldige nicht das Recht gehabt hatte, eine neue Ehe einzugehen, hatte von der Scheidung Vorteil gehabt: er war in ein künstlich ausgeklügeltes, quasi gesetzliches Verhältnis zu einem quasi Gatten eingetreten. Und was seinen eigenen Fall anlangte, so sah Alexei Alexandrowitsch ein, daß eine gesetzliche Scheidung, das heißt eine solche, bei der einfach auf Verstoßung der Frau erkannt wurde, unmöglich sei. Er sah ein, daß die verwickelten Lebensbeziehungen, in denen er sich befand, die Anwendung solcher groben Beweismittel, wie sie das Gesetz zum Erweise der Schuld der Frau forderte, ausschlossen; er sah ein, daß die über feineren Ton geltenden Anschauungen die Anwendung dieser Beweismittel, auch wenn sie wirklich vorhanden waren, nicht zuließen und daß durch die Anwendung dieser Beweismittel er selbst in der Meinung der höheren Kreise mehr erniedrigt werden würde als seine Frau.

Der Versuch, eine Scheidung zu erlangen, konnte nur zu einem Skandalprozesse führen, der seinen Feinden eine erwünschte Gelegenheit gewesen wäre, um ihn zu verleumden und von seiner hohen Stellung in der Welt herabzuziehen. Sein Hauptzweck, die Sache mit möglichst geringem Nachteil für sich zu ordnen, wurde auch durch eine Scheidung nicht erreicht. Außerdem war es klar, daß bei einer Scheidung, ja auch schon bei dem Versuche, eine solche herbeizuführen, seine Frau ihre Beziehungen zu ihm abbrechen und sich mit ihrem Liebhaber verbinden würde. In Alexei Alexandrowitschs Seele aber war, trotz seiner, wie es ihm schien, jetzt völligen Verachtung und Gleichgültigkeit gegen seine Frau, dennoch in bezug auf sie ein Gefühl zurückgeblieben: der Wunsch, sie nach Möglichkeit daran zu hindern, daß sie sich mit Wronski verbinde und so von ihrem Verbrechen Vorteil habe. Schon jener Gedanke versetzte Alexei Alexandrowitsch in eine solche Erregung, daß er bei der bloßen Vorstellung davon vor innerem Schmerz aufstöhnte, sich halb erhob und seinen Platz im Wagen wechselte und noch eine Weile nachher, mit finster zusammengezogener Stirn, seine frierenden, knochigen Beine mit dem dicken, weichen Tuch umwickelte.

 

›Außer einer förmlichen Scheidung könnte ich auch so verfahren wie Karibanow, Paskudin und dieser gute Dram, das heißt mich von meiner Frau trennen‹, fuhr er, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, in seinen Erwägungen fort. Aber er fand, daß auch diese Maßregel mit demselben Übelstande verbunden sei wie eine Scheidung, daß sie nämlich schmähliches Aufsehen errege und, was die Hauptsache war, daß sie, genau wie eine förmliche Scheidung, seine Frau ihrem Liebhaber in die Arme warf. ›Nein, das ist unmöglich, unmöglich!‹ sagte er laut vor sich hin und griff wieder nach seinem Tuch, um es fester umzuwickeln. ›Mich kann die Sache nicht unglücklich machen; aber anderseits sollen er und sie nicht glücklich sein.‹

Das Gefühl der Eifersucht, das ihn während der Zeit der Ungewißheit gepeinigt hatte, war in dem Augenblicke verschwunden, als ihm durch die Worte seiner Frau unter argen Schmerzen sein Zahn herausgerissen war. Aber an die Stelle jenes Gefühles war ein anderes getreten: der Wunsch, daß sie nicht nur nicht siegen, sondern auch den Lohn für ihr Verbrechen erhalten möge. Er wollte sich dieses Gefühl nicht recht eingestehen; aber in der Tiefe seiner Seele wünschte er, sie möchte dafür leiden, daß sie seine Ruhe und seine Ehre beeinträchtigt hatte. Und nachdem Alexei Alexandrowitsch von neuem alles erwogen hatte, was für oder gegen ein Duell, eine Scheidung, eine Trennung in die Waagschale fiel, und von neuem all diese drei Wege verworfen hatte, gelangte er zu der Überzeugung, daß es nur einen Ausweg gebe: sie bei sich zu behalten, das Geschehene vor der Welt zu verbergen und alle in seiner Macht liegenden Maßregeln zur Anwendung zu bringen, um jener Liebschaft ein Ende zu machen und (dies war der Hauptzweck, den er sich aber nicht eingestand) sie zu bestrafen. ›Ich muß ihr als meinen Entschluß eröffnen, daß ich nach Erwägung der schwierigen Lage, in die die Familie durch sie gekommen ist, alle anderen Wege dem Interesse beider Seiten für nachteiliger erachten muß als die Bewahrung des äußeren Status quo, und daß ich mit dessen Bewahrung einverstanden sein will, aber nur unter der strengen Bedingung, daß sie ihrerseits meine Forderung erfüllt, ihr Verhältnis zu ihrem Liebhaber zu lösen.‹ Nachdem Alexei Alexandrowitsch diesen Beschluß bereits endgültig gefaßt hatte, fiel ihm noch ein wichtiger Umstand ein, der ihn noch darin bestärkte. ›Nur bei einem solchen Verfahren‹, sagte er sich, ›werde ich auch in Übereinstimmung mit den Geboten der Religion handeln; nur bei diesem Verfahren stoße ich das verbrecherische Weib nicht von mir, sondern gebe ihr die Möglichkeit, sich zu bessern; ja, ich will sogar, so schwer es mir auch werden mag, einen Teil meiner Kraft ihrer Besserung und Rettung widmen.‹ Obgleich Alexei Alexandrowitsch wußte, daß er keine moralische Einwirkung auf seine Frau auszuüben in der Lage war, und daß dieser ganze Besserungsversuch lediglich auf Unwahrhaftigkeit und Verstellung hinauslaufen werde, und obgleich er in den schweren Augenblicken, die er jetzt durchlebte, auch nicht ein einziges Mal daran gedacht hatte, in der Religion eine Richtschnur zu suchen, so gewährte ihm doch jetzt, wo sein Entschluß nach seiner Ansicht mit den Forderungen der Religion zusammenfiel, diese religiöse Bestätigung seines Entschlusses eine große Befriedigung und beruhigte ihn sogar zum Teil. Es war ihm angenehm zu denken, daß auch bei einer so ernsten Lebensangelegenheit niemand werde sagen können, er habe nicht gemäß den Geboten jener Religion gehandelt, deren Fahne er inmitten der allgemeinen Erkaltung und Gleichgültigkeit stets hochgehalten hatte. Bei weiterer eingehender Überlegung vermochte Alexei Alexandrowitsch nicht einmal abzusehen, warum sein Verhältnis zu seiner Frau nicht beinahe dasselbe bleiben könne wie bisher. Allerdings werde er zweifellos nie imstande sein, ihr seine Achtung wieder zuzuwenden; aber seiner Ansicht nach gab es keinen Grund und konnte auch keinen geben, weshalb er leiden und sich sein Leben zerstören sollte, nur weil sie eine schlechte, treulose Gattin war. ›Ja, es wird die Zeit dahinwandeln, die alles ausgleichende Zeit, und unsere Beziehungen werden wieder die früheren werden‹, sagte sich Alexei Alexandrowitsch, ›wenigstens insoweit, daß ich keine Störung im ruhigen Flusse meines Lebens empfinde. Sie wird notwendigerweise unglücklich sein; aber ich habe keine Schuld, und daher kann ich nicht unglücklich sein.‹