Kitabı oxu: «Suzanne», səhifə 2

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Die Abende waren am unangenehmsten. Die Kinder und Iris hatten den Fernsehapparat in Beschlag genommen, weil sie irgendwie der Meinung waren, Kindersendungen gehörten zum Vorrecht urlaubsreifer Schulkinder. Seine misslaunig geäußerte Abneigung gegen die mediale Dauerberieselung war ungehört verklungen und angesichts der desaströsen Wettersituation, es hatte bereits vier Tage in Folge geregnet, der insgesamt angespannten, aggressiven Atmosphäre, hatte er es vorgezogen, nicht auf seine Wünsche bezüglich anderer, kreativerer Betätigungsmöglichkeiten zu bestehen. So blieben Kartenspiele, Malsachen und andere Gesellschaftspiele unberührt in den immer noch nicht völlig ausgepackten Koffern. Die Koffer, über die man ständig stolperte, sobald man einen geradlinigen Weg durch das Ferienhäuschen wagte und die ein Symbol für das nicht Angekommensein aller waren. Seine Frau weigerte sich auch strikt, ihn die Koffer einfach auspacken zu lassen, weil sie der Meinung war, Ein- und Auspacken seien ausschließlich ihre Angelegenheit, da er die Sachen eh nur »durch die Gegend werfe«. Außerdem sei es viel praktischer so, weil sie ja schließlich wisse, wo sie was eingepackt habe. Diese Dominanz, die sie in haushälterischen Dingen für sich beanspruchte, warf sie ihm andererseits als Untätigkeit seinerseits vor. So ordnete sie zum Beispiel grundsätzlich die Spülmaschine um, sobald er es wagte, diese eigenhändig einzuräumen, so dass er nach anfänglichem Protest schließlich aufgegeben hatte, ihr diese Eigenmächtigkeit vorzuwerfen, und räumte ihr das Feld. Er hatte irgendwie darauf verzichtet, seinen Platz in der Familie zu beanspruchen, fühlte sich nur geduldet und war es wohl auch, soweit er brav die Rolle übernahm, die ihm zugedacht war.

Dabei war ihre Beziehung früher eigentlich anders verlaufen. Zu Beginn rettete er sie aus den Fängen ihrer herrschsüchtigen Schwester, bei der sie nach dem Unfalltod ihres Freundes Unterschlupf gesucht hatte. Kaum zwei Wochen, nachdem sie sich kennengelernt hatten, zog sie bereits auf der Flucht vor ihrer Schwester bei ihm ein, was er willig geschehen ließ, da er selbst nach missglückter Ehe, aus der eine Tochter hervorgegangen war, mehrere Jahre ein unbefriedigendes Singledasein geführt hatte. Anfangs war ihre Beziehung voller ekstatischem Sex, als Folge lange unbefriedigt gebliebener Bedürfnisse, aus dem schließlich zwei Kinder hervorgingen. Mit jedem Kind wurde er jedoch weiter beiseite gedrängt, war nur noch Statist, wie man so schön sagt, die Checkkarte, die den Müll herunterträgt. Problematisch wurde die Situation, als die sieben Jahre ältere Tochter aus erster Ehe nach einem langen Auslandsaufenthalt mit ihrer Mutter nach Berlin zurückkehrte und wieder Kontakt zu ihm herstellen wollte. Es kam zu tumultösen Szenen zwischen ihr und Iris, die sie als Konkurrenz zu ihren eigenen Kindern betrachtete und jede Zuwendung finanzieller Art, über die monatlich fälligen Unterhaltszahlungen hinaus oder auch zeitlicher Art als Verlust und Diebstahl betrachtete. Schließlich kam sie gar auf die Idee, seine erste Frau, Ricarda, könne seine Vaterschaft sogar nur vorgetäuscht haben und er wäre gar nicht der leibliche Vater. Dies führte zu einem tiefgreifenden Zerwürfnis zwischen ihm und Iris, aber auch zu seiner Tochter, da er diesen Spagat nicht lange durchhalten konnte, zumal Iris mit der Trennung von ihm drohte. »Und was das finanziell für dich heißt, weißt du ja!« Ausrufezeichen. Seine damaligen Versuche, die angespannte Situation durch ein psychologisch begleitetes Dreiergespräch zu entschärfen, scheiterten an dem entschlossenen Veto von Iris. So blieb ihm nur übrig, sich zwischen seinen neuen Kindern und der älteren Tochter zu entscheiden, was diese ihm nicht verzieh, da dies zu ihren Ungunsten ausfiel. All das ging ihm durch den Kopf, als er missmutig aus dem Fenster des Schlafzimmers starrte, ohne den Impuls zu spüren, an seinem Manuskript zu arbeiten, weil er sich innerlich leer fühlte. Ich bin ein Loser, schalt er sich, konnte aber nichts gegen diese schicksalhafte Rolle unternehmen. Er beschloss, die dem Campingplatz angeschlossene Gaststätte aufzusuchen. Dort empfing ihn eine weitere Ödnis in Form eines Fernsehapparates über der Tür, der offenbar auf Dauerfußball eingestellt war. Davor knotennasige, rot-gesichtige Gäste, deren Gewohnheit es war, jede Finte auf dem Spielfeld fachmännisch zu kommentieren und mit Bier zu begießen. Er hasste Fußball, zog sich mit einem Bier in eine Ecke zurück, wo er auch nicht weiter beachtet wurde.

Da fiel ihm ein Satz aus seinem vorherigen Roman ein, den eine Nebenfigur dem Helden gesagt hatte. »Man hat immer die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Es gibt keine vorbestimmte Bahn. Du musst nur den Mut haben, die Konsequenzen deiner Entscheidung auf dich zu nehmen.«

Wer gab ihm solche Sätze ein? Wenn er schrieb, war es, als schreibe eine dritte Person durch ihn hindurch. Er formulierte Sätze, spann Ereignisse, die ihm unter normalen Umständen niemals eingefallen wären.

Das war eine der Großartigkeiten seiner schriftstellerischen Tätigkeiten. Er ging auf eine spannende Reise, sobald er das leere Formular der Eingabemaske vor sich sah, öffnete seinen Geist, wurde ganz passiv und ließ es einfach zu, dass sich Sätze bildeten. Es entstanden neue Sätze, neue Ideen, die auseinander hervorgingen, sich gegenseitig umwoben, bis schließlich ein Bild entstand, ein Gewebe aus Worten und Einfällen, die nicht von ihm, sondern durch ihn waren.

Ja, er liebte diese Tätigkeit, wenn sie auch nicht seine primäre Profession war. Und er liebte die Figuren, die er schuf und ganz besonders liebte er Suzanne. Sie tauchte in einem seiner vorherigen Romane als kleine unbedeutende Nebenfigur auf und mogelte sich langsam in sein Herz. Sein Herz, in dem ein Platz frei geworden war. Zuerst nur eine unbedeutende Stelle, angefüllt mit Selbstvorwürfen und Durchhalteparolen. Doch sie zwinkerte ihm freundlich zu, »Hallo, ich bin da! Siehst du mich nicht?«

4

»Hallo, hier bin ich!«, winkte er ihr zu, als sie, wenn auch verspätet, suchend im Eingang des Restaurants stand und um sich blickte. Es war gerammelt voll, Wochenende. Nur mit Mühe konnte er dem Wirt einen Tisch abschwatzen. Sie stand in der Tür, in einem roten, ärmellosen Kleid, eine kleine Handtasche wie schützend vor sich gehalten, mit ihren großen, dunklen Augen unsicher umherblickend, fast schüchtern und ängstlich. Als sie ihn sah, erstrahlte ihr Gesicht erleichtert und mit einer kleinen grazilen Bewegung änderte sie ihre Richtung und stolzierte auf ihren hochhackigen Schuhen auf ihn zu. Fast sah es aus, als sei sie diese Art der Fortbewegung nicht gewohnt. »Ich dachte schon, du kommst nicht!«, flüsterte er ihr erleichtert zu, als sie sich mit den üblichen Wangenküssen begrüßten!« »Es tut mir leid, aber fast wäre tatsächlich etwas dazwischengekommen und ich habe ja deine Handynummer nicht.« »Ich hoffe, es passt dir trotzdem heute«, fragte er besorgt. »Oh, ja, natürlich. Aber ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit meiner Tante.« »War es schlimm?«Sie zog die Mundwinkel nach unten und zuckte mit den Schultern. »Nein, nun bin ich ja hier.«Als sie ihm gegenüber Platz genommen hatte, ordnete sie ihre Haare kurz und lächelte ihn an. »Es ist schön, mal auszugehen. Ich sitze sonst abends fast immer zu Hause und schaue fern.« »Gibt es denn für eine so schöne Frau keine Verehrer?« »Du bist so lieb. Aber ich werde noch eingebildet, wenn du mir immer so schmeichelst.« »Ich sage nur die Wahrheit«, beruhigte er sie. Nachdenklich rümpfte sie die Nase. »Die Wahrheit ist nicht immer das, was man einer Frau sagen sollte.« Sie lachten herzlich. Er fühlte sich so leicht, so beschwingt mit ihr. Es war ihm, als kehrten alle seine Kräfte wieder zu ihm zurück, neuer Lebensmut, neue Energie. Während sie die Speisekarte studierte, beobachtete er sie unauffällig. Was war es eigentlich, das ihn am meisten an ihr faszinierte? War es das lebhafte, jugendlich wirkende Gesicht, war es dieser schnelle Wechsel völlig gegensätzlicher Gesichtsausdrücke? Das ungezogene kleine Mädchen, dann die souveräne, ihrer Schönheit bewusste reifere Frau, oder die plötzliche Trauer, die sie befallen konnte. War es die zarte, überflüssige Bewegung des Kopfes, wenn sie sprach, ihres schlanken Halses, die grazile Weiblichkeit ihrer Bewegungen? Waren es ihre kleinen festen Brüste, die sich dennoch deutlich unter der Kleidung abhoben. Ihre angenehme, fast ein bisschen tiefe, samtweiche Stimme? Er konnte sich nicht entscheiden. Sie war, so wie sie war, für ihn eine Göttin. Nichts weniger. Eine Göttin, die ihm mit ihrem Odem die Jugend zurückgab. Unvorstellbar, dass sie solo sein sollte. Doch er wollte dieses Thema lieber nicht anschneiden. Stattdessen beratschlagten sie wie ein altes Ehepaar, welches der Gerichte sie am besten wählen sollten, welches ihre Vorlieben und Abneigungen waren, entschieden sich für einen lieblichen heimischen Rotwein und ein Kalbsragout, das der Wirt hier besonders zart herrichte, sowie ein Gedeck korsischen Käses an Feigenmarmelade. Doch von allem probierte sie lediglich einen kleinen Happen und überließ es ihm, seinen Appetit zu stillen. Kein Wunder, dass sie so schlank ist, dachte er, als er sie umsonst zu ermutigen suchte, kräftig zuzugreifen. Ansonsten steuerten sie das Gespräch vorsichtig an allen problematischen Themen vorbei, wie ein Seemann sein Schiff an den tückischen Untiefen des Meeres. So erfuhr er von ihr weder Wesentliches über ihre Herkunft, außer dem wenigen, was sie ihm gestern schon offenbart hatte, noch über ihre Familie oder ihren Alltag. Stattdessen philosophierten sie über das Wetter, die Touristen, Korsika und seine Geschichte und die Mentalität der Einheimischen. Doch für einen kleinen Augenblick gab sie zu erkennen, dass sie gerne musizierte. Sie spiele leidlich Klavier. Es gebe in ihrer Wohnung keines, so dass sie stattdessen lieber Musik hören würde. Sie schwärmte für Rachmaninov, Chopin und Satie. Das waren Themen, zu denen er nicht viel beizusteuern hatte, obwohl er sich eine Zeitlang im Bratschenspiel geübt hatte, ohne nennenswerten Erfolg allerdings. Als er nach dem Dessert und unter dem lockernden Einfluss des Weines ihre Hände ergreifen wollte, entzog sie ihm diese jedoch sanft mit dem Hinweis, dass es sich hier in der Öffentlichkeit nicht schicke. Im Gegensatz zu ihm war sie wohl noch nüchtern, da sie auch das Weinglas nur halb geleert hatte. Verlegen versuchte er, den Fauxpas zu überspielen. Über das Essen war die Zeit unbemerkt dahin gerast. Als die ersten Gäste das Lokal verließen und sich einige Nachbartische leerten, schlug er vor, noch einen kleinen Abendspaziergang zu machen. Die Luft war warm und lieblich, sein Kopf vom Wein etwas berauscht und seine Stimmung gut. Es wäre schade, diesen Abend jetzt schon zu beschließen. Sie willigte freudig ein. Nachdem er die nicht unerhebliche Rechnung mit einem überdimensionalen Trinkgeld aufgerundet hatte, hakte sie sich bei ihm unter und so verließen sie das Lokal. Draußen blinkten bereits die ersten Sterne. Der Jupiter strahlte hell am Himmel unweit des nun fast gerundeten Mondes, der überdimensional und rötlich über den Bergen hing. Zikaden zirpten in dem nahen Kiefernwäldchen und ein leichter Wind wehte angenehme kühle Abendluft heran. Vor dem Lokal verließen sie die Veranda, um über den Strand zu gehen. »Oh, meine Schuhe!«, beschwerte sie sich. Die spitzen Absätze bohrten sich tief in den Sand. Daher zog sie sie einfach aus und ging barfuß weiter. Auch er entledigte sich seiner Sandalen, wobei er beinahe kopfüber in den Sand gefallen wäre. »Oh, mein Gott, ich bin betrunken!«, lachte er. »Muss ich dich tragen?«, neckte sie ihn. »Wenn du willst!« »Oh, meine kleine Baby!«, säuselte sie in Babysprache und streichelte ihm theatralisch über den Kopf. Er griff sie um die Hüften und zog sie an sich. »Oh, mon dieu. Du bist wirklich ein wenig betrunken. Du wirst dich doch einer Dame gegenüber zu benehmen wissen?«Dennoch gab sie ihm einen kleinen Kuss auf den Mund, bevor sie sich ihm mit einer grazilen Bewegung entwand. Sie lief ihm lachend ein Stück davon in Richtung auf das Ufer. Er setzte ihr fröhlich nach und kurz bevor er sie erreicht hatte, ließ sie sich einfach in den Sand fallen. »Erlegt!« »Warte, dein Kleid, ich gebe dir etwas zum drauf Sitzen«, meinte er besorgt, zog sein Jackett aus und breitete es auf dem Boden aus. Sie ließ sich gnädig von ihm aufhelfen und setzte sich bereitwillig auf die Unterlage, ihre kleine Handtasche achtlos in den Sand werfend. »Weißt du, ich bin nicht so eine Frau!«, bemerkte sie. »So eine Frau?« »Naja, mit diesen lästigen Pumps und dem Handtäschchen. Das bin nicht ich.« »Warum hast du sie dann mitgenommen?« »Weil...«, sie stockte ein wenig und senkte beschämt den Blick. »Ich wollte dir gefallen.« »Du würdest mir auch gefallen, wenn du ganz nackt gekommen wärst«, foppte er sie. »Oh, du bist ein Schuft!«, rief sie in gespielter Empörung. »So eine Frau bin ich auch nicht!« »Was bist du denn für eine Frau?« »Sag du erst, was du für ein Mann bist!«, forderte sie mit Schmollmund.Er zögerte. Was wollte sie wohl hören? Was durfte er sagen, das sie nicht kompromittierte? Er hatte bemerkt, dass ihre Beziehungen zu Männern im Dunkel lagen und sie dieses Geheimnis nicht lüften wollte. »Ich denke, ich bin eher ein vorsichtiger Mann!«, antwortete er daher ausweichend.Sie sah ihn nachdenklich an, dann nickte sie. »Ja, und du bist ein freundlicher Mann. Keiner, der eine Frau schlagen würde!«Er erschrak. »Schlagen? Warum sollte ich das tun? Das ist barbarisch!« »Und keiner, der eine Frau gegen ihren Willen... du weißt schon!« »Ich bitte dich! Was redest du da?«Er rückte näher an sie heran. »Suzanne, bitte sag so etwas nicht. Ich würde dir niemals weh tun. Es ist für mich das Schlimmste, was ich mir vorstellen könnte.« Sie schaute ihn mit ihren großen Augen sinnend an. «Es gibt schlimmeres als Schmerz.« Das Gespräch nahm eine Wendung, die ihm nicht behagte. »Warum sagst du das? Gibt es etwas, bei dem ich dir helfen kann?« Sie ließ sich lachend zurückfallen. »War nur ein Scherz, ich wollte dich prüfen.« Er legte sich seitlich neben sie und streichelte ihre Augenbrauen. Sie schloss die Augen und streckte ihm wohlig ihren Hals entgegen. Vorsichtig drückte er ihr einen zarten Kuss auf den Hals, wogegen sie nicht protestierte. Mutiger geworden, küsste er ihre Schläfe, die Stelle, wo Ohr und Kiefer zusammentrafen. Als sie wohlig seufzte und den Mund leicht öffnete, wagte er es, diesen zart zu küssen. Sie erwiderte den Kuss mit warmen, weichen Lippen und schaute ihn an, als erwache sie gerade aus einem tiefen Schlaf. Dann legte sie ihre Hand sanft in seinen Nacken, küsste ihn nochmals ganz vorsichtig. »Nicht hier, nicht jetzt, mon ami!« Er zögerte, schaute ihr fragend in die Augen und nickte dann. Er sollte ihr Zeit lassen und er sollte ihnen Zeit lassen. Er kannte sie viel zu wenig und sie ihn, als dass sie ihre wunden Stellen meiden konnten. »Du bist so schön und so begehrenswert, dass ich schreien könnte!«, flüsterte er. »Oh, bitte nicht vor dem Restaurant, dann kommt die Polizei!«, grinste sie, womit der sinnliche Augenblick vorbei war. Er lachte, doch es war kein ehrliches Lachen. Sie richteten sich beide wieder auf, schauten Schulter an Schulter aufs Meer, fühlten die vitale Wärme ihrer Berührung und waren beide in Gedanken so weit voneinander entfernt, dass es fast schmerzte. Schließlich seufzte sie, schaute auf ihre nackten Füße und wackelte mit den Zehen. »Wie komme ich jetzt wieder nach Hause, ohne Schuhe?« »Soll ich dich tragen?« »Oh, ja bitte!«, lachte sie.Er streichelte ihr über die Haare und revanchierte sich mit dem Satz: »Oh, du meine kleine Baby!« »No, sei ein Kavalier und hilf mir auf, Cheri!«, forderte sie, da er sich schon erhoben hatte. Willig ergriff er ihre Hand und zog sie vorsichtig auf die Füße. Nachdem er sein Jackett notdürftig vom Sand befreit hatte, bot er an: »Na, bis zum Weg trage ich dich!« »Okay!«, lächelte sie.Tatsächlich schaffte er es, sie durch den Sand zu tragen, während sie sich an seinem Hals angeklammert hielt. Auf dem Rückweg zum Dorf gingen sie Hand in Hand, während sie munterbegann, Anekdoten über ihre Tante zu erzählen. Diese musste eine sehr gestrenge Frau sein. Auch wenn die Männer traditionell außer Haus das Sagen hatten, kamen sie doch um die Anweisungen der Frau nicht drumherum.Ja, es war eigentlich so, dass die Frau die zentrale Rolle im Haus spielte, was sich allerdings auch darin niederschlug, dass sie die ganze häusliche Arbeit erledigte. Dennoch, im Grunde herrschte die Frau und insbesondere ihre Tante. Er stellte sich diese als wahren Hausdrachen vor. Suzannes Schilderung war auch nichts Gegenteiliges zu entnehmen. Sogar ihr Onkel, der immerhin das Amt des Bürgermeisters in Corbara innehatte, ließ sich von ihr herumkommandieren. Unversehens standen sie so, lachend und fröhlich ins Gespräch vertieft, wieder vor dem merkwürdigen Haus mit der Nummer 11 und wiederum hätte er nicht sagen können, wie sie dorthin gelangt waren. Er beschloss, auf dem Rückweg genau Acht zu geben. Diesmal jedoch legte er Wert darauf, ihr seine Telefonnummer zu geben, damit sie sich für den nächsten Tag verabreden konnten. »Ich weiß noch nicht, wann ich kann!«, ließ sie eine konkrete Uhrzeit offen. »Ich ruf dich an!« »Ich freu mich drauf. Aber vergiss mich bitte nicht!«, ermahnte er sie.Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund, strich ihm mit einer zarten Geste ihrer Hand über die Wange und flüsterte. »Schlaf gut, und danke. Danke für alles!«Dann wandte sie sich schnell ab, eilte die Treppe nach oben und verschwand durch die Tür im ersten Stock, ohne sich noch einmal umzudrehen. Eine Weile blieb er noch unentschlossen vor dem Haus stehen. Er sah weder durch die Fensterläden, noch sonst irgendwo ein Licht aufleuchten. Sie musste ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses bewohnen. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Erst als er wieder auf der Hauptstraße war, wurde ihm bewusst, dass er wiederum vergessen hatte, sich den Rückweg einzuprägen.Er würde morgen versuchen, das Haus zu finden. Morgen.

5

Er hatte die halbe Nacht durchgeschrieben, nachdem er ein wenig angetrunken aus der Campingplatzgaststätte zurückgekehrt war. Das Ferienhaus lag schon im Dunklen und vorsichtig tastete er sich durch den Schlafraum, um seinen PC vom Fensterbrett zu nehmen. Er hörte den gleichmäßigen Atem seiner Frau, der anzeigte, dass sie bereits schlief. Vorsichtig hatte er die Tür zum Kinderzimmer geschlossen, damit diese nicht durch das Tastengeklapper aufwachten. Jetzt, nachdem der letzte Satz geschrieben war, gähnte er ermüdet und schleppte sich ins Bett. Dort, noch immer die letzten Sätze seines Romans im Kopf, fühlte er den warmen Körper seiner Frau, die wie immer nackt schlief. Sie lag quer im Bett, so dass ihm wenig Platz blieb, sich entspannt hinzulegen. Vorsichtig zog er seine Decke zurecht und versuchte, eine einigermaßen bequeme Position zu finden. Er spürte das Verlangen, sie anzufassen, ihr wieder nahe zu kommen und legte eine Hand auf ihre bloße Schulter. Sie schnaufte unwillig im Schlaf, reagierte jedoch nicht. Ärgerlich und enttäuscht nahm er die Hand zurück, machte sich etwas energischer Platz, indem er sie grob anschubste. Sie drehte zwar den Kopf in seine Richtung, rückte wohl auch ein Stück zur Seite, schlief jedoch weiter. Er starrte den Lichtfleck an der Decke an, den eine Laterne in der Nähe des Ferienhauses erzeugte. Suzanne. Wie würde es mit ihnen weitergehen? Wie würde es mit seiner Frau und ihm weitergehen? Hatte Iris, die recht selbstbewusst war, nur einmal in ihrer gesamten Ehe versucht, die Missstimmungen, die regelmäßig aufgekommen waren, von sich aus zu glätten? War sie auch nur einmal auf ihn zugekommen mit einer Geste oder den Worten, »Wollen wir es noch einmal im Guten versuchen?«. Er konnte sich nicht erinnern. Stets war er es, der den Anfang machte nach tagelangem, beleidigtem Schweigen ihrerseits. Weil er diese Atmosphäre der Ablehnung und Zurückweisung nicht mehr ertragen konnte. Weil er sich sagte, irgendwie waren die Anlässe für ihre Zwistigkeiten eigentlich zu banal, um in ein dauerhaftes Zerwürfnis führen zu müssen. Und eigentlich liebten sie beide ihre Kinder heiß und innig, ja, er konnte sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Und eigentlich sollten sie als Erwachsene langsam ein wenig über den Dingen stehen. Vielleicht war das der Grund, warum er nachgiebiger war als sie. Seine Lebenszeit war um fast zwanzig Jahre mehr verstrichen als die ihre. Er fühlte den langsamen Abbau seines Körpers, das Nachlassen der Intensität seines Erlebens, die Hoffnungslosigkeit, noch etwas Bedeutendes zu schaffen. Da, wo andere gut situiert die gesellschaftlich notwendigen Items abhaken konnten, ‚ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und Kinder gezeugt, mein Auto, meine Karriere, meine Familie‘, konnte er nur mit Familie punkten und wenn er es recht betrachtete, nicht einmal das. Suzanne. Er seufzte, drehte sich auf die Seite, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Nach einer gefühlten Stunde des unruhigen Grübelns stand er wieder auf und schlurfte zum Kühlschrank. Er öffnete die Tür und starrte minutenlang hinein, ohne recht zu wissen, was er eigentlich suchte. Beim Schließen des Kühlschranks stieß er gegen einen Küchenstuhl, der lärmend umfiel. Erschrocken hob er ihn wieder auf und schob ihn geräuschlos zurück. Das Wohnzimmer-licht ging an und Iris stand völlig nackt und verschlafen im Raum. »Was machst denn du für einen Krach mitten in der Nacht? Bist du verrückt geworden? Willst du die Kinder aufwecken?« Er unterdrückte die Erkenntnis, dass er sie immer noch begehrenswert fand und brummte in ihre Richtung zurück: »Du mich auch!« »Idiot!«, zischte sie und verschwand auf der Toilette. Den Rückweg erledigte sie schlaftrunken, ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Er beschloss, auf dem Sofa zu schlafen, fischte sich seine Decke aus dem gemeinsamen Bett und sortierte sich mühsam auf das seiner Körpergröße nicht recht angemessene Möbelstück. Wenig später musste er eingeschlafen sein. Als er morgens mit steifem Rücken und schmerzendem Nacken erwachte, erinnerte er sich noch daran, von ihr, von Suzanne, geträumt zu haben. Verzweifelt versuchte er, sich die Traumszenen in Erinnerung zu rufen, um sie später zu verwenden, doch je mehr er erwachte, umso undeutlicher wurde die Erinnerung. Nur ein Bild blieb. Suzanne winkte ihm auf einer Bergspitze stehend aus der Ferne zu, bevor der Nebel sie einhüllte. Verstimmt trottete er zum Küchenfenster, um einen Blick nach draußen zu werfen. Es war noch nicht einmal 6 Uhr, wie der Wecker auf dem Küchenregal anzeigte. Der Himmel war verhangen, wenigstens regnete es nicht mehr. Dann wäre heute vielleicht Gelegenheit für einen Ausflug, überlegte er. Andererseits würden die Kinder erfahrungsgemäß nicht vor 9 Uhr aufwachen. Seine Frau nicht vor 10 Uhr aus dem Bett kommen. Was verdammt hatte er nur zuletzt geträumt? Er erinnerte sich nur noch an das Gefühl eines verzweifelten Verlangens, sie festzuhalten, seine Traumfigur, Suzanne. Doch es gab keine Möglichkeit dazu, sie war zu weit entfernt. Mehr kam ihm nicht mehr in Erinnerung. Er beschloss, einen Spaziergang zu machen und die Morgenstimmung zu genießen, während er warten würde, bis alle erwacht wären. Vielleicht würde er auch Brötchen holen gehen im nahe gelegenen Dorf. Möglicherweise hatte der Dorfbäcker schon geöffnet. Also entschied er sich für die Stiefel und den Regenmantel, nahm einen kleinen Rucksack vom Haken und trat vor die Tür. Die feuchte, kühle Luft ließ ihn frösteln, doch vertrieb sie auch den Schlaf. Er streckte sich unentschlossen, wandte sich dann in Richtung See und stapfte durch den morastigen Untergrund. Der See lag als graue, trostlose Fläche vor ihm, umrandet von Schilf und dichter Uferböschung. Nur der alte hölzerne Bootssteg neben dem kleinen Bootshaus gewährte einen Zugang. Er betrat die knarzenden morschen Bretter des Steges, um bis ganz vorne an den Rand zu gehen. Dort ließ er sich nieder. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als derartige Stege immer ein unheimliches Gefühl in ihm hervorgerufen hatten. Das kribbelig, schaurigschöne Gefühl, das entsteht, wenn man nicht weiß, ob die Angst davor ins Wasser zu fallen daher kommt, weil man ausgleiten oder gar freiwillig in den See springen würde. Er ließ die Beine baumeln. Die Stiefelabsätze berührten knapp die Wasseroberfläche und erzeugten kleine Wellen. Im braungrünen Wasser spiegelten sich die regenschweren grauen Wolken. Auch sein eigenes Spiegelbild sah er, gebrochen durch kleine Wellen. Er beugte sich vor, beugte sich vor, immer weiter, bis er drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Doch er konnte seine Augen nicht erkennen! Das Spiegelbild seines Kopfes zeigte nur verschwommene Umrisse seines Gesichtes, doch seine Augen waren nicht zu erkennen! Erschrocken setzte er sich auf. War dies so etwas wie eine Prophezeiung? Er schalt sich einen Dummkopf. Er beugte sich nochmals vorsichtig vor. Da trat durch eine Wolkenlücke ein kleiner Sonnenstrahl hervor und erhellte unerwartet die Wasseroberfläche. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass er sich nun vollständig sehen konnte und akzeptierte damit stillschweigend auch, diese Art von Aberglauben zu tolerieren. Der Sonnenstrahl glitzerte einen Moment so hell, dass er geradezu geblendet wurde. Als er aufblickte und dem dunklen Nachbild in seinen Augen vor dem Hintergrund des Sees nachspürte, meinte er darin die Formen eines Gesichts erkennen zu können. Suzanne.

6

Der Tag begann wie fast alle vorherigen Tage seines Aufenthaltes hier, mit einem freundlichen Gruß der strahlend gelben Sonne vor dem azurblauen Himmel. Er trat vor die Hoteltür in freudiger Erwartung der kommenden Ereignisse. Er hatte ausgesprochen gut geschlafen und von ihr geträumt. Er hatte von ihr geträumt, wie sie sich ihm hingab in wilder erfüllender Ekstase. Das Traumerleben war so intensiv, so gegenwärtig, dass er beim Erwachen noch einen kleinen Moment innehielt, die Augen fest geschlossen, um dieses wohlige Gefühl in die Realität des Wachzustandes mitzunehmen, hinüberzuretten in die materielle Welt. Fröhlich singend war er aufgestanden, hatte sich ausgiebigst geduscht, sorgfältig rasiert und gekämmt, ja, sogar ein wenig Rasierwasser aufgetupft. Er verzichtete darauf, seine Krawatte anzulegen, das wäre wohl doch übertrieben gewesen und er wusste ja noch gar nicht, wann sie sich melden würde. Nachdem er sich versichert hatte, dass sein Mobiltelefon noch keine Nachricht von ihr anzeigte, genug Akkuladung zur Verfügung stand, um eine solche auch nicht zu verpassen, machte er sich in sein gewohntes Straßencafé am kleinen Platz am Ende der Avenue Marina auf, wo er zu frühstücken pflegte. Der Wirt, ein behäbiger Korse mittleren Alters, nickte ihm freundlich zu, als habe er in ihm schon einen Stammkunden wiedererkannt. Leider sprach dieser weder englisch noch deutsch und Levi verstand zwar etwas Französisch, konnte jedoch selbst nur mühsam einige Sätze formulieren, nicht genug, um eine lockere Unterhaltung beginnen zu können. Deshalb beschränkte sich ihre Konversation im Wesentlichen auf die Bestellung eines mediterranen Frühstücks und Milchkaffees sowie einiger radebrechender Bemerkungen über das wundervolle Wetter. Sinnend blickte er in Richtung der Innenstadt, als wenn er erwarten würde, dass sie zufällig daher kommt. Was sollte er nur heute unternehmen? Er wagte nicht, größere Ausflüge zu planen, denn sollte sie plötzlich anrufen, wäre er vielleicht nicht erreichbar oder unterwegs. Andererseits konnte er auch nicht den ganzen Tag warten. So beschloss er, nach einem kleinen Rundgang vielleicht ihr Haus auf eigene Faust zu suchen. Es musste sich irgendwo dort drinnen in der Altstadt befinden. Dann würde er weitersehen. Das Lokal füllte sich nach und nach mit weiteren Gästen. Üblicherweise saßen in Nähe der Theke im Eingangsbereich eher die Einheimischen, Handwerker oder Zulieferer, die ihren Espresso tranken, fröhlich miteinander schwatzten, um dann wieder ihren Aufgaben nachzugehen. Er blickte sich um. Eine Gruppe junger Männer betrat von der anderen Straßenseite kommend den Platz. Sie hatten das selbstbewusste, etwas unangenehm machohafte Auftreten, welches stolze junge Korsen auszeichnet, die sich im Vollbesitz ihrer Kraft und voller Selbstbewusstsein fühlen. Lachend strebten sie auf das Café zu, bahnten sich ihren Weg zwischen Tischen und Stühlen hindurch und riefen dem Wirt lautstark etwas zu. Einer der jungen Männer, ein unrasiert, grobschlächtig wirkender Flegel, stieß im Vorbeigehen heftig an Levis Stuhllehne, ging jedoch weiter, ohne sich auch nur mit einer Geste zu entschuldigen. Verärgert schaute Levi ihnen nach. Der Wirt, der den Vorfall offenbar beobachtet hatte, hob entschuldigend die Augenbrauen und zog die Schultern hoch, rief den Jungen etwas zu, was diese jedoch nicht besonders beeindruckte. Sie warfen sich auf die Stühle vor dem Eingangsbereich und setzten ihre lärmende Unterhaltung ungestört fort.Levi fühlte sich plötzlich unwohl in seiner Haut. Er beschloss, das Café nun lieber zu verlassen, um sich auf die Suche nach Suzannes Haus zu machen. Wie gewohnt, legte er das abgezählte Geld auf den kleinen Teller mit der Rechnung, winkte dem Wirt zum Abschied zu und machte sich auf in Richtung Innenstadt.Die Altstadt von Algajola ist eigentlich nicht besonders groß. Sie besteht im Wesentlichen aus dem Kastell und einigen davor gruppierten Häuschen in kleinen, verwinkelten Gassen. Teilweise gab es kleine, enge Zugänge, denen man nicht ansehen konnte, ob sie etwa in einen privaten Innenhof führten oder einen Zugang zu einer anderen Gasse darstellten. Es dauerte nicht lange und er wusste nicht mehr, wo er war. Immer wieder fand er sich auf einer größeren Gasse wieder, die er gerade erst verlassen hatte, oder bemerkte, dass er dieselbe Gasse nun zum zweiten Mal, nur aus anderer Richtung passiert hatte. Es war als spucke ihn die Innenstadt immer wieder auf die Hauptverkehrswege aus. Das Haus konnte er jedoch nirgends finden. Er kratzte sich am Kopf. Es musste doch möglich sein, die Zugangsgasse wiederzufinden. Er versuchte es vom Strand herkommend, wie gestern. Doch obwohl er in jede kleinere Gasse abbog, die von der Straße abzweigte, fand er sich doch wieder nur auf der Uferpromenade oder der A. Marina oder gar der Hauptstraße wieder. Es ging ihm nicht in den Kopf, dass er die Gasse nicht finden konnte. Frustriert wanderte er zum Kastell zurück, blickte zwischendurch auf das Display seines Handys, wo immer noch keine Nachricht von ihr eingetroffen war. Es war nun bereits fast an die Mittagszeit, und setzte sich auf eine Bank mit Blick auf das Meer. Etwas weiter weg, entdeckte er einen jungen Mann, der auf der Mauer saß, die das Kastell umgibt und ihn anstarrte. Ein Schreck fuhr Levi durch die Glieder, als er den rüpelhaften jungen Mann wiederzuerkennen glaubte, der ihn unsanft angerempelt hatte. Erfreulicherweise sprang dieser mit einem leichten Satz von der Mauer und entfernte sich in Richtung Innenstadt.

9,11 ₼

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