Liebe Familie

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Liebe Familie
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Über das Buch:

„In guten und in schlechten Tagen“ – Leona und Tom haben nach und nach das Haus für sich allein, nur ihre Kinder Jason und Tessa sind noch zu Hause. Alle anderen gehen ihre eigenen Wege. Felix hat sein Studium in Hannover so gut wie abgeschlossen und ist längst mit Auslandssemestern beschäftigt, auch wenn er seine Ferien im Hotel „Zum Sonnigen Garten“ verbringt. Leider kränkelt die Hotelchefin …

Serena wohnt mit Fred in Hannover und widmet sich ihrem Studium – nicht jeder Tag bringt ihr Sonnenschein, da hilft auch die größte Liebe nichts. Immerhin läuft die Detektei halbwegs gut, und sogar über einen Angestellten kann der bisherige Habenichts Frederick Myers nachdenken – und eine Hochzeit ... Doch ob die das erträumte, immer währende Glück bedeutet für Rena?

Ihre Schwester Cynthia zieht nach dem Abitur zum Studium nach Potsdam und bezieht eine WG mit ihren Freunden Isabell und Ricky, die längst zusammen leben. Noch immer wechselt Zini dabei die Freunde wie andere Leute ihre Hemden (behauptet Oma Monika …).

Jason kommt langsam ins aufmüpfige Alter und macht seinen Eltern das Leben an manchem Tag sauer, ein typischer Teenager, schwankend zwischen Kind und Mann. Nur Tessa ist lieb wie bisher.

Neue und alte Freunde, sich verändernde Lebenswege, wenn dann doch aus der Not noch Positives einfach gewonnen werden muss – das alles beschreibt Ihnen Linda Fischer im 5. Teil der Roman-Reihe „Liebe Familie“.

Impressum:

Liebe Familie – Teil 5: In guten und in schlechten Tagen

Linda Fischer

Copyright: © 2014 Linda Fischer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-8547-5

Tessa sprang sehr früh an diesem 30. Januar 2006 ins Bett der Eltern. Sie wollte unbedingt schon spielen – und ihre Eltern ließen sich an diesem Montagmorgen darauf ein. Bei der ganzen Alberei vergaßen sie fast das Aufstehen. Leona schaltete den Wecker sofort ab, als er klingelte, und kitzelte Tessa wieder. Sie kicherten und glucksten und hatten jede Menge Spaß.

Es war so lustig und familiär – Leona zweifelte im Moment an dem, was Tom ihr am Vorabend erzählt hatte. Wie konnte er eine USA-Tournee für den Sommer 2007 planen? Sie mochte sich nicht vorstellen, ihn wieder wochenlang unterwegs zu wissen.

Allerdings war ihr längst und trotz ihres inneren Widerstandes klar, wie wenig sie dagegen tun könnte – und wollte. Er gehörte nicht ihr allein, und er würde seine Familie vermissen. Ihr Liebster musste auf die Bühne, und sie würde niemals auch nur mit einem Wort widersprechen.

Belustigend dabei war, wie sanft er sie um ihre Zustimmung gebeten hatte für diese etwa zwei Monate. Leona verzog den Mund. Natürlich hatte sie sofort genickt, das sei doch völlig in Ordnung, er möge seine eigentliche Arbeit tun, keinen Gedanken ans Hotel verschwenden. Sie könne ja leicht mal einige Wochen ohne ihn auskommen.

Jetzt, am frühen Morgen in ihrem Bett, kreisten trotz des Spiels ihre Gedanken erneut um dieses Thema. Selbstverständlich würde es nicht nur bei einer Tournee bleiben. Sie hatte immer gewusst, wie wenig der Künstler in ihr Dorf gehörte, obwohl sich Tom hier auf dem Lande wohl fühlte. Andererseits konnte sie sich nicht an den Gedanken gewöhnen, ihn auf lange Zeit nicht täglich zu sehen.

Plötzlich sprang Tom aus dem Bett: „Verdammt, die Schule!“ Sie standen alle drei auf.

Leona rannte die Treppe hinunter und rief in die Zimmer der Kinder: „Cynthia, Jason, auf, auf, die Schule – ich mache schnell Frühstück. Guten Morgen.“ „Was issen los, Mama?“ Zini knipste verschlafen das Licht an und stöhnte.

Jason gähnte und meldete sich etwas sauer zu Wort: „Ich mag nicht.“ „Es ist schon reichlich spät. Hoch mit euch – wir haben nur noch eine Viertelstunde“, Leona lächelte über den kläglichen Widerstand.

„Es sind Zeugnisferien, Mama. Wie kannst du das nur vergessen? Zwei freie Tage“, mäkelte Zini. Leona blieb abrupt stehen und brach in Lachen aus. „Haben wir vergessen. Tom, es sind Zeugnisferien“, rief sie: „Zurück in die Federn, Familie!“

„Das höre ich gern“, antwortete ihr Mann von oben: „Aber ich habe Kohldampf, Süße. Also meinetwegen hüpf du ins Bett – ich serviere dir das Frühstück auch da, wenn du möchtest.“ „Möchten wir wohl alle, herzallerliebster Papi“, schmeichelte Zini, als er die Treppe herunter kam.

Mit einigem Humor nahm Tom das auf. „Wenn du absolut willst …“ „Nein, wir essen unten“, Leona schüttelte missbilligend den Kopf: „Und du kommandierst Tom nicht dazu, die ganze Familie zu bedienen, du Range. Manchmal übertreibst du echt, Zini.“ „War doch nur eine Idee, Mama.“ „Und eine ziemlich gute“, flüsterte Jason und schloss schnell wieder die Tür, als Leona sich ihm zuwandte.

Tom jedoch lachte vor sich hin und nahm dem Mädchen nichts übel: „Vielleicht ist es besser am Tisch. Weil ich auch nicht so gern Krümel im Bett habe. Ich presse uns ein paar Apfelsinen aus und mache Obstsalat statt des Frühstücks im Bett, Zini. Ist das okay?“ „Ja, vielen Dank“, sie warf ihm eine Kusshand zu. Leona schüttelte wieder den Kopf, diesmal allerdings mit einiger Nachsicht.

Im Badezimmer berührte sie Tom sachte am Arm: „Du sollst sie nicht so verwöhnen.“ „Hm?“ Er drehte bereits die Dusche auf und machte ihr ein Zeichen, weil er kein Wort verstand.

Geduldig wartete sie, bis er fertig war, reichte ihm das Handtuch und wiederholte ihre Ermahnung: „Ich sagte, du sollst sie nicht verwöhnen, Tom.“ „Verwöhnen?“ „Frühstück im Bett, Obstsalat zum Frühstück … sie können gefälligst einen Apfel oder eine Banane essen.“

Gelassen machte er ihr Platz. Leona stieg in die Dusche.

„Honey, wir essen nicht im Bett. Und ich habe Zeit. Es ist doch nur ein Zeugnis-Ferien-Frühstück. Und sie haben ja auch gute Zeugnisse.“ Leona knurrte: „Sie könnten selbst auch mal einen Handschlag tun.“ „Machen sie aber nicht gern. Und mir macht’s Spaß“, erwiderte er sehr vernünftig und betrachtete sie. Mit einem zweifelnden Blick zu ihm griff Leona zum Wasserhahn.

Tom schaute ihr im Spiegel zwischendurch beim Rasieren zu und lächelte vor sich hin. Er sah seine barocke Rubens-Frau gern an.

„Was ist?“ fragte sie etwas verstimmt, als sie die Beobachtung bemerkte. „Nichts.“ „Ich weiß, ich sollte abnehmen. Mindestens fünf Kilo. Besser zehn.“ „Für deine Knie vielleicht. Nicht für mich“, er zwinkerte ihr vertraulich zu. „Ach, Tom …“ „Denk an Mary. Die ist auch mehr Walküre als Sylphide. Ihr Super-Frauen – klug, witzig – du solltest langsam wissen, was für eine fantastische Frau du bist.“

Dem Satz traute sie nicht recht. „Bin ich nicht. Schon gar nicht, wenn du mit dieser … Inquisitor-Miene an mir hoch und runter guckst“, jammerte sie: „Als wäre ich ein Auto, das gleich durch den TÜV fällt.“ „Nee, Süße, du bist die nächsten zwei Jahre noch mal zugelassen“, lachte er übermütig. „Danke“, entgegnete sie erst etwas schroff, doch dann kicherte sie und prustete laut los, als er mit einem Klaps auf ihren Po augenzwinkernd aus dem Bad ging.

Ihre gute Stimmung hielt an. Da sie ja nun einen Ferientag hatten, entschieden sie sich, nach Bremen zu fahren, um sich dort die Monet-Ausstellung anzusehen.

Besonders Zini freute sich über diese spontane Tour. Sie rief ihren Freund an und sagte kurzentschlossen die Verabredung ab. Sie wollte mit ihrer Familie allein fahren – er sei an diesem Tag unerwünscht.

Leona wechselte einen Blick mit Tom. Keiner von ihnen kommentierte dieses Telefonat. Sie wussten beide, wie rücksichtslos Zini sein konnte – von „großer Liebe“ war bei ihr nie die Rede. Und wagte einer, sich dagegen zu wehren, servierte sie ihn einfach ab.

***

Fred parkte in der Nähe der Musikhochschule. Rena hatte ihn per SMS gebeten, sie abzuholen. Diesmal war es spät geworden, da sie als Pianistin noch mit einem russischen Studenten probte. Der junge Russe spielte Geige, und sein Partner war erkrankt. Deshalb sprang Rena gutmütig ein und sollte ihn in Kürze nach Wiesbaden begleiten.

Eine Studentin zeigte Fred den Weg zu den Proberäumen. Er konnte die Musik schon auf dem Flur hören. Geige und Klavier klangen perfekt zusammen, die Melodie gefiel ihm. Fred unterbrach sie nicht, er blieb auf dem Flur stehen und sah durch die offene Tür in den Raum. Gelassen und geduldig lehnte er sich an die gegenüberliegende Wand und schaute ihnen zu.

„Obergeil“, jubelte der Violinist. Rena stand vom Klavierhocker auf und schob die Noten zusammen. „Ja, ganz fantastisch“, freute auch sie sich: „Wir passen gut zusammen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich es so schnell so gut hinkriege mit dir und der Begleitung.“ „Du bist großartig, Mädchen“, er legte sein Instrument auf den Flügel, umarmte das überraschte Mädchen und küsste sie, erst auf die Wange, dann auf den Mund.

Rena kicherte überrumpelt: „Wirrkopf! Ich brauche immer noch die Noten. Du nicht.“ „Macht nichts. In Wiesbaden fragen sie nicht danach, was du brauchst. Rena. Mich wollen sie hören. Wenn du mitkommst, wird das eine gute Woche. Erfolgreich! Du musst!“

„Ich habe schon gesagt, ich komme mit. Selbstverständlich. Kim hat sich ja die Blinddarm-Reizung nicht gewünscht. Zu dumm, dass sie mit der OP noch warten müssen.“ „Du machst es wirklich?“ „Klar. Ich muss es meinem Freund nur noch beibringen, dass es tatsächlich mit uns klappt.“

Dieses Stichwort nutzte Fred nun: „Was musst du mir erzählen?“ Eigentlich hatte er längst genug gesehen.

„Hei“, Rena lächelte ihm strahlend zu: „Ich soll Alex nach Wiesbaden begleiten. Als seine Pianistin. Aljoscha, das ist Fred Myers. Fred, dieser tolle Violinist heißt … ups, dieser russische Name mit der doofen Betonung … äh … Alexej Wassilikov.“ „Gute Betonung“, lobte der junge Russe und streckte Fred vergnügt die Hand entgegen: „Hallo, Fred. Rena hat mir schon von dir erzählt. Du arbeitest gerade mal als Sheriff im Winterschlussverkauf?“ „Ja.“

 

Schuldbewusst wirkte keiner der beiden Musiker. Rena begann sofort damit, von den Grieg-Sonaten zu erzählen, und Alexej Wassilikov nickte die ganze Zeit anerkennend dazu.

„Alex hat voriges Jahr am Wettbewerb teilgenommen. Und eben diese Wiesbaden-Geschichte gewonnen. Die Woche da. Und ich muss nun mit. Weil Kim krank ist und gerade keiner da, ich meine, sonst noch einer, der einspringen könnte.“ „Aha“, sagte Fred wieder nur knapp.

„Sie ist unglaublich … super gut! Du kannst stolz sein auf dieses Mädchen. Die spielt vom Blatt … großartig! Unglaublich gut. Sie ist Spitze“, Alex schaute auf die Armbanduhr: „Ich muss zum Bus. Tschüss.“ Er nahm seinen Mantel, schlang sich den Schal um und rannte los, den Geigenkasten unter den Arm geklemmt.

Sein überstürzter Aufbruch brachte Rena zum Lachen. Sie schüttelte den Kopf, kicherte weiter und begann aufzuräumen. Ihre Noten drückte sie Fred in die Hand, schlüpfte in ihre warme Jacke und stülpte sich vergnügt die Mütze auf.

Schweigend sah Fred ihr zu. Ihr unschuldiges Auftreten schmerzte. Glaubte sie etwa, er habe den Kuss nicht gesehen? Sie, die immer scheu zurückzuckte vor anderen, lachte mit diesem Russen, anstatt ihn zu ohrfeigen. Was sollte er nun denken?

Sie marschierte fröhlich neben ihm her zum Auto und machte gar keine Anstalten, die Situation zu erklären.

Im Auto lehnte sie sich behaglich zurück und seufzte mit einem breiten Lächeln: „Wie wunderbar – nach diesem Stress heute, du mit deiner Ruhe. Endlich kann ich mich einfach nur ausruhen …“ „Ja.“ „Du, das war … wow. Einfach nur wow. Aljoscha hat’s voll drauf. Er ist ein solcher Grieg-Kenner. Das merkt man ihm beim Spiel an. Wow“, fügte sie gleich noch einmal an.

Ihr fiel nicht mal auf, wie anders ihr Freund die Sache sah. Er kämpfte dagegen an, sie mit Fragen nach Alexej Wassilikov zu überschütten, überlegte verzweifelt, ob er fragen sollte oder es besser ließ.

War das längst mehr als nur die Liebe zweier Studenten zu wunderschöner Musik? Musste er sich dagegen wappnen, nun das Schlimmste zu erleben, was ihm passieren konnte? Er war so lange krank gewesen, vielleicht wollte sie ihm deshalb die Wahrheit ersparen – noch eine Weile. Fred hielt ein Stöhnen zurück und sprach überhaupt nicht mehr.

Während des verspäteten Abendessens saß Felix mit ihnen am Tisch. Folglich sagte Fred auch nun kein Wort über das, was er dachte.

Die Geschwister plauderten wie immer, bis Felix lachend die junge Frau musterte: „Schwesterchen, heute siehst du aus wie die Katze, die ihre Maus schon gefangen und verspeist hat. Was war denn los?“ „Ich habe heute zum ersten Mal mit unserem Russen geübt. Mit Aljoscha. Der ist der beste Violinist der ganzen Schule. Der ist einfach … boh! Du, er nimmt mich mit zu seinen Konzerten in Wiesbaden. Ich darf ihn begleiten! Ich platze fast.“ „Cool“, Felix freute sich gleich für sie mit.

„Ich kriege sogar Geld dafür. Und wohne gratis im Hotel. Und überhaupt. Das ist so geil, total irre. Ich verdiene Geld mit meiner klassischen Musik. Du ahnst ja nicht, wie ich mich auf diese Wiesbaden-Woche freue, Fix.“

Sie lachte leise und glücklich vor sich hin: „Alex ist auch riesig begeistert, dass er gerade noch rechtzeitig eine passende Klavierspielerin aufgetan hat. Du, stell dir vor, der hat mich abgeknutscht, der verrückte Russe. Das war russische Seele pur“, sie kicherte und machte eine sprechende Handbewegung zu ihrer Imitation und der grauenvollen Aussprache von „russische Säääle“.

Felix krauste die Nase: „Bah, wie in den alten Dokus, wo sich Breschnew oder Chrustschov mit den Ossi-Bossen abknutschen? Igitt“, auch er kicherte nun. „Nee, nicht ganz so eklig, schon nett – er sieht auch hübscher aus als die, also … Ich konnte echt nichts tun. Außerdem galt das eher der Musik als mir. Nach dieser tollen Probe hätte er jeden abgeküsst, der ihm in die Quere gekommen wäre. Ich war nur am nächsten dran“, sie lächelte: „Wie Zini immer sagt: Manchmal muss man so ’n Kuss einfach ertragen. Überschwang. – Oder bist du böse auf ihn, Fred?“

Für einen Augenblick trat Stille ein. Felix erstarrte etwas und schluckte. Fred sah die fröhliche Pianistin ernst an: „Du hast mich gesehen?“ „Ja, logisch. Ich hätte ja schon vorhin fragen sollen, aber ich hab’s einfach vergessen. Außerdem konntest du ja selbst merken, dass Alex völlig außer sich war. – Möchte einer von euch die letzte saure Gurke?“

Besonders interessiert an seiner Antwort schien sie nicht. Eher ging sie davon aus, alles sei in völliger Ordnung. Felix atmete durch und beantwortete ihre Frage: „Nimm du nur.“

Er schaute zu seinem Hauswirt und konnte jäh wieder grinsen: „Zurück zum schönen Russen, mein Freund. Einen Penny für deine Gedanken, wie man auf Amerikanisch sagen würde.“ „Das ist eher Englisch. Wir haben Cent wie ihr auch“, korrigierte Fred kühl.

Rena griff zu ihrer Gabel und zog sich das Gurkenglas an den Teller. Verblüfft schaute sie auf: „Jungs, seid ihr noch ganz dicht? Denkt ihr etwa, ich interessiere mich für Alex? Den kleinen Aljoscha? Ich lach‘ mich weg.“ „Wieso? Ist er schwul?“ fragte Felix.

Seine Schwester starrte ihn mit offenem Mund an: „Was? Woher sollte ich das denn wissen? Das ist doch wohl auch völlig egal. Er ist ein großartiger Geiger und sehr nett. Geht mich einen Dreck an, ob er homo oder hetero ist. Echt, Fix, manchmal bist du sehr merkwürdig.“

Sie verstand seine Neugier offensichtlich überhaupt nicht. Ihr Bruder zuckte mit den Schultern: „Mir ist es auch wumpe. Aber frag mal Fred. Ich schätze, er ist nicht gerade glücklich, wenn du den Russen da küsst.“ „Der Russe da, wie du sagst, hat mich geküsst. Nicht ich ihn.“ Felix kicherte und gab einen Laut von sich, der skeptisch klang.

Rena holte tief Luft: „Wie kannst du so einen Blödsinn denken? Ich habe nicht … Fred, du hast es doch gesehen!“ „Ich habe allerdings gesehen, dass ihr euch geküsst habt“, langsam kam er wieder zur Vernunft und konnte normal darüber sprechen. Renas Empörung bewies ihm eindeutig, wie falsch er gelegen hatte.

„Wie bitte? Wir haben nicht uns geküsst. Ich jedenfalls nicht. Ich war nett und hab’s einfach … ertragen. Nicht wir. Er mich. Er. Mich!“ Sie fuchtelte mit der Gabel und dem aufgespießten Gürkchen zwischen Gurkenglas und sich hin und her. Das wirkte ziemlich komisch.

„Das hatte gar nichts weiter zu bedeuten!“ rief sie aus, als keiner der beiden ihre Worte auch nur mit einer Silbe kommentierte.

„Rena, raus mit der Wahrheit. Ihr Mädels wollt doch immer, dass wir Männer …“, begann Felix. „Ich will nie von fremden Kerlen abgeknutscht werden“, Rena schüttelte angewidert den Kopf und fuhr sehr ernst fort: „Ich habe echt überlegt, ob ich ihm eine klatsche. Aber das wäre dämlich gewesen. Alex hat sich einfach nur gefreut. Und wollte seine Freude mit mir teilen. Ich kann nämlich Schritt halten mit seinem Talent. Ich bin so gut auf dem Klavier wie er mit seiner Geige. Glaub’s mir, Fix. Ich bin fantastisch gut.“

„In was?“ Felix zog sie zu gern auf. „Du Widerling, du! Fix, du bist echt das Letzte“, sie hieb mit der Faust auf den Tisch. Das saure Gürkchen löste sich von der Gabel und flog ihrem Bruder ins Gesicht. Rena prustete los: „Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort. Große etwas später“, zitierte sie lachend.

Felix knurrte und aß die Gurke auf: „Blöde Gans. Dann esse ich die jetzt. Als Strafe für dich.“ Rena quietschte vergnügt und konnte nicht böse auf ihn sein.

Plötzlich fiel ihr auf, mit welch ausdrucksloser Miene Fred ihnen zuhörte. Er lächelte nicht mal über die Alberei. Felix nahm sich noch eine Scheibe Brot.

Mit gerunzelter Stirn hakte die junge Frau nach: „Willst du mir etwa sagen, du hättest auch geglaubt, ich …“ „Ich sage gar nichts, Serena.“ „Wenn du denkst, Aljoscha und ich … Warum sagst du nichts? Wir müssen darüber sprechen, wenn du so denkst.“ „Es ist ja nichts, nach allem, was du gerade gesagt hast“, erwiderte er wohlüberlegt.

Rena starrte ihn fassungslos an. Ihr fiel nichts ein. Wie sollte sie damit umgehen? Sie seufzte nur. „Jetzt würde ich den Penny für deine Gedanken bezahlen“, ruhig schaute er seine Freundin an. Doch sie lächelte nicht über die Redewendung.

„Nee. Noch nicht. Ich muss erst noch länger überlegen … gründlicher darüber …“, sie zögerte. Dann brach es aus ihr heraus: „Du musst wirklich lernen, mir zu vertrauen. Du traust mir gar nicht, oder?“ „Doch, ich vertraue dir. Ich bin mir darüber im Klaren, dass du mir sagen würdest, wenn etwas passiert. Aber … ich bin schon lange krank jetzt. Du musst seit Wochen … Monaten Rücksicht nehmen. Und er ist … wie alt? 20? 22? In deinem Alter.“

Wieder schluckte sie schwer. „Und du denkst, ich schone dich?“ Sie folgte seinem Gedankengang sehr wohl, obwohl ihre Lippen nun bebten: „Und du hättest nichts gesagt? Auch wenn ich ginge?“ „Worauf wartest du? Ein Drama? Oder – da er Russe ist – eine Art Kalten Krieg?“ Fred verzog keine Miene.

Darüber musste sie auch erst kurz nachdenken. Felix konzentrierte sich auf sein Brot und schaute nicht hoch. Er ahnte, was nun kam.

„Du … bist eifersüchtig auf Alex? Dieses Kind? Aber … Meine Güte, er sieht süß aus, aber er lebt nur für seine Musik. Er ist noch lange nicht erwachsen“, und nach einer winzigen Pause fügte sie hinzu: „Er ist nur ein Musikstudent. Wie ich. In meinem Fach. Mehr nicht. Wie deine Mandanten. Denk doch mal an diese Dame in dem dunkelgrauen Kostüm. Ach, Herr Myers“, sie verdrehte schwärmerisch die Augen und spielte den Auftritt der Mandantin vor.

Ihr Gegenangriff irritierte ihn zunächst, dann sah er sie gelassen an und tat das Argument achselzuckend ab. Über diesen Unsinn brauchte er kein Wort zu verschwenden, die Mandantin war eine alberne Gans, zumindest seiner Meinung nach.

Rena zog die Augen zusammen: „Du weißt aber, von wem ich rede. Diese mit dem dunklen Kostüm, wo der Rock so kurz war, dass er knapp ihren Hintern bedeckte. Du hast das auch gesehen. Du siehst nämlich alles, Fred.“ „Ja“, gab er zu.

„Eben. Und – bin ich deswegen eifersüchtig? Habe ich auch nur andeutungsweise gezeigt, dass ich diese Tussi hasse?“ „Ja. Jetzt.“ Er blieb kühl wie immer.

Leicht war es nicht, mit ihm zu reden. Diesmal stand ihr der Altersunterschied tatsächlich im Wege. Er verfügte nun mal über die größere Lebenserfahrung. Außerdem war er von eher schlechten Erfahrungen geprägt, besonders was seine Erlebnisse mit Jane anging, und an irgendeinen Ärger mit einer Freundin hier in Hannover erinnerte sich Serena ebenfalls, obwohl sie nicht mehr wusste, worum es damals gegangen war. Felix würde es wissen, er hatte es im Gegensatz zu ihr sogar miterlebt … Aber das hielt sie für ein so schwieriges Thema, dass sie es nicht berührte, wenn es nicht unbedingt sein musste.

„Wir müssen darüber reden“, wiederholte sie also nur. „Worüber?“ „Über alles das, was … über alles eben, Fred“, sagte sie mit leiser Traurigkeit. „Müssen? Musst du? Ich nicht.“

„Ich glaube, jetzt beeile ich mich doch lieber, ein schönes Mädel aufzureißen“, Felix stand auf und lächelte höflich. Auf keinen Fall wollte er in einen Kampf geraten, der für niemanden zu gewinnen war. Diese Stimmung kam ihm inzwischen allzu bedrohlich vor. Besser, er ließ sie damit allein und verzog sich aus dem Krisengebiet, so schnell er konnte.

„Soll ich Alex die Wiesbaden-Reise absagen?“ „Du hast es ihm versprochen. Er hat einen Vertrag. Du fährst also mit.“ „Kannst du auch mitkommen?“ „Nein. Ich habe ebenfalls einen Vertrag – übrigens mit deiner Familie. Den kann ich nicht brechen.“ „Aber … du … hast zumindest mal einen Moment darüber nachgedacht?“ riet sie. „Nur einige Sekunden. Aber es ist unmöglich.“

Aus Eifersucht? War das eine Sorte Eifersucht, die sie freuen sollte? Oder musste sie das alles umgehend bekämpfen? Sie wusste nicht, was richtig war. Es fiel ihr schwer, mit solchen Gefühlen umzugehen.

„Ach, Fred“, sie seufzte etwas traurig: „Vielleicht bleibe ich besser hier.“ „Nonsense“, ausnahmsweise kam die schroffe Reaktion auf Englisch, doch dann wechselte er wieder ins Deutsche: „Du hast es versprochen.“

Mit unglücklicher Miene schaute sie ihn an. „Da wusste ich auch noch nicht, was ich damit auslöse. Ich will nicht, dass du böse auf mich bist. Oder Alex. Oder Grieg.“

Es blitzte jäh in den Gletscheraugen auf: „Grieg auch? Mein Musikmädchen … Ihr seid untrennbar verbunden, dein Grieg, Alex – und du?“

Er erinnerte sich an einen Sommerabend, an dem die Familie diskutierte hatte, wer wohl zu Rena passen möge – einer, der ihre größte Liebe – zur Musik – akzeptieren konnte. Sie war auf jeden Fall die Mühe wert, konstatierte er mit einem schiefen Lächeln.

 

Rena legte den Kopf auf die Seite und schaute ihn fragend an. Sie musste sich nicht erkundigen, was er dachte. Fred erzählte ihr bereitwillig davon, und sie wusste sofort, was er meinte.

„Ja, das war oberpeinlich. Du warst dabei, während sie über mich redeten. Und die Musik. Ich war so verknallt und unglücklich über diese peinliche Nummer.“ „Er muss Humor haben und mögen, dass du Musik über alles schätzt – mehr als alles andere“, er blinzelte ihr zu.

Rena rang sich ein schräges Lächeln ab. Ein kleines Zugeständnis erlaubte sie sich – schon des Blinzelns wegen.

„Humor hast du.“ „Manchmal.“ „Es ist sicher total doof für dich, wenn ich alles über die Musik vergesse. Wie bei dieser Reise nach Wiesbaden. So gedankenlos Ja sage.“ „Manchmal“, gab er zu.

„Aber dich liebe ich viel mehr als alles andere, Fred. Das ist wirklich die Wahrheit.“ „Manchmal“, sagte er trocken, zum dritten Mal mit diesem Wort. Als sie keuchend Luft holte und zu einer Verteidigung ansetzte, schloss er sie mit einem leisen Lachen in die Arme.

Während Rena nach Wiesbaden fuhr, war Tom nach Salzburg unterwegs. Fred übernahm seinen Job als „Kindermädchen“ also ein weiteres Mal. Er wusste, wie ausgelastet Leona mit ihrem Hotel war. Im „Sonnigen Garten“ richteten sie gerade eine größere Tagung aus.

Zini lernte für ihr Abitur, sie konnte keinesfalls ihre Geschwister hüten. Für Jason war ein Aufpasser nicht wichtig, Tessa jedoch besuchte den Kindergarten schließlich nicht ganztägig und brauchte einen Erwachsenen, während ihre Eltern arbeiteten.

Tessa schlief längst, als ihre Mutter daheim ankam. Leona guckte müde und war kalkweiß nach ihrem viel zu langen Arbeitstag. Zini und Jason steckten mitten in einer Diskussion über die Mohammed-Karikaturen in der „Jyllands Posten“ vom September 2005, die gerade Tagesgespräch waren und sich zum religiösen Skandal entwickelten. Fred hörte ihnen schweigend zu.

Als er Leonas Blässe sah, sprang er eilig auf: „Du musst dich sofort setzen. Ich hole dir ein Glas Wasser. Oder soll ich dir lieber einen Kaffee kochen? Brauchst du etwas Essbares?“

Völlig verdutzt starrte sie ihn an: „Nein. Danke. Ich lass mich jetzt gern vom Fernsehen berieseln. Mir geht’s gut.“ „Das sieht mir nicht danach aus – respektive wirkst du nicht besonders gesund, Leo. Bitte, meine Liebe, setz dich. Hier, in den Sessel.“ Er nahm sanft ihren Arm und führte sie hin.

Verdattert staunte Zini ihn an. „Wow!“ machte sie. Leona lachte und sank in den angebotenen Sessel: „Ja, das denke ich auch gerade. Wörtlich. – Wir sind nicht daran gewöhnt, dass du so liebevoll besorgt bist …“

Fred stand neben ihr und sah wortlos auf sie herunter. Für einen Moment hatte er unbedacht gehandelt und keinen Gedanken daran verschwendet, nur ihr bezahlter Angestellter zu sein. Vielleicht betrachteten sie ihn mehr als Gast, doch er wurde garantiert nicht dafür honoriert, seine Arbeitgeberin dermaßen persönlich engagiert zu verhätscheln.

Inzwischen gewöhnte er sich immer schneller an die Veränderungen in seinem Leben – mit Serena, die oft erst spät nach Hause kam und ähnlich müde wie ihre Mutter aussah. Die Fürsorge, die seiner Liebsten zuteil wurde, hatte er diesmal schlicht auch auf ihre Familie übertragen. Er schluckte gegen die Verlegenheit an und hätte nur ungern erklärt, was er dachte – und warum.

„Nun guckt mal – ist doch interessant“, Leona wandte ihren Blick dem Bildschirm zu und winkte ihren Kindern, die daraufhin schwiegen. Sie hatte sehr schnell registriert, wie Freds Lächeln erstarb.

Selbst Zini spürte, wie falsch es wäre, auf Freds Verhalten zu reagieren und es womöglich zu kommentieren. Auch sie konzentrierte sich auf den Bericht im Fernsehen. Es ging um die Rente mit 67, und das gehörte schließlich zu ihrer Zukunft. Ein Beitrag über elternlose Kinder, die Extremes in katholischen und evangelischen Heimen erlebt hatten nach dem Krieg, folgte.

Nach diesem Programmpunkt schaltete Leona den Fernseher aus und schaute mit leiser Sorge ihre Kinder an. Zini fasste in Worte, was sie dachte über Heime, die Kinder mit Prügeln aufzogen: „Schlagen, vergewaltigen und zur Arbeit zwingen … Dieses arme kleine Mädchen, das das eigene Grab schaufeln musste … mit 8! Wie können Menschen … auch noch Nonnen, so grausam zu kleinen Kindern sein, Mama? Kleine Kinder foltern?“ Sie weinte fast.

„Liebling, das ist 30, sogar 40 Jahre her, das hast du doch gehört. Ja, ich weiß, es kann sein, dass solche schrecklichen Dinge auch heute noch passieren … Aber … Ach, ich weiß nicht. Ich habe keine Antworten auf eure Fragen, meine Schätze. Ich rege mich genauso auf wie ihr. Wenn ich dann auch noch höre, dass sie es tun oder taten, weil sie es gut meinen“, sie spuckte diese Worte fast aus und fuhr heftig fort: „Wer ein Kind seelisch schädigt … ich könnte explodieren … Aber nicht nur in Heimen, auch in manchen Familien … Wenn ich an meinen Stiefvater denke, lustig war das auch nicht. Nur bin ich da raus gekommen und habe es geistig gesund überstanden, dass er mich hasste. So schlimm war es nicht … Allerdings, andere Menschen …“

„Nicht bei uns. Nicht bei meinen Freunden. Bei keinem in der Schule. Nicole Tarrach hat doofe Eltern, aber die ist da ja weg. Zum Glück. Gut, dass Tom ihr dazu verholfen hat. Und Waisenkinder kenn‘ ich nicht“, zählte Zini auf und stockte jäh. Sie kannte doch jemanden, der im Waisenhaus aufgewachsen war: Frederick Myers.

Langsam wandte sie den Kopf zu ihm: „Du … im Waisenhaus … Los Angeles Orphanage … wir wissen ja … wie …“ „Ich musste kein Grab schaufeln, Zini. Ansonsten … Schön war es jedenfalls nicht“, schloss er achselzuckend. Doch Cynthia genügte diese knappe Ansage nicht. Etwas ängstlich beobachtete sie ihn und fragte bedächtigt und mit leiser Stimme: „Haben sie dich geschlagen?“

„Ja, sicher. Aber es gibt andere Strafen, die mehr schmerzen als eine Ohrfeige von einer völlig überforderten Erzieherin, die sich mit 15 oder 20 frechen Kindern auf einmal abgeben muss. Das versteht sogar ein Kind. Nach einer vorlauten Erwiderung kann das passieren. Strafen für Dinge, in die du nicht mal involviert warst, sind viel schwerer zu ertragen. Aber ich habe so wenigstens sehr schnell gelernt, wie wichtig es ist, sich an Gesetz und Ordnung zu halten – und wie ich selbst besser handeln will.“

„Wieso wurdest du von denen …“ „Ich war dumm genug, mich mit einigen Lügen für ein jüngeres Kind einzusetzen. Ich wusste nicht, dass der kleine Kerl da schon schwer krank war. Die Strafe war … grausam. Denn als er starb, nahm ich an, es sei meine Schuld – wegen der Lügen. Jedenfalls wurde mir das vorgehalten“, seine Stimme klang ruhig und verriet keinerlei Gefühle.

Mit einer Hand vorm Mund sah Zini ihn unglücklich an. Sie konnte nicht in Worte fassen, wie ungerecht und gemein sie solche Erzieher trotz seiner gelassenen Schilderung fand. Warum hatte niemand eingegriffen, um Fred zu schützen?

Leona stellte die neugierige Frage, die ihr auf der Seele brannte: „Wie alt warst du? Das muss furchtbar gewesen sein …“ „Neun. Vielleicht zehn“, ein ungewisses Schulterzucken.

„Aber … es war keinesfalls deine Schuld, Fred.“ „Ja, das habe ich auch begriffen – später. Es war reiner Zufall, dass der Kleine starb. Damals habe ich mir geschworen, nie wieder zu einer Lüge zu greifen. Logisch, oder? Trotzdem hat mir dort nie wieder jemand geglaubt.“

Nach einer kleinen Pause fuhr er, noch immer in aller Ruhe und sogar mit einem kleinen Lächeln, fort: „Und sie hatten endlich einen Sündenbock für alles gefunden, was in so einem Heim passiert. Das einzige, was ich wirklich angestellt habe, war die Sache mit Janes ohne Erlaubnis geliehenem Rad … Das spielte auch keine Rolle mehr. Ein paar Jahre später haben wir geheiratet, sie starb. Und für eine Weile habe ich auch das als Strafe angesehen. Als ich hier ankam, Leona.“