Kitabı oxu: «Emscher Zorn»
Mareike Löhnert
Emscher Zorn
Kriminalroman

Zum Buch
Gefährliche Freunde Jakob Teuber steckt in finanziellen Schwierigkeiten, lebt gemeinsam mit seiner zwanghaft gläubigen Mutter in einem renovierungsbedürftigen Mehrfamilienhaus im Dortmunder Norden und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Sein Leben verändert sich, als er den unberechenbaren Rumänen Nelu kennenlernt und sich eine Freundschaft entwickelt. Nelu führt Jakob in eine Welt ein, die aus Alkohol, Drogen, Einbrüchen, Prostitution und Betrug besteht. Erst als eine Katastrophe passiert, wird Jakob klar, dass er sich in einer Falle befindet, aus der er sich nicht befreien kann. Der realitätsferne Polizist Tim König und sein cholerischer Kollege Markowski kommen durch dubiose Umstände in Kontakt mit Jakob. Als ein Mord geschieht und die Ermittlungen der Kripo eingestellt werden, beginnt König in seiner Freizeit zu recherchieren und begibt sich auf die Suche nach Antworten. Das, was er finden wird, übertrifft alle seine Vorstellungen.
Mareike Löhnert wurde 1974 in Nagold geboren. Nachdem sie ihre Kindheit im Schwarzwald verbracht hat, ist sie in Norddeutschland aufgewachsen und lebt nun im Ruhrgebiet. In ihrem recht wilden Leben ist sie mit siebzehn Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen, wohnte in besetzten Häusern, machte eine Ausbildung zur Erzieherin, arbeitete in Diskotheken und Fabriken, war ein Jahr selbstständig und ist inzwischen seit neunzehn Jahren als Personalsachbearbeiterin in einem Paketdienst tätig. Emscher Zorn ist ihr erster Roman.
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © itsme / Pixabay
ISBN 978-3-8392-6736-3
Kapitel 1 – Jakob
Er stieß die wuchtige Holztür mit beiden Armen auf. Eine Wand aus lauter Schlagermusik, wirrer Gesprächsfetzen und Schwaden von Zigarettenqualm schlug ihm entgegen. Jakob ließ die grelle Mittagssonne hinter sich und tauchte in die stickige Dämmerung der Eckkneipe ein, wie ein Insekt, das vor dem Licht flüchtet. Der Laden war voll. Er schob sich durch dicht gedrängte, schwitzende Männerleiber bis zur Theke.
Ein Typ mit grünlicher Gesichtsfarbe rutschte von seinem Barhocker und verschwand taumelnd auf der Toilette.
Jakob hockte sich auf den frei gewordenen Platz, beugte sich nach vorne und legte mit geschlossenen Augen die Stirn auf den kühlen Tresen. So verharrte er, als hätte er sich in eine steinerne Statue verwandelt und wünschte sich weit weg.
Hinter der Bar schob sich Gustav, die dünnen Augenbrauen in seinem faltigen Gesicht nach oben gezogen, näher an ihn heran, wischte sich die Hände an einem schmutzigen Handtuch ab und musterte ihn interessiert.
»Na Jakob, um diese frühe Zeit schon Feierabend?«
Er lachte sein krächzendes Raucherlachen, das sofort in ein heiseres Husten überging.
»Siehste doch und jetzt mach hin, Alter. Heute hab ich es echt nötig«, brummte Jakob, öffnete ein Auge und blickte grimmig nach oben.
»Scheißtag gehabt, was?« Gustav nickte verständnisvoll.
Schnell und geübt zapfte er ein großes Pils, schüttete einen doppelten Korn ein, knallte die Gläser vor Jakob auf den Tresen und ließ ihn in Ruhe. Er war der perfekte Wirt. Er arbeitete zügig, schien mit seiner Theke verwachsen zu sein und hielt seine Schnauze, wenn es angebracht war.
Jakob kippte den Korn in einem Zug hinunter und spülte mit Bier nach. Er spürte deutlich, wie sich seine zitternden, vibrierenden Nerven beruhigten und ließ seinen Blick durch die Kneipe schweifen.
Es waren größtenteils ältere Männer, die hier schon in der Mittagszeit verkehrten und ihre armselige Rente versoffen, nur an der Dartscheibe standen zwei gelangweilt wirkende Jungs und warfen lustlos ihre Pfeile. Hatten wohl auch den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als hier herumzuhängen und die Zeit verstreichen zu lassen, so wie er. Die große Zeit der Kneipen im Ruhrgebiet war, nach den Schließungen der Zechen und Stahlwerke, vorbei.
Sinnlos. Alles war so sinnlos.
Wieder hatte er eine Maßnahme vom Jobcenter abgebrochen. Wieder würde es kein Geld geben. Leistungen gestrichen. So einfach war das. Er hatte es mit seinen 24 Jahren noch nie geschafft, länger als zwei Wochen einen Job zu behalten.
In den vergangenen zwei Tagen hatte er im Keuning-Park mit Schaufel, Harke und Schubkarren bewaffnet, den Kampf gegen Hundekot, gebrauchte Spritzen der Junkies, benutzte Kondome und anderem Müll aufnehmen müssen, wobei bei dem ganzen Dreck klar war, dass er sowieso nur als Verlierer aus der Schlacht herausgehen würde. Nach einer Nacht voller Drogenexzesse, Sex und überfütterten Kötern sah der Park am nächsten Tag genauso verdreckt aus wie zuvor. Die Mischung aus Gestank, den unzumutbaren Kollegen und der prallen Hochsommersonne, die unbarmherzig seinen Schädel während der Arbeit weichkochte, war zu viel für ihn gewesen.
Wut bohrte ihre langen, spitzen Krallen in seine Eingeweide, packte zu und ließ ihn nicht mehr los. Er ballte die Faust so fest zusammen, dass es schmerzte und widmete sich wieder ausgiebig seinen Getränken, als er bemerkte, wie sein Sitznachbar ihn anstarrte. Der blaue Heinz, wie man ihn im Allgemeinen nannte, saß oder hing vielmehr auf dem Hocker neben ihm und glotzte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Er war ein stadtbekannter Säufer, der bei Gustav seinen Stammplatz hatte.
»Was glotzt du so, Heinz? Schon wieder besoffen?«, raunzte Jakob ihn an.
»Hömma, Junge. Hab dich heute Morgen gesehen. Im Park bei der Maloche«, lallte Heinz und lächelte dümmlich, als sei er stolz auf sein gutes Erinnerungsvermögen.
Jakob stellte fest, dass er fast keine Zähne mehr in seinem Mund hatte.
»Wow, du solltest Detektiv werden«, Jakob wandte sich gelangweilt ab. Wahrscheinlich hatte der Alte auf einer Parkbank gesessen und sich schon morgens einen gezwitschert. Heinz griff nach seinem Arm, den Jakob hastig zurückriss.
»Wolltest den Kollegen kopfüber in den Schubkarren drücken und dann biste einfach abgehauen«, fing er wieder an.
»Der Typ hat es nicht anders verdient«, schrie Jakob den Alten an, »mach dir mal um mich keine Sorgen und quatsch mich nicht blöd von der Seite an.« Er schlug mit der Faust auf die Tischplatte. Gläser klirrten. Seine Nebenmänner warfen ihm irritierte Blicke zu. Jakob schüttelte sich hasserfüllt, als er sich an den übergewichtigen Kollegen erinnerte, der jeden Tag dasselbe rosafarbene, zu enge T-Shirt mit der Aufschrift »Bier formte diesen wunderschönen Körper« trug, wie ein Schwein schwitzte und alles nur Mögliche tat, um sich vor der Arbeit zu drücken.
»Ich geh da nicht mehr hin. Genug ist genug«, murmelte er.
Der blaue Heinz nickte sinnierend und glotzte traurig in sein leeres Glas. Gustav stellte zwei Kurze vor sie auf den Tresen.
»Die Welt ist böse, und die Menschheit besteht aus Lügnern und Egoisten. Dortmund ist nicht mehr das, was es einmal war«, stellte Heinz mit müder Stimme fest.
Jakob stimmte ihm zu. Sie stießen an, tranken, danach verlor sich wieder jeder von ihnen in seine eigene Gedankenwelt.
Jakob verbrachte den Abend in einer Art Dämmerzustand. Es gelang ihm nicht, richtig betrunken zu werden, es legte sich ein grauer Nebel über ihn und hüllte ihn wie eine Decke ein. Die Gäste verschwanden nach und nach, bis nur noch Jakob und der blaue Heinz schweigend an der Theke saßen.
Nachdem sich Gustav mehrere Male lautstark geräuspert und zuvor mehrmals angekündigt hatte, dass dies die letzte Runde sei, nahm er beiden die Gläser weg.
»Feierabend«, sagte er laut und deutlich, »ihr zwei Hübschen geht jetzt fein nach Hause und legt euch in eure Bettchen«, er hustete nachdrücklich und zündete sich eine Zigarette an, »und Jakob, lächele mal wieder. Bei deinem Lächeln geht die Sonne auf, sag ich immer. Steht dir besser, als dieses miesepetrige Gesicht. Wir wissen doch alle, dass du gar nicht so böse bist, wie du immer tust.« Er zwinkerte Jakob zu.
Jakob warf Gustav einen drohenden Blick zu, rutschte gehorsam von seinem Hocker, hob die Hand zum Gruß und trottete mit hängendem Kopf wie ein verjagter Hund nach draußen. Sein verschwitztes T-Shirt stank nach totem Tier.
Die Nacht war noch immer warm. Ruhe lag über dem sonst so lebendigen Nordmarkt. Jakob atmete tief die milde, nach Asphalt schmeckende Sommerluft ein, zog sich die rutschende Jogginghose hoch und schlug zu Fuß den Weg Richtung Schützenstraße ein, wo er gemeinsam mit Mutter lebte. Gedankenverloren trottete er durch die nächtliche Nordstadt.
Morgen musste er mit Mutter sprechen und ihr mitteilen, dass keine Bezüge mehr vom Amt kommen würden und sie wieder zu zweit von ihrer Witwenrente leben mussten. Finanziell würde es eng werden. Ohne Schulabschluss, waren die Jobs, die ihm angeboten wurden, das Allerletzte. Er vergrub die Hände tief in den Hosentaschen, passierte graue Straßen und marode Häuser, mit vor Schmutz starrenden Fenstern.
»Nazis auf die Fresse hauen«, hatte jemand mit einem Filzstift an eine Hauswand geschrieben. »Wie denn, ohne Arme?«, hatte ein Witzbold darunter gekritzelt.
Von irgendwoher erklang laute Musik, das hysterische Gebrüll eines Mannes folgte, dann war es still. Jakob stieg über einen ausgekippten Müllsack, der auf dem dreckigen Bordstein lag. Eine Ratte huschte an seinen Turnschuhen vorbei und lief eilig über die leere Straße. Jakob blickte ihr hinterher. »Verdammt«, schrie er in die Nacht und kickte mit dem Fuß einen leeren Waschmittelkarton zur Seite, »warum muss immer alles so verflucht schwer sein?« Seine Stimme hallte durch die Häuserschluchten. Er schrak zusammen, als er ein heiseres Lachen neben sich hörte und feststellte, dass er nicht alleine war.
Kapitel 2 – Jakob
Eine dunkle Gestalt hockte im Schneidersitz auf dem Dach eines parkenden Autos. In dieser Stadt war es normal, dass man zu jeder Tageszeit auf die skurrilsten Typen traf, dennoch bemerkte Jakob, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Er rührte sich nicht. Durch die Dunkelheit nahm er wahr, wie die schemenhafte Gestalt auf dem Autodach die Arme nach oben richtete und sich ausgiebig streckte.
»Warum denn so wütend?« Die Stimme des Mannes war dunkel und rauchig. Mit einem Satz sprang er, geschmeidig wie eine Katze, auf die Straße und lehnte sich an eine Hauswand. Sein Gesicht blieb im Schatten verborgen, nur seine Augen schienen im Dunkeln zu leuchten.
Wahrscheinlich hat der Typ einfach zu viel Kokain gezogen, versuchte Jakob, sich zu beruhigen, doch die plötzliche Nervosität, die sich in ihm ausbreitete, ließ sich nicht vertreiben. Der Mann trat aus dem Schatten und kam auf Jakob zu. Er war etwa in seinem Alter. Feste Bauchmuskeln bildeten sich unter seinem schwarzen Seidenhemd ab und er trug eine teuer aussehende, perfekt sitzende Anzughose. Sie starrten sich an. Jakob hatte noch nie ein so schönes Männergesicht gesehen. Er glotzte in die tiefblauen Augen des Mannes, auf die harten, hervortretenden Wangenknochen in der fast schon weiblichen Form des schmalen Gesichts, die glatte, hellbraune Haut und das dunkle, nach hinten gegelte Haar und kam sich vor wie ein Idiot.
»Ich hab dich was gefragt«, zischte der Mann, »ich hab dich gefragt, warum du wütend bist.« Er strahlte eine Gefährlichkeit aus, die Jakob faszinierte. Sein Blick blieb an der gezackten Narbe hängen, die sich, zartrosa schimmernd, quer über den Hals des Mannes zog. Er riss sich zusammen und sah beschämt zu Boden. »Bin immer wütend«, murmelte er.
Der Mann nickte wissend und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Nelu.«
Jakob schlug ein und nannte seinen Namen.
»Vielleicht sieht man sich mal wieder.« Nelu zuckte gelangweilt mit den Schultern, wandte sich ab und ging.
Jakob spürte verwundert ein nagendes Gefühl von Sehnsucht, als er dem Mann, dessen Präsenz die ganze Straße einnahm, hinterher sah. Die Schützenstraße schien endlos lang zu sein. Im fahlen Licht der vereinzelten Straßenlaternen hatte er das Gefühl, durch eine Geisterstadt zu wandern. Grau an grau lehnten sich die Häuser, die ihre besten Tage längst hinter sich gelassen hatten, aneinander und beobachteten ihn aus blinden Fenstern.
Endlich kam er an dem renovierungsbedürftigen Mehrfamilienhauses an, in dem er mit Mutter lebte. Er schlurfte die Treppen hinauf bis ganz nach oben.
»Hier wohnen Marianne und Jakob Teuber«, stand auf dem grottenhässlichen, selbst getöpferten Herz, das an der Wohnungstür hing. Peinlich berührt sah Jakob weg. Wenn man das las, könnte man denken, dass hier ein Ehepaar wohnen würde und nicht Mutter und Sohn.
Leise schloss er auf und betrat auf Zehenspitzen die Wohnung, um Mutter nicht zu wecken. Wie immer empfing ihn ein dumpfer Geruch nach Kohlrouladen, der sich nicht vertreiben ließ, egal, wie stark man lüftete. Er schlich durch den engen, schlauchförmigen Flur. Sein Blick fiel nach vorne. Das gerahmte Bild nahm die gesamte Wandbreite ein. Wie immer starrte der streng aussehende Jesus, der darauf in Lebensgröße abgebildet war, strafend auf ihn hinunter, beobachtete jede seiner Bewegungen und ließ ihn nicht aus seinen stumpfen Augen. Er schien bereits auf ihn gewartet zu haben.
»Hör auf zu glotzen, du blöde, langhaarige Tunte«, murmelte Jakob leise in Richtung Bild. In seinem Zimmer streifte er erleichtert die Turnschuhe von den Füßen und warf sich auf sein Bett. Er landete auf etwas Hartem und griff mit einer Hand unter seinen Rücken. Er stöhnte, als er erkannte, was es war. Mutter hatte ihm wieder eine Bibel auf sein Bett gelegt.
Sie würde nie aufgeben.
Er warf die Bibel mit Schwung in die andere Ecke des Zimmers, wo sie erst an die Wand knallte, dann aufgeschlagen auf dem Teppich liegen blieb. Seine gesamte Kindheit hatte er in der Kirche verbracht. Als Vater noch lebte, war es Jakobs einzige Aufgabe gewesen, zu beten, zu schweigen und sich möglichst unauffällig zu verhalten. Nach Vaters Tod, begann er zu rebellieren. Er ging nicht mehr in seine verhasste Schule und heftige Wutanfälle schalteten seinen Kopf aus, die ihn von einer Schlägerei in die nächste führten. Noch immer fühlte sich sein Leben an, als würde er in einer Zwangsjacke stecken, deren Druck sich nur löste, wenn er seiner Wut freien Lauf ließ. Er konnte nichts daran ändern.
Eine bleierne Müdigkeit legte sich über ihn. Er dachte an den seltsamen Mann, der ihm auf dem Weg nach Hause begegnet war. Nelu hatte etwas Besonderes an sich gehabt. Etwas, wonach sich Jakob in seinem tiefsten Inneren sehnte.
Die Albträume ließen, wie fast jede Nacht, nicht lange auf sich warten. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein hatten sie den ganzen Tag gelauert, still und verborgen, und hatten Hände reibend auf den Moment gewartet, in dem er endlich in den Schlaf fiel. Sie quälten ihn, bis der Morgen sie vertrieb.
Jakobs T-Shirt klebte feucht an seinem Körper, als er erwachte. Es war Samstag.
Eine Weile lag er in seinem Bett, ohne sich zu rühren, und weigerte sich, die Augen zu öffnen. Wofür sollte er aufstehen?
Die Langeweile, die sein Leben beherrschte, legte sich wie Klebstoff über ihn, ließ ihn bewegungslos werden und nahm ihm die Luft zum Atmen. Erst als ihm einfiel, dass heute ein wichtiges Fußballspiel stattfinden würde und er tatsächlich eine Karte fürs Stadion hatte auftreiben können, begann er, sich zu regen.
Fußball, dieses dämliche Spiel, bei dem erwachsene, durchtrainierte Männer einem Ball hinterherliefen wie Kinder und das Ganze für ein Weltgeschehen hielten.
Er war kein Fan irgendeiner Mannschaft, schaute sich nie ein Spiel im Fernsehen an. Das Einzige, was er an Fußball liebte, war diese aufgeheizte, gewaltbereite Stimmung im Stadion. Diese Aggression, die alles beherrschte und aus einem braven Familienvater ein wildes Tier werden ließ. Heute fand das lang ersehnte Revierderby statt. Gelb gegen Blau. Auf Aggressionen würde er nicht lange warten müssen. Heute ist ein guter Tag, um sich mal richtig zu schlagen, beschloss er und stieg aus dem Bett.
Wie immer hatte Mutter den Küchentisch liebevoll gedeckt. Sobald er sich setzte, hörte er das Schlappen ihrer Hausschuhe näher kommen und spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten. Sie schob ihren runden, weichen Körper zu ihm in den Raum und strich mit der Hand über sein millimeterkurz rasiertes Haar.
Unwillig zog er den Kopf zur Seite.
Aus dem Wohnzimmer dröhnte das stumpfsinnige Geplapper des Fernsehers.
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch.
»Habe ich einen Hunger, Hase. Mir knurrt der Magen, aber ich wollte so gerne mit dir zusammen frühstücken, also habe ich gewartet. Ich sehe dich ja so selten, jetzt, wo du jeden Tag auf der Arbeit bist.« Sie strahlte ihn dämlich an, während sie ihm Kaffee einschenkte und fürsorglich eine Scheibe Graubrot aus dem Discounter auf seinen Teller legte.
Jakob beobachtete sie schweigend. Er hasste dieses Gefühl von Mitleid, das ihn überkam, wenn er sie ansah.
Sie faltete ihre Hände und schloss die Augen. »Herr. Wir danken dir für Speis und Trank. Gesegnet seien deine Gaben und deine Güte. Amen.«
»Amen«, antwortete Jakob leise. Er bestrich sein Brot lustlos mit Marmelade und biss hinein. Mutter schien es wie immer zu schmecken. Sie kaute mit vollen, rosigen Backen. »Ich muss mich beeilen. In einer halben Stunde fängt die Quizshow ›Raten mit Robert‹ an. Danach läuft gleich der Rosamunde-Film. Ich liebe das Fernsehprogramm am Samstagnachmittag.« Ihr einfältiges Lächeln hatte etwas Seliges.
Komisch, dachte Jakob, sie hängt den ganzen Tag vor der Glotze, verlässt das Haus nur zum Einkaufen und am Sonntag, wenn sie zum Gottesdienst die Straße runter in die Pauluskirche wackelt, trotzdem scheint sie glücklich zu sein. Wie macht sie das nur?
Er räusperte sich. »Mutter, ich muss dir was sagen.«
»Was denn?«, fragte sie. »Hase?« Ihre Stimme nahm einen misstrauischen Ton an.
»Die Maßnahme vom Jobcenter. Ich bin gestern gegangen. Habe abgebrochen. Bin mit den Kollegen nicht klar gekommen.« Er sah sie an.
Es dauerte lange, bis sie reagierte.
»Warum sind die Menschen immer so gemein zu dir, Jakob? Ich bin mir sicher, dass du nichts falsch gemacht hast. Die Leute verstehen dich einfach nicht. Das war schon immer so. Ärgere dich nicht, Hase. Es wird alles gut.« Sie widmete sich wieder ausgiebig ihrem Teller und verzog trotzig die Mundwinkel.
Jakob nahm das angespannte Flackern in ihren Augen wahr.
»Es geht nicht darum, ob ich mich ärgere oder nicht«, brauste er auf und kämpfte darum, nicht laut zu werden, »es geht darum, dass uns das Geld fehlen wird. Das Jobcenter wird nichts mehr zahlen. Verstehst du? Was machen wir jetzt?«
Ihr Blick irrte in der Küche umher, ohne etwas zu fassen, streifte planlos über die ramponierte Kücheneinrichtung.
»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, flüsterte sie mit wackliger Stimme, »wir sind Gottes Kinder, und alles hat seine Richtigkeit, auch wenn wir es im ersten Moment nicht verstehen. Wir müssen einfach vertrauen. Das hat dein Vater auch immer gepredigt. Erinnerst du dich?« Ein verklärtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Jakob spürte die Blitze, die plötzlich in seinem Kopf zu zucken anfingen, ein violetter Schleier legte sich über seine Augen, und er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
»Du sollst nicht mit mir über Vater sprechen. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«, keifte er sie an. Er schnappte nach Luft und knallte mit zitternder Hand seine Kaffeetasse auf den Tisch. »Bin fertig«, murmelte er mit heiserer Stimme und sprang auf, »ich leg mich noch mal hin.«
»Ok, Schatz«, rief sie gut gelaunt und begann, vor sich hin summend, den Tisch abzuräumen. Sie war eine Meisterin darin, die Realität zu verdrängen. Fluchtartig verließ er die Küche und verschwand in seinem Zimmer. Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Es gelang ihm nicht, dafür zu sorgen, dass es Mutter gut ging. Nichts in seinem Leben gelang ihm.
Die gewohnte Geräuschkulisse des Fernsehers, die durch die Wohnung hallte, wurde lauter.
Er griff mit einer Hand unter das Bett und zog die Flasche Wodka hervor, die er dort deponiert hatte. Er trank einen großen Schluck direkt aus der Flasche und wurde augenblicklich ruhiger. Noch zwei Stunden, bis er zum Fußball gehen würde. Genau die richtige Zeit, um schon mal vorzuglühen. Er setzte die Flasche an.