Amorphis

Mesaj mə
Müəllif:
0
Rəylər
Fraqment oxumaq
Oxunmuşu qeyd etmək
Şrift:Daha az АаDaha çox Аа

6. DER VERTRAG MIT RELAPSE

ALS AMORPHIS AN den Start gingen, war Finnland gerade auf dem Weg in eine tiefe Wirtschaftskrise. Zwischen 1990 und 1993 stieg die Arbeitslosenquote von 3,5 % auf 18,9 %. Wie Dominosteine kippte ein Unternehmen nach dem anderen, mit dem Ende der Sowjetunion brach der Export ein, die Zinsen schossen in die Höhe und die Zukunft sah düster aus. Die anhaltende Depression prägte Stimmungslage, Politik und Kultur. Eine Krise durchlebte zeitgleich auch der Hardrock- und Metalmarkt. Übersättigt von dekadentem Glamrock und technischer Virtuosität, sehnte sich das zahlende Publikum nach Musik, die Gefühl bot statt Technik, Rotz statt Glamour und Alltag statt Fantasy.

Grunge kam wie gerufen. Der Stil, der von Seattle aus die Welt eroberte, verband Heavy-Gitarren mit der revolutionären Haltung des Punk. Abgerissene Klamotten waren in, Make-up und toupierte Haare out. NIRVANA, SOUNDGARDEN, ALICE IN CHAINS und STONE TEMPLE PILOTS verdrängten POISON, WARRANT, SKID ROW und MÖTLEY CRÜE. Jeans, Flanellhemden und simple Akkorde traten an die Stelle von technischer Brillanz, Pyrotechnik und Marshall-Stacks. Metal und Hardrock waren auf einmal altmodisch und weitab vom Scheinwerferlicht, und die wenigen, welche die darwinistische Selektion überlebten, änderten ihren Stil. Die „gefährlichste Rockband der Welt“ GUNS’N’ROSES polierte sich mit Backgroundsängerinnen, Orchester und überdimensionalen Bühnen- und Plattenproduktionen auf. METALLICA erging es wie den Haaren der Bandmitglieder: Image und Musik wurden auf salonfähig getrimmt. Unter Anleitung des Produzenten Bob Rock traten die verzerrten Gitarren in den Hintergrund, das Tempo wurde zurückgenommen, der Gesang wurde sauberer und mehrstimmig – und die Band zu Superstars.

Trotz der allgemeinen Talfahrt des Metal blühte die Death-Subkultur. Die Mitglieder von AMORPHIS verspürten jedoch zunehmend Frustration, weil es nicht so recht voranging. Die Volljährigkeit rückte näher und der Musikgeschmack wandelte sich. Der Sensenmann schien bereits seine Klinge zum letzten Streich zu erheben: Die Gruppe hatte seit zwei Monaten weder geprobt noch live gespielt und ihre Mitglieder sich auch in ihrer Freizeit kaum gesehen. Doch eines Tages klingelte das Telefon.

Luxi Lahtinen hatte die Angewohnheit, Bands, die er mochte, um 10-20 Demokassetten zu bitten, welche er dann auf eigene Kosten an Plattenfirmen und Radiostationen versendete. Zu seinen Kontakten zählte die kurz zuvor gegründete US-Firma Relapse, der er das ABHORRENCE-Demo Vulgar Necrolatry geschickt hatte. „Ich wohnte damals noch bei meinen Eltern“, berichtet er. „An einem Abend klingelte es ziemlich spät: Matt von Relapse war am Apparat und fragte nach Koipparis Telefonnummer. Er sagte, dass er ABHORRENCE unter Vertrag nehmen wollte. Kurz danach schellte es wieder und meine Eltern sagten, das ist schon wieder der Typ von der Plattenfirma. Er hatte versucht, bei Koippari anzurufen, aber da war niemand drangegangen. Ich sagte, der wäre wahrscheinlich mit Freunden unterwegs. Matt meinte nur, ‚okay, wir versuchen’s später nochmal.‘“

Als nächstes klingelte das Telefon bei ABHORRENCE-Sänger Jukka Kolehmainen, der gerade mit Koivusaari zusammen Geburtstag feierte. Beide wurden am 11. April geboren, und die gemeinsame Party hat mittlerweile schon mehr als zwei Jahrzehnte Tradition. Am anderen Ende der Leitung war Lahtinen und sagte, Tomi solle so schnell wie möglich Matthew Jacobson in Pennsylvania anrufen, da Relapse mit einem Plattenvertrag winkte. „Matt hatte das ABHORRENCE-Demo gehört und wollte uns unter Vertrag nehmen“, so Koivusaari. „Die EP kam damals erst raus und sie dachten, die Band gäbe es noch. Ich sagte, dass wir uns leider aufgelöst hätten, und erwähnte, dass ich eine neue Band hatte – wären sie vielleicht an einem Deal mit dieser interessiert? Ich erinnere mich gar nicht mehr, ob die das AMORPHIS-Demo überhaupt jemals erhielten. Sie waren interessiert, wollten aber, dass wir auch Vulgar Necrolatry von ABHORRENCE aufnehmen, weil das die Nummer war, die sie gut fanden. Wir hatten nichts dagegen. Damit begann der Schriftverkehr.“

AMORPHIS hatte auch von einem zweiten damals neu gegründeten und später bedeutenden Metal-Label ein Angebot erhalten, nämlich Osmose aus Frankreich. Die Mitglieder hatten die Vertragspapiere sogar bereits unterschrieben, jedoch noch nicht zur Post gebracht. Der Anruf von Relapse kam am selben Tag, an dem Osmose noch einmal bei AMORPHIS Druck gemacht hatte, sie mögen doch bitte den unterschriebenen Vertrag zurücksenden.

„Ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund wir uns für Relapse entschieden. Vielleicht, weil’s Amerikaner waren. Wir hatten bestimmt das Logo auf irgendeiner Single gesehen. Osmose bot ein komplettes Album an und Relapse eine Split-LP mit INCANTATION, die Split-Alternative sagte uns vielleicht etwas eher zu. Ich glaub’, ohne dieses Angebot wäre die Band damals ziemlich schnell eingeschlafen“, überlegt Koivusaari.

Holopainen erinnert sich, dass bei der Entscheidung auch eine Rolle spielte, dass Osmose erst wenige Tage zuvor ihre erste Platte veröffentlicht hatten – SAMAELS Worship Him (1991) – und ansonsten noch keine Referenzen bieten konnten. Ein Vertrag mit einem amerikanischen Plattenlabel war für eine finnische Death-Metal-Band etwas Unerhörtes, wo doch noch nicht einmal die einheimischen Firmen Interesse zeigten. Auch in anderen Genres waren ausländische Verträge eine Seltenheit. Musik aus Finnland war noch weit davon entfernt, ein Exportschlager zu werden.

„Als Grunge groß rauskam, wollte vom Metal plötzlich niemand mehr was wissen“, blickt Holopainen zurück. „Finnische Plattenfirmen nahmen eh keine Heavy-Bands unter Vertrag. Riku Pääkkönen gründete dann Spinefarm und brachte FUNEBRE und SENTENCED raus, aber die übrigen Labels gingen in völlig andere Richtungen. Wir hätten uns gar nicht vorstellen können, dass eine Band wie wir zu einer großen oder gar internationalen Firma geht. Partner suchte man sich im Underground. Ich hielt’s bestenfalls für möglich, dass irgendein neues Minilabel daran interessiert sein könnte, was von uns zu veröffentlichen.“

Die Band nahm Relapses Angebot über drei Alben an, ohne lange zu überlegen oder irgendetwas zu unterschreiben. Im Mai 1991, einen Monat nach dem ersten Telefonat, waren AMORPHIS wieder in Tolkkis TTT-Studio und nahmen drei Stücke auf: zwei vom Disment Of Soul-Demo sowie eine Coverversion von Vulgar Necrolatry, bei der ABHORRENCE-Solist Jukka Kolehmainen am Mikro stand. „Ich verwendete für die Aufnahmen Drumsticks aus Kohlefaser“, berichtet Rechberger. „Irgendwie brachte ich’s fertig, mit dem Finger an der Snare hängenzubleiben. Weiß nicht wie, aber es tat sauweh. Der Finger war sofort krass geschwollen und am nächsten Tag dunkelblau. Wahrscheinlich war irgendwie Dreck unter die Haut geraten. Tolkki war die ganze Zeit dran, ‚mit dem Finger machste nix mehr, der muss amputiert werden‘. Musste er natürlich nicht, aber der Fingernagel sieht heute noch seltsam aus. Da wächst so ein komischer Fortsatz.“

Die für die Split-LP aufgenommenen Stücke klangen sowohl vom Spiel als auch von der Produktion her besser als das Demo, gemessen an heutigen Standards jedoch weiterhin ziemlich ungeschliffen. Auch im Hinblick auf Kompositionen und Arrangements war die Band besser eingespielt, auch wenn von Meisterschaft noch keine Rede sein konnte.

Der nächste Stopp nach der Studiosession war ein Bandwettbewerb im Jugendzentrum von Herttoniemi. Wie üblich, hatte die Band vor dem Betreten der Bühne kräftig vorgeglüht. Die Jury bestand aus dem Musiker Aki Sirkesalo, der 2004 bei dem verheerenden Tsunami in Thailand umkam, dem Musiker-Politiker Kimmo Helistö, der auch seinerzeit ABHORRENCE beurteilt hatte, und der Musikreporterin Virve Valli, die sich schon Anfang der Achtziger als Mitgründerin von Rumba verdient gemacht hatte. Sirkesalo bezeichnete die Songs als langweilig und „undeutliche Matsche“. Helistö vermisste am brachialen Sound des Quartetts Klangfarben und Abwechslung. Am kritischsten und direktesten war Valli, der die Musik von AMORPHIS als introspektiver Brei ohne Zweck oder Zielgruppe erschien. Sie forderte die Band dazu auf, ihre Proben mitzuschneiden und sich die eigenen Songs acht Stunden lang in einem verdunkelten Raum anzuhören. Die Gruppe nahm das Feedback mit Humor – die gegen den Mainstream gerichtete Provokation war ganz offensichtlich geglückt.


Das frisch aufgenommene Tonband wurde an Relapse geschickt, doch von dem versprochenen Split-Album war plötzlich keine Rede mehr. Erneut schlich sich Frustration ein. Den Musikern kamen Zweifel, ob die Platte jemals erscheinen würde. Das Label veröffentlichte jedoch im Juni eine schlicht Amorphis betitelte Single mit zwei von den Stücken, die bei der Session aufgenommen wurden: Vulgar Necrolatry und Misery Path. Auf dem Cover prangte eine überarbeitete Version des „Batman-Logos“ auf schwarzem Grund. Schließlich verkündete Relapse, dass aus der Split-LP nichts würde, AMORPHIS jedoch stattdessen ein komplettes Album aufnehmen dürfe. Laut Holopainen scheiterte die Split-Veröffentlichung daran, dass sich der amerikanische Vertrieb Important geweigert hatte, die Scheibe ins Programm zu nehmen. Luxi Lahtinen bekam eine andere Story zu hören. „Ich interviewte Jahre später John McEntee, den Gitarristen und Sänger von INCANTATION“, berichtet er. „Als INCANTATION ihre Hälfte eingespielt hatten, hörten sie die Aufnahme von AMORPHIS und kamen zu dem Schluss, dass diese zu gut war, um zusammen mit ihrer eigenen zu erscheinen. Die INCANTATION-Stücke wären im Vergleich völlig untergegangen: AMORPHIS hatten die fetteren Sounds, die besseren Songs und die eingängigeren Riffs. Letztendlich kam es so, dass beide komplette Alben für Relapse aufnahmen.“

 

Während das Material für das Debütalbum allmählich Gestalt annahm, ließen sich AMORPHIS bei diversen Veranstaltungen sehen. Die größte davon war das Indoor-Festival Day of Darkness in der Sporthalle von Oulu am 23. 08. 1991 mit IMPALED NAZARENE, BEHERIT, DEMIGOD, BELIAL, BLACK CRUCIFIXION und SENTENCED. Im Nachhinein betrachtet, war dieses Line-Up schlichtweg legendär, aber die Tickets kosteten lächerliche 20 Finnmark – knapp über drei Euro.

„Oppu hatte vor dem Gig ein Mädel aufgetrieben, das sie nicht alle beisammen hatte. Sie wollte, dass wir sie fesseln und nach ihr treten. Wir wunderten uns nur. Dann versuchte sie irgendwas und Oppu brüllte halb im Ernst los, dass er vergewaltigt würde“, erinnert sich Koippari.



In der Sporthalle Oulu vor dem Auftritt beim Day of Darkness, 23. 08. 1991.

Bereits vor dem Gig war Oppu unter einem Busch eingeschlafen. Die Kollegen zuckten mit den Schultern und becherten munter weiter. Gerade noch rechtzeitig bekamen sie mit, wie sich ein Einsatzkommando der evangelischen Jugendmission anschickte, den besinnungslosen Bassisten in einen Kleinbus zu zerren. „Nehmt den bloß nicht mit, wir haben gleich ’nen Gig!“ rief Koivusaari.

„Lasst uns den erstmal zum Ausnüchtern bringen!“ kam es zurück.

„Das ist völlig normal! Unsere Show fängt gleich an, lasst ihn da liegen, das ist unser Bassist!“ Erst nach vielen schönen Worten willigten die Jugendarbeiter ein, Oppu seinen Kumpanen zu überlassen. Die Band war noch einmal davongekommen.

AMORPHIS spielten als Vorletzte, zwischen BEHERIT und SENTENCED. Zu den Requisiten von IMPALED NAZARENE zählte neben Corpsepaint auch eimerweise Rinderblut, sodass die ganze Halle für den Rest des Abends nach Eisen stank. Als AMORPHIS zu den Klängen eines als Intro dienenden finnischen Diskoschlagers die Bühne betraten, fanden sie diese von einem Teppich aus schwarzen Müllsäcken bedeckt und voller Blutlachen. „Es war so rutschig, dass alle auf der Bühne herumwatschelten wie Ozzy heutzutage, um nur ja nicht auszurutschen“, erinnert sich ABHORRENCE-Sänger Jukka Kolehmainen, der damals im Publikum war. „Der Gig war krass. In der ersten Reihe standen ein paar kreischende Mädels. Als Oppu zwischendurch an den Bühnenrand ging, griff ihm eine von denen in den Schritt und quetschte ihm die Eier, so richtig dass es wehtat. Danach hatte er blutige Fingerabdrücke auf der Jeans. Damals gingen die Leute bei Metalgigs ganz anders ab als heute, weil es einfach viel zu wenig davon gab. AMORPHIS kamen von Anfang an gut beim Volk an.“

Die Setliste bestand aus den für die Split-LP aufgenommenen und später auf der EP Privilege Of Evil veröffentlichten Songs – in derselben Reihenfolge wie dort – sowie dem Demo-Titeltrack Disment Of Soul. Vor allem zu Beginn der Show waren die Saiteninstrumente ziemlich unterschiedlich gestimmt, was jedoch niemanden ernsthaft kümmerte. Man war in Oulu, um Spaß zu haben und dem Publikum eine geballte Ladung Death Metal zu verpassen, ohne Rücksicht auf Details. Ein Stimmgerät besaß ohnehin niemand. Nach dem zweiten Song kam das Groupie, das Oppu schon vor dem Gig bedrängt hatte, oben ohne auf die Bühne.

„Von IMPALED NAZARENE war noch ein Eimer Blut über. Oppu schüttete es über die Frau, pappte ihr Klebeband über den Mund und haute ihr ein paar runter, weil sie das unbedingt wollte. Dann drehte er sich zu uns um, ‚verdammt noch mal, macht ihr auch was!‘ Ich ging dann schüchtern hin und tat so, als würde ich nach ihr treten, aber natürlich nicht so, dass es wehgetan hätte. Ich kam mir vor, als wär ich im falschen Film. Ich wollte Musik machen, keine Frauen erniedrigen!“ klagt Koivusaari.

Trotz Spielfehlern, zwischenzeitlichem Ausfall der Gitarren sowie Koivusaaris Heiserkeit zum Ende hin zog die Band den kompletten Gig durch. Er ist heute noch auf Bootlegs zu finden. Das nordfinnische Fanzine Hellspawn schrieb hinterher, die Show wäre langweilig gewesen, aber dadurch gerettet worden, dass „eine ortsansässige Schlampe auf die Bühne kam und mit Bassist Oppu eine Orgie abzog.“ Die Bandmitglieder waren selber nicht so recht zufrieden mit ihrer Leistung. Bevor er die Bühne verließ, krächzte Koivusaari ins Mikro: „War für’n Arsch, aber wen interessiert’s?“ Der Seufzer brachte Wesen und Einstellung von AMORPHIS anno 1991 präziser auf den Punkt, als es dem Gitarristen in jenem Moment bewusst war: bei den Gigs ging es nicht um Ruhm und Ehre, sondern darum, sich mit guten Freunden ordentlich zu besaufen.



7. DIE AUFNAHME VON THE KARELIAN ISTHMUS

DAS TIMING VON AMORPHIS war perfekt. Europäische Labels wie Nuclear Blast und Earache verschrieben sich immer stärker dem Death Metal, und auch in den USA wuchs das Interesse. Viele amerikanische Bands ließen sich von europäischen beeinflussen, insbesondere den schwedischen. In Finnland waren Death-Metal-Bands immer noch dünn gesät, aber Relapse hatte das Potential von AMORPHIS erkannt. Wohl aus diesem Grunde stimmte das Label dem Vorschlag der Band zu, das Debütalbum The Karelian Isthmus (1992) in Tomas Skogsbergs Sunlight-Studio aufzunehmen, der Geburtsstätte von Genreklassikern wie Into The Grave von GRAVE, Soulside Journey von DARKTHRONE, Like An Everflowing Stream von DISMEMBER (alle 1991) und den beiden ersten ENTOMBED-Alben. Die jungen Finnen waren hellauf begeistert, denn in ihrer Welt gab es nur zwei Traumstudios: Morrisound in Florida und Sunlight in Stockholm.

„Das war einfach nur wahnsinnig geil, dass eine amerikanische Firma uns die Möglichkeit bot, im Sunlight aufzunehmen. Wir standen voll auf ENTOMBED und die anderen Schwedenbands, und deren Platten waren allesamt da entstanden. Natürlich haben wir das groß gefeiert und reichlich begossen!“, schwärmt Rechberger. Laut Koivusaari war schon allein der Gedanke begeisternd, zumindest einmal im Leben ein komplettes eigenes Album aufnehmen zu können. Nach Schweden ging es auf einem Kreuzfahrtschiff der Viking Line, das seinen Ruf als Partydampfer nicht von ungefähr hatte. Mit von der Partie war Skogsberg-Fan Nalle Österberg, der AMORPHIS während des Schweden-Aufenthalts Gigs zu verschaffen versuchte – allerdings ohne Erfolg.


Auf dem Weg ins Sunlight.

© Nalle Österman


Die Helden in der Schiffsbar.

© Nalle Österman

„Da kamen auch andere Leute aus Finnland, die gerade zufällig in Schweden waren und für einen Abend vorbeischauten, zum Beispiel Kasper Mårtenson. Brachten immer ’ne finnische Zeitung mit“, erinnert sich Koivusaari. Die Musiker erwarteten einen gewaltigen Studiokomplex mit riesigem Mischpult und teurer Ausrüstung, doch in Wirklichkeit war das weltberühmte Sunlight kaum größer oder edler als Tolkkis TTT. Laut Rechberger hatte Skogsberg ein etwas größeres Pult und ein 24-Spur-Tonbandgerät, dazu eine Auswahl Kompressoren, EQs und Prozessoren. Aufnahme- und Kontrollraum befanden sich im Keller eines Mehrfamilienhauses; in einer Ecke war ein Stapel Keyboards aufgetürmt. Hinzu kam ein etwas größerer Aufenthaltsraum mit Kochnische, Bar und KISS-Flipper. Es war jedoch alles sauber, ordentlich und im Grunde sehr gemütlich.


Snoopy, Oppu, Koippari und der KISS-Flipper im Sunlight.

„Das Sunlight war nach heutigen Maßstäben ein Demostudio, wirklich nichts Besonderes“, betont Holopainen. „Uns empfing ein phlegmatischer alter Punk, der wahrscheinlich sein Lebtag lang Dope geraucht hatte. Gut drauf und locker. Im Nachhinein analysiert war Skogsberg zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sein persönlicher Sound wurde durch DISMEMBER und ENTOMBED zum Merkmal der Szene. Es war eine Epoche für sich: Skogsberg drückte den Produkten seiner Zeit den Schweden-Stempel auf. Genau diesen Sound wollten wir, und Skogsberg war der Meister.“ Skogsberg rauchte Kette, den Aschenbecher auf dem Mischpult und die gelbe Blend-Schachtel samt Feuerzeug stets in Griffweite. Auch die ganze Band rauchte zu jener Zeit, und das schwarz gestrichene Studio war kontinuierlich von grauen Rauchschwaden durchzogen. AMORPHIS hatten zwei Wochen für die Aufnahmesessions gebucht, brauchten jedoch nur anderthalb: eine Woche für die Aufnahmen, den Rest zum Mischen. Die Band hätte eigentlich im Studio übernachten sollen, doch Skogsberg war begründeterweise dagegen.


Esa und Skogsberg im Kontrollraum des legendären Sunlight-Studios, 1992.

„Die erste Nacht verbrachten wir im Studio. Natürlich haben wir gesoffen und nebenher Skogsbergs Archiv durcheinandergebracht. Am Morgen merkten wir, dass aus der Dusche nur eiskaltes Wasser kam. Insgesamt ziemlich übel. Wir hauten Relapse um Geld für ’ne Unterkunft an, was auch prompt klappte. In dem Fax an Relapse stand: ‚Please, send us money, we are starwing‘. Snoopy verwechselte v und w und schrieb ‚schickt uns Geld, wir sind der Sternenflügel‘“, kichert Koivusaari.

Die Plattenfirma schickte das ganze Budget direkt an Skogsberg. Ein Teil war für die Unterbringung vorgesehen. Der Produzent rationierte das Bargeld, wodurch bei der Band ein gewisser Verdacht auf Unterschlagung aufkam. Man mietete schließlich eine Blockhütte im Feriendorf Klubbensborg bei Stockholm, direkt an einem See. Sie war mit Doppelstockbetten, offenem Kamin und einer kleinen Küche ausgestattet. Die Tage vergingen im Studio, die Abende in der Hütte mit Mellanöl – sprich Lightbier, dem einzigen Alkoholgetränk, das in Schweden an Kunden unter 21 verkauft wurde. Unter den Naturtouristen in ihrem Feriendorf fanden die langhaarigen Metaller keine Gleichgesinnten. „Was macht wohl eine Gang wie wir in so einer Hütte? Es war bestimmt noch niemand von uns je so lange von zuhause weg gewesen. Das war ein Abenteuer. Die Lightbierdosen türmten sich zu einem Riesenberg auf. Als wir hinterher in ziemlicher Eile abfuhren, war die Hütte angeblich so dreckig, dass der Betreiber mehrere Hundert Kronen Zusatzgebühr von uns haben wollte. Wir antworteten nur: ‚Come on, von dem Dosenpfand kriegt ihr eure Kosten allemal wieder rein!‘“, grinst Koivusaari.


Der Dosenberg wächst.


Oppu, Koippari und Nalle Österman in Feierlaune


Snoopy erinnert sich, dass das Bier so dünn war, dass allabendlich rund zwanzig Dosen pro Mann draufgingen. Das Leergut wurde in den offenen Kamin geschmissen, von dem hinterher nicht mehr viel zu sehen war. „Es war nervig, dass man von dem Light-Zeugs so tierisch viel saufen musste. Ständig musstest du aufs Klo und warst nach Dutzenden von Dosen immer noch nicht blau. Das Gute an der Sache war, dass wir im Studio immer schon vormittags fit waren.“

 

Da das schmale Budget für Dünnbier draufging, fuhren die Musiker die Strecke zwischen Unterkunft und Studio schwarz. Während der dreiviertelstündigen U-Bahnfahrt mussten sie sich vor Kontrolleuren hüten und gelegentlich die Flucht ergreifen, aber selbst dieser zusätzliche Stress trat der Stimmung keinen Abbruch. Die Band war froh, Studio und Reisekosten bezahlt zu bekommen, und rechnete ohnehin nicht mit Reichtum oder Starruhm. Es reichte, dass etwas Großes im Gange zu sein schien. Snoopy hatte sein Schlagzeug daheim gelassen und nur vier Paar Trommelstöcke dabei, davon zwei mit dreieckigem Querschnitt. Normale runde Sticks waren im Laden gerade ausverkauft gewesen, also beschloss er, ein paar Songs mit eckigen zu spielen. Für größere Bestürzung sorgte das Schlagzeug im Studio: Skogsberg hatte nur ein E-Drumkit da, das Nicke Andersson von ENTOMBED gehörte.

„Das war ziemlich merkwürdig“, kommentiert Snoopy. „Wir hatten schon Gerüchte gehört, dass ENTOMBED auf ihren Alben E-Drums verwendeten. Ich fragte Skogsberg, wo die Drums sind. ‚Da drüben.‘ Da stand dieses olle Gerät, Marke Ddrum, mit L-förmigen Metallpfosten als Bassdrum-Ersatz. Tonnenschwer die Dinger, wenn das Pedal einmal am Pfosten befestigt war, bewegte es sich kein Stück mehr. Die beiden Pfosten hatten jeweils ihr eigenes Pedal. Snare und Becken waren echt, aber Bassdrum und Toms waren elektrisch. Die Sounds kamen aus irgendeinem Modul. Ich weiß bis heute nicht, wie zum Teufel er auf das Gerät kam. War damit wohl einfacher, die Bassdrums sauber aufzunehmen. Mit heutigen E-Drums kannst du schon einiges mehr anfangen, wenn sie dir nicht zu peinlich sind. Aber okay, das Kit von Skogsberg klang hinterher auch ganz annehmbar.“

Skogsberg berichtet, dass er die geliehenen E-Drums schlicht deshalb verwendete, weil er nicht genug Geld hatte, um sein Studio mit einem guten akustischen Drumkit zu bestücken. Die Gründe waren nicht aufnahmetechnisch, sondern rein finanziell. „Skogsberg sagte, dass er auch seine bisherigen Alben damit aufgenommen hatte. Wenn es den Schweden gut genug war, reichte es mir allemal. War seltsam, auf einem Kit zu spielen, das sich so völlig anders anfühlte. Für Gelächter war damit natürlich gesorgt, aber damals haben wir eh alles durch den Kakao gezogen. Die anderen lästerten fleißig, ‚haha, krasser Scheiß, guckt euch die Pötte an!‘. Aber was soll’s, wir nahmen die Songs auf und damit hatte sich’s.“ Oppu bestätigt, dass die E-Drums ihren Zweck erfüllten und als Lösung taugten, obwohl Snoopy selbst am klassischen Schlagzeug noch nicht viel Erfahrung hatte. Schließlich hatte er jahrelang nur gesungen und Gitarre gespielt und war erst mit der Gründung von AMORPHIS zum Drummer geworden.

„Ich weiß nicht, ob ich das verraten soll, aber die Snare-Blastbeats wurden mit einem Drumcomputer aufgenommen, dessen Pad mit den Fingern getrommelt wurde. Das hing mit der Mischtechnik zusammen und nicht damit, dass Snoopy das nicht hätte spielen können. Der Grund war, dass die Trigger der E-Drums diese Beats nicht voll registrierten. Irgendein Velocity-Problem zwischen Modul und Triggern, darum mussten wir das dann so machen“, entsinnt sich Oppu.


Intime Atmosphäre bei den Aufnahmen im Sunlight.

Die Musiker vereinbarten Stillschweigen, denn die E-Drums hätten dem Ruf der Gruppe abträglich sein können, obwohl sie auch von den übrigen Sunlight-Bands verwendet wurden. Auch über den Bass gibt es ein kurioses Detail zu berichten. Als Oppu seine Spuren eingespielt hatte und die Gitarren an der Reihe waren, stellte sich zum allgemeinen Entsetzen heraus, dass der Bass nicht ganz in der richtigen Tonlage war. „Das Stimmgerät im Studio war primitiv und ziemlich beschissen. Als wir merkten, dass der Bass nicht richtig gestimmt war, war Skogsberg faul genug, um zu behaupten, ‚ääh, I think it’s more like a Black Sabbath thing‘. Wir antworten, ‚come on, du weißt genau, dass der Bass um weniger als einen halben Halbtonschritt danebenliegt‘. Selbst Autotune hätte das falsch interpretiert. Mit BLACK SABBATH hatte das nichts zu tun, und wir waren etwas ratlos. Wir haben dann das Tape ein ganz klein wenig verlangsamt, sodass sich der Bass korrekt anhörte“, verrät Koivusaari.

Skogsberg mischte sich weder in die Kompositionen noch in die Arrangements ein, obwohl er als Produzent bezahlt wurde. Er arbeitete in erster Linie als Tontechniker und machte nur an wenigen Stellen eigene Vorschläge. Die Band produzierte somit bereits ihr Debüt selbst. „Skogsberg war nicht besonders penibel, aber dafür hätte die Zeit auch gar nicht gereicht. Seine Wurzeln lagen schließlich im Punk. An den Aufnahmen wurde nicht groß gefeilt, sondern Skogsberg half uns hauptsächlich dabei, einen möglichst rohen Sound hinzukriegen. An Riffs und Drumfills wurde nicht weiter herumgedoktert“, erinnert sich Holopainen. Laut Snoopy achtete Skogsberg durchaus auf Genauigkeit, hielt sich aber nicht mit weiteren Versuchen auf, wenn ein Take einfach nicht besser klappen wollte. Hier und da steuerte der Schwede konstruktive Ideen bei, außerdem verbannte er den Clicktrack, denn „das ist kein Rock’n’Roll.“ Bei den Aufnahmen zu The Karelian Isthmus ging es insgesamt erheblich zielstrebiger und professioneller zu als seinerzeit bei den Demo- und EP-Sessions. Jeder gab sein Bestes, auch wenn die Situation überwiegend ein Lernprozess war. Trotz ansatzweiser Studioerfahrungen hatten die Bandmitglieder keine konkrete Vorstellung davon, was es hieß, ein komplettes Album aufzunehmen. Von der Technik hatten sie erst recht keine Ahnung. Sie konzentrierten sich daher auf ihre Instrumente und den Gesang. Als Koivusaaris Gitarre an der Reihe war, fragte Skogsberg als erstes, wann deren Saiten das letzte Mal gewechselt worden waren. Da die Antwort „vor ’nem halben Jahr“ lautete, schickte der Produzent den Gitarristen umgehend in den nächsten Musikladen.


Koivusaari mit neuen Saiten.

„Skogsberg führte die Gesamtregie und sagte, wenn er was nicht gut fand, aber meist machten wir trotzdem einfach, was wollten“, fasst Oppu zusammen. „Gitarrenleads und Overdubs erforderten damals noch echte Feinarbeit. Heutzutage kannst du alles einfach digital zurechtrücken, aber bei den Tonbandaufnahmen damals hattest du direkt ein Problem, wenn du mal danebengehauen hast. Skogsberg war da sehr genau. Er nahm zum Beispiel an Breaks Leerstellen auf, was ich noch nie vorher gesehen hatte. Uns kam das penetrant vor und wir kapierten nicht, wofür es gut sein sollte, aber der Unterschied ist tatsächlich hörbar. Das waren wichtige Details. Skogsberg war auf alle Fälle der richtige Mann. Ich würde schon sagen, dass er die Scheibe produziert hat.“

Skogsberg schaute bei der Arbeit nicht auf die Uhr. Zur Überraschung der Band wollte er jedoch am Wochenende frei haben. Am Freitagabend nach der Session hieß es: „Tschüss bis Montag und schönes Wochenende auch!“ Natürlich hatten die Musiker keine anderen Freizeitpläne als Abfeiern. Da das Budget aufgezehrt war und alle des Dünnbiers überdrüssig waren, schickten sie ein neues Bettelfax an die Plattenfirma und brachten ihren Produzenten dazu, ihnen Hochprozentigeres zu verschaffen.

Ein Freund von Koivusaari, Jussi „Näkkis“ Ojala, kam zu Besuch und hatte eine Kassette dabei: das soeben erschienene Debüt der finnischen Psychedelic-Progrockband KINGSTON WALL, betitelt schlicht I (1992). Die ganze Truppe setzte sich mit dem Kassettenrekorder vor die Hütte und lauschte der Neuheit. Keines der AMORPHIS-Mitglieder hatte diese Band je zuvor gehört. Das von orientalischen Melodien, Folk-Einflüssen, überbordender Virtuosität und Retro-Rock von Weltniveau durchzogene Album beeindruckte sie alle zutiefst. So tief, dass man es der Musik von AMORPHIS noch heute anhört. In dem Rekorder lief bis auf weiteres keine andere Kassette mehr.

Ein paar Songs auf Karelian erforderten Keyboards, die – wie schon auf dem Demo – von Snoopy gespielt wurden. Rechbergers hatten zuhause ein Klavier, und Snoopy konnte einigermaßen darauf herumklimpern. Für die simplen Keyboardtracks auf dem Album reichten seine Fähigkeiten allemal. In erster Linie verwendete die Band einen Synthie-Sound namens Human Voice, der aus aa- und oo-Vokalen bestand.

„Human Voice war eine Art Markenzeichen von uns. Es war ein guter Effekt, den wir schon auf dem Demo verwendet hatten, obwohl ich das damals nicht ganz mitkriegte. Als Esa Snoopy fragte, ob er Human Voice dabei hätte, wunderte ich mich von wegen: ‚Wie, hast du eine Stimme auf Kassette oder was?‘ Ich dachte, das wäre ein Sample, das man direkt von einer Kassette aufnehmen konnte, aber Snoopy hatte den Sound auf Diskette dabei und er wurde mit dem Synthie eingespielt“, erklärt Oppu.

Die Gesangsspuren wurden an nur einem Tag aufgenommen. Arrangements und Phrasierung entstanden zum Teil völlig spontan. Als alles im Kasten war, mischte Skogsberg das Album sofort ab. Es klang heavy und düster, genau wie die Band es sich gewünscht hatte. Nicht technisch perfekt, aber eigenständig.

„Weil die Mietdauer der Hütte abgelaufen war, durften wir die letzte Nacht im Studio verbringen“, sagt Koivusaari. „Irgendwas verpfuschten wir, als wir an den Einstellungen herumprobierten und auf die Knöpfe drückten. Damals wurde das Master auf DAT aufgenommen. Das Karelia-Intro erhielt versehentlich eine andere EQ-Einstellung als die anderen Songs, das hört man auch. Als der erste eigentliche Song anfing, wunderte sich Skogsberg über die falsche Einstellung und korrigierte sie. Wir überlegten, ob wir sagen sollten, dass das Intro schon mit dieser Einstellung gemastert worden war, aber wir trauten uns nicht. Das blieb dann halt so.“

Pulsuz fraqment bitdi. Davamını oxumaq istəyirsiniz?