Kitabı oxu: «Wir reden, noch»

Şrift:

Norbert Philipp

Wir reden, noch

Die Kultur des Gesprächs in der digitalen Ära


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1. Auflage 2020

© 2020 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Covergrafiken: © Freepik.com, Portraitfoto Rückseite: © Carolina Frank

ISBN 978-3-99100-291-8

eISBN 978-3-99100-292-5

Für Lori:

Jedes Gespräch –

ein kleines Abenteuer

Inhalt

Ein Vorwort

Reden wir übers Reden

Warum wir überhaupt reden (und was wir uns davon versprechen)

Wie wir reden (und wie sich das digital verändert)

Wo wir reden können (und warum Räume ein Wörtchen dabei mitzureden hätten)

Mit wem wir reden könnten (und warum es nicht immer Menschen sein müssen)

Die Ära der Videokonferenz

Danksagung

Quellenverzeichnis

Weiterführende Literatur

Ein Vorwort

Plötzlich war alles anders. Und das noch dazu für die allermeisten Menschen. Wie die Digitalisierung hat auch diese Krise keinen ausgelassen – das Präfix „Pan“, vorne im Wort „Pandemie“, hat es schon ahnen lassen. Was da über den Planeten schwappte, war nicht die Digitalisierung. Sondern eine ganz andere Welle. Sie kam stärker, unvermittelter. Und hat heftiger an allem gerüttelt, was man schon so gut kannte, am Alltag, an den Möglichkeiten, ihn zu verbringen, an der Art, wie man auf andere zugeht und wie man schlussendlich miteinander redet. Ein Virus hat das geschafft, was viele konkrete Technologien letztendlich doch nur vage angedeutet haben: den Großteil der sozialen Interaktionen in einen ganz neuen Modus zu versetzen, nämlich in den digitalen. In einen Zustand des Kontakts ohne Kontakt. Corona hat die Digitalisierung beschleunigt, zugespitzt und hochgeschaukelt. Und damit umso schneller verändert, wie Menschen miteinander reden. Nicht weil es die Technik plötzlich erst zugelassen hätte. Sondern weil es die Situation so forderte. Unverhofft ist die digitale Zukunft auf die Realität eingestürzt. Und dabei sind einige Menschen in Situationen genötigt worden, in denen sie so auch noch nicht waren. Die eigenen Eltern nur mehr digital zu besuchen etwa, per Videochat. Oder an Beerdigungen und Hochzeiten teilzunehmen, ohne dort zu sein. Per Livestream. So neu waren viele diese Situationen, dass auch Politikern manchmal nur ungelenke Begriffe für die Gesamtsituation einfielen. Wie etwa die „Neue Normalität“. Eine sanft formulierte Verheißung, dass ein gutes Stück „anders“ auch hängen bleiben wird. Im Alltag. Und auch in der Art und Weise, wie Menschen miteinander kommunizieren. Oder generell: miteinander umgehen. Und nicht nur deshalb, weil digital Reden die weitaus klimafreundlichere Variante ist, wenn man sich für den Austausch nicht erst aufeinander zubewegen muss. So viel steht fest: Digitales Reden produziert weniger CO2. Dafür an manchen empfindlichen Stellen des sozialen Alltags auch Unbehagen, Unsicherheit und sogar Ängste.

An die Gesichter, die außer Baumwollstoff nur mehr wenig zeigten, hatte man sich irgendwie schnell gewöhnt. Und daran, den Mundschutz zum Einkaufen so selbstverständlich mitzunehmen wie die Liste und Kleingeld für das Einkaufswagerl. Oder auch an andere ungewohnte Fakten: Dass man für ein Vieraugengespräch nur noch den Computer einschalten muss. Genauso, wie wenn man einen Vortrag vor achtzig Augen hält. Ganz nebenbei hat Corona noch andere Selbstverständlichkeiten produziert: Dass man in Ausstellungen geht, ohne dass man hingehen muss. Dass man, wenn man sich treffen will, sich gar nicht erst mühsam treffen muss. Dass man, wenn man jemanden erreichen will, sich nicht mit dem Auto in den Stau einreihen muss. Oder in die Warteschlange vor dem Flugzeuggate, nur damit man für eine Stunde Geschäftsverhandlung viele Tonnen Kerosin verbrennt.

Plötzlich schien das Glasfaserkabel genauso wichtig wie das Stromnetz. Eine Infrastruktur, die den Alltag am Laufen hält. Da poppte sogar so schnell wie der Virus selbst auch die Sorge auf, ob die Netze so viel Digitalisierung auf einmal überhaupt aushalten. Ganz abgesehen davon, ob die Menschen so viel Abstand und Medien zwischen sich beim Interagieren auch so gut vertragen. Unter der viel beschworenen Prämisse, gerade zu Coronazeiten, dass sie ja – wie Wellensittiche und Kaninchen – ausgesprochen soziale Wesen sind. Und tatsächlich haben viele Menschen festgestellt: Gespräche funktionieren auch so. Digital. Mit Abstand. Auch ohne dass man sich davor die Hand geschüttelt hat. Und auch ohne dass man dem anderen mimisch ständig deutlich machen kann, dass man auch seiner Meinung ist. Vieles von dem, wofür sich verschiedenste Technologieunternehmen und Early Adopter schon eingesetzt hatten, hatte plötzlich unangekündigte Feuertaufe. Man erkannte: Es geht auch so. In vielen Bereichen. Aber man fragte sich bald: Will man es auch so?

In der Coronazeit hatte man plötzlich Gelegenheit, vieles völlig neu zu bewerten: Wie man wohnen will. Wie man arbeiten will. Aber vor allem auch: Wie man miteinander reden will. Ein paar Wochen hatte man Zeit, während des Lockdowns die analoge Kommunikation sehnsuchtsvoll zu vermissen. Aber gleichzeitig schätzen zu lernen, wie die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation sie manchmal effizient ersetzen können. Vor allem jene Optionen, die für manche noch so ungewohnt und neu waren, wie in die Armbeuge zu niesen. Der Lockdown war eine unangekündigte Evaluierungsphase: der Qualitäten von Gesprächen, die man sonst analog führte. Und von jenen, in die man zwangsläufig geraten war und die sich wie selbstverständlich in den Alltag gemischt hatten – wie etwa Videokonferenzen.

Corona und seine Folgen kamen um einiges vehementer angerauscht als die Digitalisierung. Auf den Etappen, die Letztere bis heute nahm, konnte man sich entweder entspannt auf sie einlassen oder sich zumindest allmählich mit ihr abfinden. Corona ließ im Frühling des Jahres 2020 dafür keine Zeit. Vieles, was technisch möglich war, theoretisch denkbar, wurde Tatsache und zwangsläufig. Manches, was wie digitale Zusatzfeatures des Lebens gewirkt hat, die man bei Bedarf zuschalten konnte, übernahm kommunikative Kernfunktionen. Und während sich die Tiefkühl- und Toilettenpapierregale in den Supermärkten leerten, füllte sich der Wortschatz mit neuen Begriffen. Schon Kinder wussten bald: „Videokonferenz“ ist jene Zeit des Tages, in der sich die Eltern Gesichtern widmen, die gar nicht da sind. Und dass man ihnen beim Reden zuschauen kann. Wenn die Kinder das Schlüsselwort hörten, wussten sie aber auch: Jetzt wird die Wohnung umgeschaltet. Von Kinderbetreuungsstätte auf Homeoffice. Bis sie am Nachmittag dann ohnehin wieder zum Yogastudio wird. Denn Corona hatte alle und alles nach Hause geschickt. Die Mitarbeiter der Unternehmen, selbst jener, die zuletzt vom Teleworking von zuhause wieder ins Büro gerufen hatten. Die Einkäufe und das Tagesmenü, auch sie trudelten von außen ein. Genauso wie die Lerninhalte und Aufgaben für die Schüler und Studenten. Aber auch die Ballettstunde, genauso wie alle möglichen Formen der Zeitverbringung à la „geselliger Abend“. Sogar der Österreichische Bundesverband für Psychotherapeuten aktualisierte seine Richtlinien: Er schaltete die Option „tele“ auch frei für die Therapie. Via Videosoftware oder auch schlicht via Telefon. Und gerade das, das Vorgänger-„tele“-Format der Internetkommunikation, das Telefon, wurde wieder häufiger zur Hand genommen als in den Jahren zuvor, vermeldeten die Telekommunikationskonzerne. Als wäre in zwangsläufig isolierteren Lebensphasen die weit verbreitete digitale Redekultur, also das gegenseitige Zuwerfen schriftlicher digitaler Häppchen, mit einem Mal doch nicht „sozial“ genug. Jedenfalls: So „tele“, „remote“ und „distant“ wie während Corona war das Leben seit Erfindung des Internets noch nie. Und das spielte natürlich jenen Unternehmen in die Hände, für die „Abstand“ schon immer zum Geschäftsmodell gehörte. Vor allem auch in der Kommunikation. Die Zahl jener etwa, die eine Software nutzten, von der sie früher nur gehört hatten, schoss rasant nach oben: Das Videokonferenzsystem „Zoom“ war mit 10 Millionen Usern in den Lockdown gestartet. Innerhalb kurzer Zeit stieg ihre Zahl auf über 200 Millionen. Als hätten die digitalen Kommunikationskanäle nur auf die Krise gewartet, um zu zeigen, was sie können. Vor allem auch einiges überwinden, was sich sonst einem Informationsfluss gern in den Weg stellt. Distanzen und sonstige Barrieren. Abstand halten und trotzdem in Verbindung bleiben, für digitale Medien war es die leichteste Übung. Und selbst paradox anmutende soziale Manöver schienen plötzlich digital ganz leicht zu gelingen: wie etwa den Zustand von „distanzierter Verbundenheit“ herzustellen. Selbst die noch ein wenig argwöhnischeren unter den Digitalskeptikern bemerkten: Einiges an kommunikativen Grundaufgaben kann man durchaus den digitalen Kanälen anvertrauen. Redaktionskonferenzen, Symposien, Workshops, Teammeetings, die ersten Runden von Bewerbungsgesprächen, Interviews – nur einige Formate, bei denen Videokonferenzen bewiesen haben: Sie können vieles an Kommunikationsbedarf abwickeln. Gleichzeitig haben sie aber auch noch etwas anderes klargelegt: wofür sie eher nicht taugen. Oder worauf man lieber wartet, bis man sich wieder „sieht“, tatsächlich und im gemeinsamen Raum, statt nur zu sehen – auf einem flachen Bildschirm. Ein spontanes zwangloses Gespräch lässt sich technisch nicht ganz so leicht herstellen. Schließlich muss man jedes Gespräch planen, ankündigen, terminisieren. Oder ein tiefgehendes Gespräch, in das man versinkt. Auch das lässt sich digital nicht ganz so einfach produzieren. Dafür ist die Gesprächsblase, die sich da zwischen dem einen und dem anderen Bildschirm aufbauen soll, viel zu fragil. Kaum ist sie mühsam gebildet, muss man sie ständig pflegen, aktivieren, vor dem Einsturz bewahren. Das ist anstrengend. Kognitiv vor allem. Auch weil ansonsten vieles hergestellt werden muss, was sich sonst wie von selbst ergibt – in analogen Begegnungen. Wie die Aufmerksamkeit etwa. Das heißt: Auch wenn die Verbindung technisch gelegt ist, sozial bleibt sie zerbrechlich. Irgendwie spürte man bald, nach der Euphorie darüber, was sich denn alles theoretisch digitalisieren ließe: diese kontaktlose digitale Kommunikation. Auch wenn immer mehr Gesichter auf Bildschirmen bei ihr mitmischen und selbst wenn sie vieles ersetzen kann, meist kann sie nicht mehr sein als ein gut gemeintes Substitut. Eine technische Behelfskonstruktion. Eine Art digitale Kommunikationsprothese. Auch weil sich etwas schon gar nicht einfach so „off“-schalten lässt wie der Laptop: die Sehnsucht nach Kontakt mit Kontakt. Nach haptischer und räumlicher Verbundenheit. Bei der die Signale das ganze Frequenzband der Kommunikation bespielen können, die eine soziale Interaktion normalerweise unterstützt – wenn man sich tatsächlich und analog gegenübersteht oder -sitzt. Deshalb freuten sich auch alle – trotz digitaler Verbundenheit – nach dem Lockdown und nach Wochen des ungelenken, teils teilnahmslosen, teils gestressten In-die-Kamera-Winkens auf eines: wieder zu „reden“, statt nur zu kommunizieren. Dabei auch mal in Ruhe schweigen zu können, ein paar Momente, um einem wichtigen Satz ohne Worte Nachdruck zu verleihen. Oder dem anderen mit einer Idee ins Wort zu fallen, ohne dass das Gespräch ins Stocken kommt. Oder dem anderen ganz genau und ganz nah dabei zuzuschauen, wie die Augenbrauen tanzen, die Augen lachen und die Gesten weiter ausholen, als sie müssten – beim ganz normalen, analogen Reden, von einem Gesicht zum anderen.

REDEN WIR ÜBERS REDEN
Das persönliche Gespräch – der Showdown der Kommunikation

„Wir müssen reden.“ Kaum ist das gesagt, weiß man: Jetzt wird’s ernst. Oder sogar wahrhaftig. So richtig live. Was man auch immer zuvor geschwafelt und geplappert hat, per WhatsApp so vor sich hergesagt, so beiläufig ins Smartphone getippselt – jetzt kommt der Showdown der Kommunikation. Jetzt entscheidet sich, wie das alles vorher wirklich gemeint war. Und den ganzen Chatverlauf des letzten Jahres auf dem Handydisplay liest man mitunter mit ganz anderen Augen. Purer und unmittelbarer kann das Gespräch nicht sein, das Basiskommunikationsformat, wenn zwei menschliche Gesichter im selben Raum zwischen sich eine Interaktionsblase aufspannen. Und darin ist das, was da phonetisch passiert, wenn aus Lauten Wörter werden, wahrscheinlich noch am einfachsten zu erklären. Zwei Gesichter im Austausch, im persönlichen Gespräch, das nennen die wissenschaftlichen Beobachter Face-to-Face-Kommunikation. Und wir wollen es auch so bezeichnen, wenn wir hier dringend einmal reden müssen, über das Reden. Oder darüber, was das persönliche Gespräch für Menschen und ihre Kommunikation leistet. Selbst der Digitalisierung ist bislang noch keine adäquate Alternative zum persönlichen Gespräch eingefallen. Obwohl sich natürlich alle digitalen Kanäle stets emsig bemühen, sich möglichst anzunähern. Diesem unerreichten Level eines Kommunikationsformats, das ontogenetisch ohnehin um so viel früher dran war in der Menschheitsgeschichte. Was die Digitalisierung auch erfunden hat, imitiert, ins Virtuelle übertragen: Die Qualitäten des Face-to-Face-Kontaktes, bei dem tatsächliche Augen in tatsächliche Augen schauen, diese kann sie noch nicht technisch reproduzieren. Das persönliche Gespräch ist die Grundlage des Zusammenlebens, der menschlichen Existenz und auch davon, wie man über beides nachdenkt. Denn gerade den Gedanken sagt man nach, dass sie sich erst wirklich formen, wenn sie ausgesprochen werden. Von den guten Ideen glaubt man das auch: Sie brauchen andere, mit denen sie sich Face-to-Face reiben können, damit sie zünden. Was man ausspricht, bekommt gleich eine andere inhärente Qualität, eine eigene und unmittelbare Wahrhaftigkeit, als das, was man lediglich denkt, irgendwo virtuell an Pinnwände hängt oder postet. Das Gespräch ist die „alltägliche Selbstvergewisserung“, schrieb einer der ersten, die sich mit ihm beschäftigt haben, Moritz Lazarus.1 Und aus dem Zitatenlexikon springt einem gleich noch ein kluger Spruch entgegen, einer, der sich aber eher auf die tiefgehenden Versionen bezieht: „Gespräche sind wie Reisen zu Schiff. Man entfernt sich vom Festland, ehe man es merkt, und ist schon weit, ehe man merkt, dass man das Ufer verlassen hat.“ So formulierte es der französische Schriftsteller Nicolas Chamfort.

Es hilft nichts: Wir müssen nun mal reden. Dann und wann. Manchmal nur ganz beiläufig und zwanglos. Hie und da aber auch Tacheles. Keine Angst, es tut gar nicht weh. Schließlich hat man sich auch in jungen Jahren von anderen abgeschaut, wie es funktionieren könnte. Viel hat man gehört, beobachtet und imitiert. Wie andere reden. Und sich dabei verhalten. Das Schwierige: Beim analogen Reden ist man immer gleich auf der Bühne. Keine Chance auf Generalprobe. Auf Instagram etwa hat man dagegen deutlich mehr Zeit für die richtige Pose, um den ersten Eindruck zu modellieren und alle anderen, die folgen mögen. Gut, Sich-in-Szene-Setzen funktioniert wahrscheinlich online besser. Offline eignet sich dafür eher für die etwas entscheidenderen kommunikativen Handlungen wie: Drohen, Verhandeln, Liebe-Gestehen, Alles-Hinwerfen, Schreien vor Erleichterung, aber auch Anteil nehmen an den Gefühlen anderer.

Miteinander reden, Face-to-Face, bedeutet immer noch so viel wie „Jetzt aber wirklich“. Und das impliziert dadurch beinahe, dass alles andere, was man digital miteinander austauscht, gar nicht so wirklich gewesen ist, wie man gerne gehabt hätte. Zwei Gesichter im kommunikativen Austausch, das ist ein Livespektakel. Und danach fühlt sich retrospektiv mancher Chat zuvor fast an wie Tiefkühlkommunikation: Das ursprüngliche Verlangen wurde gestillt. Aber irgendwie unbefriedigt zurückgelassen wird man trotzdem.

Ob die Face-to-Face-Kommunikation weniger wird, ist schwer zu messen. Man müsste allen Menschen der Welt das umhängen, was Forscher in Versuchsreihen schon ihren Teilnehmern umgehängt haben: einen „EAR“, einen „Electronically Activated Recorder“2, der aufzeichnet, was man mit wem einen Tag lang so redet. Was hingegen definitiv mehr wird, sind die Eindrücke, dass die Gespräche tatsächlich weniger werden. Ansonsten würde man heute nicht als explizite Wertschätzung verstehen, was früher selbstverständlich war: eben den persönlichen Kontakt. Für den man Zeit aufwendet und Energie. Als wären alle digitalen Alternativen vor allem dazu da, die menschliche Beziehung zu verwalten und abzuhandeln. Das persönliche Gespräch hingegen dazu, auch in die persönlichen Beziehungen zu investieren, an ihnen zu arbeiten und zu feilen. Wie guten Wein und Delikatessen hebt man sich Gespräche für besondere Augenblicke auf, manchmal sucht man sich dafür sogar eigens Orte, an denen die Worte und Emotionen noch stärken wirken können.

Gespräche erleichtern oft. Aber sie strengen auch an. Sie verbrennen Energie. Doch Face-to-Face-Kontakt lädt ebenso auf, ganze Gemeinschaften mit Vertrauen sogar. Und Beziehungen mit Verbindlichkeit. Auch nicht ganz unwichtig in einer digitalen Ära der Kommunikation, in der wissenschaftliche Beobachter schon so etwas wie „distanzierte Verbundenheit“ in unseren sozialen Bindungsverhalten konstatieren.3 In die zwischenmenschliche Kommunikation, ganz ohne digitalen Dämmstoff, schlägt die Realität am eindringlichsten ein. Man muss schon dabei gewesen sein, um zu wissen, wie das wirklich war, wie sich das wirklich anfühlte. Als man das Kompliment bekam, das man sich insgeheim schon so lange gewünscht hatte, das Lob, das längst überfällig war, die schmerzliche Absage und das unerwartete Geständnis. Was hart ist, schlägt noch härter auf, was schmeichelt, schmeichelt von Angesicht zu Angesicht umso mehr. Denn außer ein paar Zentimetern Luftraum bleibt Face-to-Face kein Puffer mehr. Doch das ist Platz genug, damit es knistert, funkt, zündet und Brücken geschlagen werden, die man erst sehen kann, wenn man auf die Bilder eines Gehirnscanners schaut. Oder Menschen dabei beobachtet, wie sich sich beim Reden auch körperlich einschwingen.

Manche Gespräche vergisst man nie. Weil sie einen beseelt, erleichtert, berührt haben. Oder die entscheidenden Weichen gestellt. Wirkungen, an denen Chatverläufe auf Smartphones noch feilen müssen. In manche Gespräche schlittert man rein, in andere wird man von unsichtbarer Kraft tief hineingezogen und erst Stunden später wieder entlassen, nach zwei Flaschen Rotwein, wenn Sperrstunde ist. Für manche Gespräche zieht man extra die Jogginghose aus, für manche hat man fünfzig Mal vorher angerufen und ebenso viele E-Mails geschrieben. Viele stehen im Terminkalender, andere kommen immer ungelegen, egal wann. Manche scheinen bis zum Schluss kein Thema zu haben außer „Ich und du“. Anderen merkt man schon beim ersten Wort an, wie sie enden werden. Und bei einigen weiß man bis zuletzt nicht, worauf das alles hinausläuft. Zwischen Kuss und Faustschlag scheint theoretisch alles möglich. Die meisten Interaktionen im Alltag enden allerdings dann doch recht unaufgeregt mit „Schönen Tag noch“. Doch selbst das scheint die Menschen zufrieden zu machen, haben Psychologen festgestellt.

Jedenfalls passieren die wunderlichsten Dinge zwischen Gesprächsanfang und -ende. Da läuft eine Choreografie ab, die im Moment von den Gesprächspartnern selbst mitgeschrieben wird. Denn, egal worüber man auch spricht, eines steht stets stumm auf der Agenda: Anpassung und Übereinkunft. Dafür lässt man sich aufeinander ein, schwingt mit dem anderen mit, synchronisiert viel mehr als nur Bewegungen und weiß danach manchmal gar nicht so recht, was da genau los war, wenn das Gespräch mit gutem Gefühl zu Ende geht. Nur dass man am liebsten einen Neurowissenschaftler anrufen würde, der es einem erklärt. Denn die Worte sind nur die offensichtlichsten Brücken. So viel mehr Zeichen takten den Fluss des Gesprächs, diktieren den Rhythmus, bauen mit an der Verbindung zweier Menschen, die unsichtbar scheint, aber deutlich sichtbar wird, wenn man sie beim Reden beobachtet. Und während man seine sozialen und inhaltlichen Botschaften abliefert, merkt man oft gar nicht, wie man schon miteinander tanzt. Gestisch nämlich. Dafür muss man sich nicht einmal auf dem Parkett gegenüberstehen. Es funktioniert auch im Sitzen, sofern es die Möbel und das Designkonzept dahinter, oder auch die Architektur des Raumes, zulassen.

31,09 ₼
Yaş həddi:
0+
Həcm:
371 səh. 2 illustrasiyalar
ISBN:
9783991002925
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