Grundkurs Organisation(en) in der Sozialen Arbeit

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Die von Laura im Jugendamt wahrgenommene Formalisierung und die Regelungsdichte der Abläufe können somit einerseits als genereller Ausdruck des Willens zur Organisationsgestaltung gedeutet werden. Sie können jedoch andererseits auch darauf zurückgeführt werden, dass die Organisation Jugendamt ihre Aufgaben generell – und insbesondere ihre Leistungsentscheidungen und Kontrollaufträge – mit Regeln und Vorgaben zum Verfahren und zur Dokumentation absichert.

Dabei dürfen die Strukturen und Abläufe jedoch nicht starr und überorganisiert sein. Stattdessen müssen sie sich durch ein angemessenes Verhältnis von Vorgaben einerseits und Flexibilität andererseits auszeichnen. Erst dann kann es gelingen, dass die Fachkräfte der Sozialen Arbeit die spezifische Situation und die jeweiligen Bedürfnisse berücksichtigen und damit der Einmaligkeit des Einzelfalls auch tatsächlich gerecht werden können.


Ein eindrückliches Beispiel, welche Folgen die Überbetonung von möglicherweise bürokratischen Strukturen im Zusammenhang mit der Deutung und Erfassung individueller Lebenssituationen haben kann, liefert der 2016 unter der Regie von Ken Loach entstandene Film „Ich, Daniel Blake“. Der Protagonist des in England spielenden Films, Daniel Blake, beantragt aufgrund eines Herzinfarktes Sozialhilfe. Sein Antrag wird jedoch trotz ärztlichen Arbeitsverbots abgelehnt, sodass er sich gezwungen sieht, einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe zu stellen. Arbeitslosenhilfe wird jedoch nur bei dem Nachweis täglicher Bemühungen um Arbeit bewilligt. Insgesamt sind die Antragstellung und die Strukturen des Unterstützungssystems so kompliziert und verwirrend, dass Daniel Blake fast an ihnen verzweifelt. Vor einer endgültigen Entscheidung über seine Anträge auf Unterstützung verstirbt Daniel Blake an einem erneuten Herzinfarkt.

Organisation wird aus dieser Perspektive zu mehr als nur einem Ort oder einer Rahmenbedingung institutionalisierter Sozialer Arbeit. Vielmehr leistet Organisation, im Sinne eines strukturellen Garanten (Busse et al. 2016), einen wichtigen Beitrag für eine professionelle Soziale Arbeit. Organisation hat den Auftrag, professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit zu unterstützen. Um diesen Anspruch jedoch einlösen zu können, sind die Fachkräfte der Sozialen Arbeit gefordert, organisationstheoretisches Wissen für die Gestaltung der Strukturen und Abläufe in ihrer Praxis fruchtbar zu machen. Auf der Seite der (angehenden) Fachkräfte der Sozialen Arbeit bedarf es also nicht nur eines allgemeinen strukturellen Organisationswissens, sondern auch einer differenzierten Sicht auf den Gegenstand Organisation (Grunwald 2018), einer Auseinandersetzung mit den „Eigengesetzlichkeiten dieses Typus sozialer Systeme“ (Bommes / Scherr 2012, 189) und damit eines spezifischen Organisationswissens. Daher sollten sich die Fachkräfte auch mit Organisation in der Sozialen Arbeit auseinandersetzen. Erst dann können Organisationen verstanden und in der Praxis der Sozialen Arbeit Strukturen und Abläufe und damit Organisationen etabliert und entwickelt werden, die die fachlichen Erfordernisse der Sozialen Arbeit reflektieren, möglichst im Einklang mit diesen stehen und sich somit ermöglichend und nicht be- oder gar verhindernd auf das professionelle Handeln der Fachkräfte auswirken. Zusammengenommen werden allgemeines und spezifisches organisationsbezogenes Wissen zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer „reflexiven Professionalität“ (Dewe / Otto 2012, 197), die stets gefordert ist, differentes Wissen unterschiedlicher Herkunft in ihre Überlegungen einzubeziehen (Abb. 1).


Mit reflexiver Professionalität wird die Fähigkeit von SozialarbeiterInnen bezeichnet, in Abhängigkeit zur konkreten Situation und zum konkreten Kontext sowohl auf unterschiedliches Wissen zurückgreifen, als auch diese unterschiedlichen Wissensinhalte wechselseitig aufeinander beziehen zu können und davon ausgehend mit den AdressatInnen in einen Verständigungsprozess über Problemdefinition und Lösungsmöglichkeiten zu kommen (Dewe / Otto 2012).

Abb. 1: Organisation(en) in der Sozialen Arbeit, Wissensbestandteile einer reflexiven Professionalität

Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass dieses Lehrbuch neben der Vermittlung von allgemeinem und spezifischem Organisationswissen auch zum Ziel hat, die Neugierde und Begeisterung für das Abstraktum „Organisation“ und die damit verbundenen theoretischen Perspektiven und praktischen Herausforderungen für die Soziale Arbeit zu wecken.


Überlegen Sie, welche organisatorischen Strukturen und Abläufe Sie bislang in der Praxis der Sozialen Arbeit kennengelernt haben. Haben diese Ihr Handeln eher unterstützt oder behindert? Welchen Zusammenhang zwischen sozialpolitischen Aufträgen an die Organisation und ihren organisatorischen Regelungen haben Sie beobachtet?

Welchen Formalisierungsgrad und welche Regelungsdichte haben Sie in der Praxis kennengelernt? Inwiefern erschienen Ihnen diese sinnvoll, wann hatten Sie Zweifel an der Angemessenheit?

Erkunden Sie in Ihrem fachlichen Umfeld die Einstellungen zu Organisation in der Sozialen Arbeit. Welche Bedeutung wird Organisation in der Sozialen Arbeit von (langjährigen) PraktikerInnen beigemessen?

Für die filmbegeisterten unter Ihnen: Sehen Sie sich den Film „Ich, Daniel Blake“ von Ken Loach (2016) an. Diskutieren Sie die Erlebnisse von Daniel Blake. Welches (Miss-)Verhältnis zwischen administrativ-bürokratischen Strukturen auf der einen und Hilfebeziehung ermöglichenden Strukturen auf der anderen Seite können Sie beobachten?


Busse, S., Ehlert, G., Becker-Lenz, R., Müller-Hermann, S. (2016): Einleitung: Professionelles Handeln in Organisationen. In: Busse, S., Ehlert, G., Becker-Lenz, R., Müller-Hermann, S. (Hrsg.): Professionalität und Organisation. Springer, Wiesbaden, 1–11

Loach, K. (2016): Ich, Daniel Blake

Staub-Bernasconi, S. (2018): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Soziale Arbeit auf dem Weg zur kritischen Professionalität. 2. Aufl. Barbara Budrich, Opladen

1.2 Zum Aufbau und zur Didaktik des Lehrbuches

Bevor Sie sich nun, nach diesen grundlegenden Ausführungen zur Frage nach der Relevanz von Organisation(en) in der Sozialen Arbeit und den mit diesem Lehrbuch verbundenen Zielen, auf die Auseinandersetzung mit Organisation(en) in der Sozialen Arbeit einlassen, vorab noch einige Hinweise zum Aufbau und zur Didaktik des Lehrbuches.

Dieses Lehrbuch legt den Fokus auf organisationstheoretische und -strukturelle Grundlagen. Dabei ist grundsätzlich die Grenze zu Fragen des Managements von Organisationen schnell erreicht, sodass oftmals auch Managementthemen angesprochen werden. Die damit verbundenen Herausforderungen sind jedoch nicht das Hauptthema dieses Lehrbuches. Vielmehr geht es um das Verstehen von Organisation und Organisationen in der Sozialen Arbeit als Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit dem Management von Organisationen der Sozialen Arbeit.

Daher beginnt dieses Lehrbuch mit einer Einführung in die Perspektive, die unterschiedlichen Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit als eine personenbezogene soziale Dienstleistung zu verstehen (Kap. 2). Dadurch soll die Aufmerksamkeit auf die mit der Organisation der Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit verbundenen Herausforderungen gelenkt werden. Im sich anschließenden Kapitel 3 werden die organisationsbezogenen Grundlagen vorgestellt und Merkmale für das Verstehen und die Analyse von Organisationen entwickelt. Die Kapitel 4 und 5 richten den Blick auf die Praxis der Organisationen der Sozialen Arbeit und die Grundlagen der Finanzierung. Abschließend widmet sich Kapitel 6 dem Theorie-Praxis Transfer und es werden exemplarisch die Konsequenzen für das Handeln in der Praxis dargestellt und Anregungen für die weitere Vertiefung ausgewählter Themen gegeben.

Am Anfang eines jeden Kapitels steht eine kurze Zusammenfassung zu den wichtigsten beschriebenen Themen. Auch werden dort bzw. innerhalb der einzelnen Kapitel ausgewählte Aspekte mit Hilfe von Beispielen und Frageimpulsen illustriert. Die meist am Ende einzelner (Unter-)Kapitel zu findenden Fragestellungen zur Analyse, Reflexion und Vertiefung einzelner Themen können sowohl in Einzel- als auch in Kleingruppenarbeit bearbeitet werden. Sie dienen dem Transfer der theoretischen Auseinandersetzung auf die Bedingungen in der Praxis der Organisationen der Sozialen Arbeit.

 

2 Leistungen der Organisationen der Sozialen Arbeit


Die Hilfe- und Unterstützungsleistungen für Individuen, Familien und Gruppen in sozialen Notlagen können grundsätzlich in Geld-, Sach- und Dienstleistungen differenziert werden. In den Organisationen der Sozialen Arbeit erbringen die Fachkräfte individuelle und persönliche Hilfen, die von einer zwischenmenschlichen Interaktion gekennzeichnet sind. Daher werden die Leistungen der Sozialen Arbeit, wie die stationäre Betreuung in der Kinder- und Jugendhilfe oder ambulante Beratungsangebote, auch als personenbezogene soziale Dienstleistungen bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen und den damit verbundenen Herausforderungen ist für die organisationsbezogene Gestaltung wichtig. Andernfalls laufen die Organisationen der Sozialen Arbeit Gefahr, sich bei der Gestaltung und Strukturierung ihrer Abläufe nicht auf die Besonderheiten ihres Gegenstandes zu beziehen, sondern ausschließlich allgemeine organisationstheoretische Überlegungen in den Vordergrund zu stellen.


Welche unterschiedlichen Leistungen der Organisationen der Sozialen Arbeit kennen Sie? Wie würden Sie diese systematisieren?

2.1 Leistungen der Organisationen der Sozialen Arbeit: Dienst-, Sach- und Geldleistungen

Zunächst ist die Frage zu beantworten, welche Leistungen von den Organisationen der Sozialen Arbeit für Einzelpersonen, Familien und Gruppen generell zur Verfügung gestellt werden. Daran anknüpfend ist zu klären, wie innerhalb dieses Leistungskanons die unterschiedlichen und vielfältigen Angebote der Sozialen Arbeit verstanden werden können.

Grundsätzlich können die unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen in Dienst-, Sach- und Geldleistungen differenziert werden (Ortmann 2012). Innerhalb dieses Dreiklangs werden die Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit zu den Dienstleistungen gerechnet.

Dieser Dreiklang findet sich auch im Sozialgesetzbuch. Im Sozialrecht, genauer gesagt in § 11 SGB I sind unter dem Oberbegriff Sozialleistungen die vielfältigen Hilfe- und Unterstützungsleistungen, die basierend auf dem Sozialstaatsprinzip (Kap. 1) in sozialen und individuellen Problemlagen zur sozialen Sicherung von staatlicher Seite dem / der Einzelnen zur Verfügung gestellt werden, zusammengefasst und ebenfalls in Dienst-, Sach- und Geldleistungen differenziert. In diesem rechtlichen Kontext dienen Dienstleistungen der Verwirklichung sozialer Rechte.

„Sie sind Teil des wohlfahrtstaatlichen Sozialleistungssystems und stellen eine besondere Art (oder Form) rechtlich verbürgter Sozialleistungen dar“ (Bauer 2001, 29).


Sozialleistungen sind nach § 11 SGB I die im Sozialgesetzbuch für die soziale Sicherung vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen. Auf diese Sozialleistungen haben die jeweils Leistungsberechtigten bei Bestehen der Anspruchsvoraussetzungen einen Leistungsanspruch.


Beispiele für Geldleistungen sind die von der Rentenversicherung gezahlten Altersrenten (laufende Geldleistungen) oder die von der gesetzlichen Krankenversicherung gezahlten Zuschüsse zum Zahnersatz (einmalige Geldleistungen). Mit Sachleistungen ist die Bereitstellung von Gegenständen wie Arzneimitteln oder Pflegehilfsmitteln, etwa Rollatoren oder Pflegebetten, gemeint. Die vielfältigen Leistungen und Angebote in den verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit, wie beispielsweise Hilfe zur Erziehung gem. §§ 27 ff. SGB VIII, sind Beispiele für Dienstleistungen.

Das Verhältnis zwischen Geld- und Sachleistungen wird immer wieder kritisch diskutiert. Ein Beispiel hierfür ist die Regelung in § 3 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), nach der der persönliche Bedarf der Leistungsberechtigten, das „Taschengeld“ für Fahrtkosten, Kommunikationsmittel u.Ä. anstelle durch Geldleistungen durch Sachleistungen gedeckt werden sollen, sofern dies mit vertretbarem Verwaltungsaufwand möglich ist. Dadurch kann sich die Situation ergeben, dass neu ankommende Asylsuchende als Leistungsberechtigte über kein Bargeld verfügen. Hiergegen wird die Kritik vorgebracht, dass diese Bedarfe sehr persönlicher Natur seien und daher mit Barmitteln individuell und frei befriedigt werden können sollten. Zudem seien Sachleistungen und das Fehlen von Bargeld in hohem Maße mit Stigmatisierung verbunden.

Ein Großteil der nach dem Sozialgesetzbuch vorgesehenen Sozialleistungen wird in Form von Geldleistungen wie beispielsweise Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung oder Elterngeld gewährt. In der Praxis ist die Abgrenzung der einzelnen Leistungsarten nicht immer einfach (Dahme / Wohlfahrt 2015). In der Sozialen Arbeit finden sich auch Mischformen, bei denen unterschiedliche Sozialleistungsarten miteinander kombiniert werden.


So umfasst die Unterbringung eines Jugendlichen in einer Jugendwohngemeinschaft neben der sozialpädagogischen Betreuung als Dienstleistung auch den notwendigen Unterhalt des Jugendlichen. Dabei soll gem. § 39 Abs. 2 SGB VIII der regelmäßig wiederkehrende Bedarf durch laufende Geldleistungen gedeckt werden. Darüber hinaus werden auch einmalige Geldleistungen, beispielsweise bei wichtigen persönlichen Anlässen oder für Urlaubs- und Ferienreisen, gewährt.

Der Schwerpunkt der Sozialen Arbeit und damit auch ihrer Organisationen liegt jedoch nicht auf der Auszahlung von Geldleistungen oder der Zurverfügungstellung von Sachleistungen. Entsprechend ihres Gegenstandsbereiches, der ganz allgemein mit der Bewältigung individueller und sozialer Problemlagen beschrieben werden kann (Schilling / Klus 2018), liegt der Schwerpunkt der Angebote und Leistungen der Sozialen Arbeit auf der Erbringung von individuellen Hilfe- und Unterstützungsleistungen. Diese Leistungen können als beruflich gerahmte und institutionalisierte Handlungen (Dienste) gegenüber anderen Personen und damit als Dienstleistung verstanden werden. Dabei sind charakteristische Merkmale des sozialarbeiterischen Handelns die persönliche Hilfe und zwischenmenschliche Interaktion (Bötticher / Münder 2011; Bommes / Scherr 2012). Dementsprechend werden die Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit auch als personenbezogene soziale Dienstleistung bezeichnet.

„Unter Sozialer Arbeit verstehen wir eine personenbezogene soziale Dienstleistung, die im sozialstaatlichen Rahmen zur Bearbeitung sozialer Probleme eingesetzt wird, damit AdressatInnen im gesellschaftlichen Interesse bei der Bewältigung von Lebensproblemen [...] unterstützt werden“ (Hammerschmidt et al. 2017, 13 f.).

2.2 Personenbezogene soziale Dienstleistungen: Begriff

Die vielfältigen, im Rahmen einer professionellen Tätigkeit erbrachten sozialarbeiterischen Leistungen und Angebote werden also auch als personenbezogene soziale Dienstleistungen bezeichnet. Um genauer zu klären, was damit gemeint ist, ist eine Auseinandersetzung mit dem schillernden und in vielen Disziplinen unterschiedlich diskutierten Begriff der Dienstleistung (Bauer 2001) sowie mit den Adjektiven „personenbezogen“ und „sozial“ geboten.


Erste Hinweise, was mit den Begriffen Dienstleistung und personenbezogene soziale Dienstleistung gemeint sein könnte, liefert eine alltagswissenschaftliche Herangehensweise. Überlegen Sie: Was fällt Ihnen ein, wenn Sie über diese Begriffe bzw. die jeweiligen Bestandteile nachdenken? Reflektieren und diskutieren Sie die Bedeutungsinhalte der Begriffe bzw. der einzelnen Bestandteile.

Vor einer begrifflichen Klärung ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nicht nur der Begriff der personenbezogenen sozialen Dienstleistung verwendet wird, sondern im Kontext der Leistungen der Sozialen Arbeit oftmals auch von sozialen Dienstleistungen (Cremer et al. 2013) oder sozialen Diensten (Heinze 2011) gesprochen wird. Diese Begriffe werden synonym verwendet. Dabei können soziale Dienstleistungen und personenbezogene soziale Dienstleistungen als deckungsgleich betrachtet werden. Bei der Begrifflichkeit soziale Dienste hingegen ist zu berücksichtigen, dass diese zwar einerseits tatsächlich synonym zur personenbezogenen sozialen Dienstleistung und damit ebenfalls für die Charakterisierung der unterschiedlichen Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit verwendet wird. Andererseits wird mit sozialen Diensten gleichzeitig die organisationale Ebene angesprochen. Mit dem Begriff soziale Dienste kann also in vielen Fällen auch die organisatorische Bündelung personenbezogener sozialer Dienstleistungen etwa in der Struktur einer Einrichtung gemeint sein (Kap. 4.1).


Ein Beispiel für einen solchen mit einer breiten Aufgabenstellung versehenen sozialen Dienst ist der Allgemeine Soziale Dienst (ASD). Der ASD, mancherorts auch Bezirkssozialdienst (BSD) oder Kommunaler Sozialdienst (KSD) genannt, ist meist den Jugendämtern zugeordnet. Mit seinem breiten Aufgabenspektrum sichert dieser Dienst auf kommunaler Ebene die soziale Grundversorgung der BürgerInnen (Kap. 4.5.4).

Damit kann eine inhaltliche Differenz zwischen sozialen Diensten auf der einen und sozialer personenbezogener Dienstleistung auf der anderen Seite benannt werden: soziale Dienste als Organisationen der Leistungserbringung und personenbezogene soziale Dienstleistungen als sich auf die Interaktion zwischen SozialarbeiterIn und AdressatIn beziehend (Flösser et al. 2018).

Was mit personenbezogenen sozialen Dienstleistungen im Fachdiskurs bezeichnet wird, soll nun mit Hilfe einer begrifflichen Annäherung geklärt werden. Da der Begriff der Dienstleistung in unterschiedlichen Disziplinen diskutiert wird, kann keine allgemeingültige Definition herangezogen werden. Dies hat zur Folge, dass auch personenbezogene soziale Dienstleistungen nicht eindeutig definiert werden können (Bauer 2001; Dahme /Wohlfahrt 2015). Im Folgenden werden unterschiedliche disziplinäre Perspektiven auf Dienstleistungen dargestellt, auf die in der Sozialen Arbeit Bezug genommen wird.

Eine erste Annäherung an den Begriff kann der Volkswirtschaftslehre entnommen werden. Aus dieser Perspektive bilden Dienstleistungen das

„Ensemble aller Leistungen, die weder der Gewinnung von Nahrungsmitteln (primärer Sektor) noch der Verarbeitung von Rohstoffen (sekundärer Sektor) dienen“ (Grunwald 2013a, 243).

Der Begriff der Dienstleistung nimmt hier die Funktion einer Restkategorie (tertiärer Sektor) ein, mit der alle Wirtschaftstätigkeiten umfasst werden, die weder im primären noch im sekundären Sektor berücksichtigt werden (Dahme / Wohlfahrt 2015).

Eine weitere Perspektive auf Dienstleistungen, die ebenfalls in der Sozialen Arbeit zur Begriffsklärung herangezogen wird, ist die der Wirtschaftswissenschaften (Finis Siegler 2009; Cremer et al. 2013). Hier gehören Dienstleistungen ganz allgemein zu den wirtschaftlichen Gütern. Güter meint in diesem Zusammenhang alles, was der menschlichen Bedürfnisbefriedigung dienen kann. Wirtschaftliche Güter werden in Realgüter und in Nominalgüter (Geld oder ein in Geld ausgedrückter Nennwert) unterschieden. Realgüter wiederum können in materielle (dann werden sie auch als Sachgüter bezeichnet) und immaterielle Güter unterschieden werden. Während materielle Güter wie Autos, Maschinen oder Nahrungsmittel körperlich vorhanden sind, sind immaterielle Güter nicht gegenständlich. Dienstleistungen sind eine wichtige Gruppe der immateriellen Güter. Daneben sind Rechte (z. B. Patente, Lizenzen, Urheberrechte) und Informationen (z. B. Nachrichten über einen bestimmten Sachverhalt, ein Ereignis oder eine Entscheidung) weitere Teilbereiche immaterieller Güter. Dienstleistungen als immaterielle Güter sind ebenfalls oft vielgestaltig und können in persönliche und automatisierte Dienstleistungen unterschieden werden. Persönliche Dienstleistungen zeichnen sich dadurch aus, dass der Erstellungsprozess durch menschliche Leistung dominiert wird. Bei automatisierten Dienstleistungen überwiegt die Leistung von Automaten bzw. Maschinensystemen, wie z. B. Datenbanken. Sowohl persönliche als auch automatisierte Dienstleistungen können sich auf Objekte (sachbezogene Dienstleistungen) und Menschen (personenbezogene Dienstleistungen) beziehen (Arnold 2009).

 

Diese Unterscheidung in sach- und personenbezogene Dienstleistungen ist auch für die Dienstleistungserbringung von Bedeutung: Bei sachbezogenen Dienstleistungen muss, damit die Dienstleistung erbracht werden kann, lediglich das Objekt der Dienstleistung zugänglich gemacht oder zur Verfügung gestellt werden.


Beispielsweise sind Reparaturarbeiten im Haushalt sachbezogene Dienstleistungen. Damit eine Reparatur der Waschmaschine als Dienstleistung erbracht werden kann, bedarf es eines Zugangs zur Waschmaschine. Bei der Reparatur an sich ist keine aktive Mitwirkung des / der Auftraggeberln erforderlich.

Personenbezogene Dienstleistungen hingegen werden an einer Person oder zusammen mit einer Person erbracht. Sie können nur durch eine direkte, aktive wie passive Beteiligung dieser Person als DienstleistungsempfängerIn realisiert werden.


Der Haarschnitt beim Friseur, die Untersuchung beim Arzt oder die Fahrt im öffentlichen Nahverkehr sind Beispiele für personenbezogene Dienstleistungen.

Entsprechend dieser Systematisierung sind die Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit personenbezogene Dienstleistungen. Sie werden als persönliche Hilfe- und Unterstützungsleistungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit erbracht und richten sich an Individuen (Einzelne, Paare, Familien oder Gruppen) Dabei ist eine Mitwirkung der AdressatInnen erforderlich.

Die skizzierte Bandbreite personenbezogener Dienstleistungen, vom Friseurbesuch über die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs bis hin zu den Angeboten der Sozialen Arbeit macht jedoch deutlich, dass die Bezeichnung „personenbezogene Dienstleistung“ im Kontext der Sozialen Arbeit zu unscharf wäre. Die erforderliche Eingrenzung auf die Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit leistet das Adjektiv „sozial“. Im Kontext der Sozialen Arbeit können in Anlehnung an Cremer et al. 2013 alle Leistungen und Angebote als personenbezogene soziale Dienstleistungen verstanden werden, die die Soziale Arbeit in ihren unterschiedlichen Praxisfeldern Einzelnen, Paaren, Familien und Gruppen zur Lösung sozialer Probleme und Überwindung problematischer Lebenslagen zur Verfügung stellt. Personenbezogene soziale Dienstleistungen sind damit das Ergebnis eines gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses darüber, welche Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit als gesellschaftlich notwendig und unhintergehbar betrachtet werden und damit in hohem Maße normativ bestimmt(Galuske 2001).

Personenbezogene soziale Dienstleistungen werden in einem beruflichen und entlohnten Kontext erbracht. Leistungen, die außerhalb eines solchen institutionalisierten Kontextes, beispielsweise im familiären oder ehrenamtlichen Bereich, erbracht werden, sind mit dem Begriff der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen nicht gemeint (Grunwald 2013a, Cremer et al. 2013).

Die vorangegangenen Überlegungen zu personenbezogenen sozialen Dienstleistungen im Kontext der Sozialen Arbeit lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:


Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit können, wie auch die Leistungen und Angebote des Gesundheits- und Pflegebereiches, als personenbezogene soziale Dienstleistungen klassifiziert werden. Sie werden persönlich und interaktiv in den unterschiedlichen Praxisfeldern der Sozialen Arbeit im Rahmen einer professionellen und institutionalisierten Tätigkeit erbracht und zielen darauf, das Wohlergehen der jeweiligen AdressatInnen zu gewährleisten und / oder (wieder-) herzustellen bzw. zu verbessern.

2.3 Personenbezogene soziale Dienstleistungen: typische Merkmale

In der Auseinandersetzung mit Dienstleistungen können typische Merkmale identifiziert werden. Diese gelten mit einigen Modifikationen auch für personenbezogene soziale Dienstleistungen. Sie weisen auf die Besonderheiten bei der Leistungserstellung hin. Dies bleibt auch für die Organisationen, von denen sie erbracht werden, nicht folgenlos. Insbesondere ist dabei u. a. zu beachten, dass sich die Arbeit dieser Organisationen im Gegensatz zu anderen Organisationen, die etwa Güter produzieren, auf Subjekte bezieht. Dies bedeutet, dass mit allen Handlungen dieser Organisationen immer auch (Be-) Wertungen und Kategorisierungen verbunden sind, beispielsweise wenn Personen den Status von AdressatInnen der Sozialen Arbeit erhalten (Klatetzki 2010).

Insgesamt können die Merkmale personenbezogener sozialer Dienstleistungen und die damit verbundenen Herausforderungen wie folgt zusammengefasst werden (Arnold 2009; Cremer et al. 2013; Dahme / Wohlfahrt 2013; Klatetzki 2010):

Immaterialität / Intangibilität: Dienstleistungen sind in ihrem Kern immateriell und intangibel, d. h. sie sind nicht sichtbar und auch nicht greifbar. In den Erbringungsprozess können zwar auch Sachleistungen einfließen, die eigentliche Dienstleistung ist jedoch nicht gegenständlich. Das Ergebnis der Dienstleistung wiederum kann, muss aber nicht, immateriell sein. Es kann auch materiell sein bzw. materielle Bestandteile enthalten.


Die Beratungen, die in einer Suchtberatungsstelle zu den möglichen Formen stoffgebundener und stoffungebundener Süchte angeboten werden, sind immateriell und intangibel. Der für die Beantragung einer Entwöhnungsbehandlung z. B. bei der Deutschen Rentenversicherung erforderliche Sozialbericht, der die Ergebnisse der Beratungen zusammenfasst, Rehabilitationsformen empfiehlt und ggf. auf bei der Therapie zu beachtende Besonderheiten hinweist, ist das materielle Ergebnis des immateriellen Beratungsprozesses.

Aufgrund der fehlenden Gegenständlichkeit der zentralen Leistung kann im Vorfeld lediglich eine ungefähre Vorstellung von der Dienstleistung entwickelt werden, genau ist sie jedoch nicht bekannt. Eine vorherige Prüfung der Dienstleistung und ihrer Qualität sind somit im Gegensatz zu einem materiellen Gut wenn überhaupt nur sehr eingeschränkt möglich. Die Entscheidung über die Inanspruchnahme der Dienstleistung ist dadurch von einer Unsicherheit geprägt. Es bedarf eines Vertrauensvorschuss auf Seiten der nachfragenden Person, dass eine für die eigene individuelle Situation passende und effiziente Dienstleistung angeboten wird.


Im Vorfeld einer Suchtberatung ist es zwar möglich, sich den Ablauf und die Beratungsgespräche vorzustellen. Eventuell können auch Menschen zu ihren Erfahrungen mit dieser Suchtberatung befragt werden. Die Frage, ob die Suchtberatung auch für die eigene individuelle Situation die passende ist und ob die in einem anderen Fall erlebte Qualität der Leistung auch im konkreten Fall gegeben sein wird, kann im Vorfeld nicht abschließend beantwortet werden.

Einbeziehung der NachfragerInnen in die Dienstleistungserstellung: Dienstleistungen können nur erstellt werden, wenn die nachfragende Person oder ein ihr gehörendes Objekt in den Prozess der Dienstleistungserstellung einbezogen werden. Bei den personenbezogenen sozialen Dienstleistungen der Sozialen Arbeit wird in diesem Zusammenhang auch von der Koproduktion gesprochen: Gelingende Soziale Arbeit ist nicht das Resultat von einseitigen, ausschließlich durch die Fachkräfte geplanten Prozessen. Vielmehr entstehen Soziale Arbeit und ihre Ergebnisse durch die Interaktionen und die Einbeziehung und Beteiligung der AdressatInnen in die jeweiligen Hilfe- und Unterstützungsprozesse. Da es sich bei den AdressatInnen der Sozialen Arbeit oftmals um Menschen handelt, die zumindest zeitweise nicht aktiv für ihre Belange eintreten können, haben die Fachkräfte eine besondere Verantwortung, z. B. die Bedingungen so zu gestalten, dass die erforderlichen Interaktionen möglich werden (Spiegel 2018). Diese erforderliche Mitwirkung der AdressatInnen bei der Leistungserstellung einerseits und die Verantwortung der Fachkräfte andererseits haben sowohl Auswirkungen auf das Ergebnis der Dienstleistung, als auch auf ihre Qualität. Damit hängen Erfolg und Qualität der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen in der Sozialen Arbeit auch davon ab, wie die Beziehung zwischen Leistungserbringenden und Nachfragenden gestaltet ist. Auch hier, bei dem Aufbau einer förderlichen Arbeitsbeziehung, liegt die Verantwortung für die Gestaltung der dazu erforderlichen Bedingungen bei den Fachkräften der Sozialen Arbeit.


In der Sozialen Arbeit ist bei der Erstellung von Dienstleistungen meist ein aktives Zusammenwirken von NachfragerInnen und SozialarbeiterIn erforderlich: Eine Suchtberatung wird ohne eine aktive Beteiligung der betroffenen Person, die über eine reine Anwesenheit hinausgeht, schwer möglich sein. Der Erfolg des Beratungsprozesses hängt zu einem nicht unwesentlichen Teil davon ab, ob sich die betroffene Person auf den Prozess eingelassen hat. Dabei sind die Fachkräfte der Suchtberatungsstelle dafür verantwortlich, die Bedingungen so zu gestalten, dass es für die betroffene Person auch tatsächlich möglich wird, sich auf den Prozess einzulassen und diesen mitzubestimmen.


Uno-actu-Prinzip: Bei personenbezogenen sozialen Dienstleistungen erfolgen die Produktion, also die Leistungserstellung, und der Konsum, also die Inanspruchnahme der Leistung, gleichzeitig. In dem Moment, in dem die Dienstleistung erstellt wird, wird sie auch verbraucht. In diesem Zusammenhang wird auch von dem Uno-actu-Prinzip gesprochen.