Kitabı oxu: «106. Ausgabe der allmende – Zeitschrift für Literatur»

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Man kann also behaupten, dass eine Lehre des Virus darin besteht, uns mit Gewalt und Macht in das digitale Zeitalter zu schieben. Keine Produktions- und keine Rezeptionsformen werden davon unberührt bleiben. Der konstante Aufruf »Nicht näherkommen!« ziert auf prognostische Weise das Eingangsportal zur Ferngesellschaft.

Peter Weibel: Virus, Viralität, Virtualität. Oder: das Corona-Virus, der Leviathan der Nahgesellschaft (allmende – Zeitschrift für Literatur, Nr. 105, Juli 2020)


»Der Ausnahmezustand, wie eine Ausgangssperre, wird zum Normalzustand«, konstatierte der Medienwissenschaftler und Künstler Peter Weibel am Beginn des ersten Lockdowns im März 2020. Für kurze Zeit kehrte man im Sommer begrenzt zur ›Normalität‹ vor Corona zurück, mit Masken und drastisch reduzierten Besucher- und Teilnehmerzahlen. Jetzt, am Ende des Jahres, befinden wir uns in einem sogenannten ›Lockdown light‹: Kulturelle Veranstaltungen sind nicht möglich, die Museen wieder geschlossen, die Universitäten das zweite Semester in Folge ohne Präsenzveranstaltungen, die Mobilität ist stark eingeschränkt, Hotels sind lediglich für beruflich Reisende geöffnet, die Gastronomie musste wieder schließen und persönliche Kontakte wurden stark reduziert; Kitas und Schulen hingegen versucht man funktionsfähig zu halten. Bald dauert es ein Jahr, dass das Virus uns beschäftigt – zunächst weit entfernt im chinesischen Wuhan, dann die ersten Fälle in Italien und zurzeit wieder mit global rasant steigenden Infektionszahlen. Alle europäischen Staaten sind im Moment als Risikogebiete zu meiden. Die Pandemie wird zum Normalzustand und wir werden damit noch einige Jahre leben müssen – daran können auch die ersten Impfstoffe nur wenig ändern. »Das Coronavirus dürfte ganz im Gegenteil einen Wandel, der schon im Gange ist, beschleunigen«, prophezeit der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in der FAZ (Nr. 19, 10. Mai 2020). Das betrifft nicht allein den eindeutig beschleunigten Prozess der Digitalisierung und damit die Festigung des »digitalen Kapitalismus«, wie ihn Philipp Staab beschreibt: »Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus wie Google, Apple, Facebook oder Amazon sind bekanntlich zu den wertvollsten und wahrscheinlich mächtigsten Konzernen der Welt aufgestiegen.«

»Die geschlossene Gesellschaft, zu der wir verdammt sind, öffnet unsere Köpfe!«, erhofft sich Peter Weibel. Das war für uns nach den Beiträgen in der letzten Ausgabe der allmende, die bereits geprägt waren durch die ersten Erfahrungen mit der Pandemie, Anlass, nach den Erfahrungen mit dem Virus zu fragen, nach den Ängsten und den Zukunftsperspektiven, die schließlich die Gesellschaft im Ganzen betreffen: die ökonomische Entwicklung, die rechtsstaatlichen Folgerungen und das soziale Zusammenleben. »Ob die Pandemie meine Arbeit beeinflusst? Ich habe mir fest vorgenommen, darüber nicht zu schreiben, aber weiß nicht, ob ich das durchhalte«, antwortete uns Peter Schneider – und mit dieser Haltung steht der Schriftsteller und Essayist nicht allein. Andererseits sind bereits zahlreiche Schriften über die Corona-Krise erschienen. »In diesem Herbst habe ich bereits 25 Corona-Bücher gezählt. Das erste kam Anfang Mai heraus«, berichtet Vea Kaiser in ihren Tischgesprächen zur Gegenwart, die am Anfang dieser allmende stehen. Einen Überblick über einen Ausschnitt der erwähnten Neuerscheinungen finden Sie im abschließenden Rezensionsteil. Und die Zeitenwende? Ursula Poznanski äußert sich in den Tischgesprächen eindeutig: »Ich glaube tatsächlich, dass wir in einer Art Umbruchzeit leben, weil sich die Gräben immer weiter aufmachen zwischen wohlhabend, nicht wohlhabend, gebildet, ungebildet, rechts und links.« Die Corona-Krise steigert das Bewusstsein über die Gefährdung der Zivilgesellschaft, die globalen kriegerischen Auseinandersetzungen, den Kampf um die Hegemonie in Asien und Afrika und die Auslöschung der architektonischen Zeugnisse vergangener kultureller Größe – Palmyra steht dafür als eine traurige Chiffre. Ebenso wie »Ausgangssperre«, ein Zustand, der über Corona hinaus für Wege zu autoritären Gesellschaftsformen stehen wird. »Auch im übrigen Europa sind die Bürger immer öfter gefordert, das zivile Minimum zu verteidigen«, so die Befürchtung von Peter Schneider. Im belarussischen Minsk demonstrieren seit Wochen zehntausende mutige Frauen und Männer gegen die Diktatur, in Ungarn wird die Rechtsstaatlichkeit und Wissenschaftsfreiheit Stück für Stück außer Kraft gesetzt, und in Polen, wo die Unabhängigkeit der Gerichte längst nicht mehr existent ist, wird die Selbstbestimmung insbesondere der Frauen immer weiter eingeschränkt. Bleibt zu fragen, was angesichts der Pandemie in Frankreich und Italien spätestens nach den nächsten Wahlen geschehen wird?

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sieht in der Krise einen »Zivilisationstest«. Er fragt: »Wie lernen Kulturen?« und »Wie wollen wir künftig leben? Darüber müssen wir jetzt reden und streiten«. Daran schließt Marlene Streeruwitz unmittelbar an: »Es sind wohl solche Ereignisse wie die Pandemie durch den Covid-19 Coronavirus, die die Zeit selbst zum Vorschein bringen. Und. Ob sie sich nun wendet oder eher kippt.« Georg Büchner lesend heißt das für sie: »Literatur ist das besondere Modell von Zeit, in dem Freiheit existieren kann.« Ähnlich argumentiert auch die Literaturkritikerin Insa Wilke: »Wenn literarische Sprache gut ist, kann sie wieder in eine Erfahrung zurückführen«. Dafür stehen die Reflexionen von Lena Gorelik und Peter Stamm als Beispiel. Ganz anders, aber nicht weniger gewichtig, sind die Aphorismen von Martin Walser, die vollständig unter dem sprechenden Titel Sprachlaub. Wahr ist, was schön ist im März 2021 erscheinen werden. Die verheerenden sozialen Folgen, die der Lockdown für Künstler und fast alle Kulturschaffende mit sich bringt, betont Nadja Küchenmeister: »Ihre Existenzgrundlage ist fundamental bedroht bis zerstört und sie müssen nun, vielleicht temporär, vielleicht für immer, nach anderen Einkommensmöglichkeiten suchen.« Was bleibt, so Björn Kern in seinem Wutanfall über den Zustand des Weltgebäudes, ist die »Sehnsucht nach einer Welt, in der Leben und Zerstören nicht ein und dasselbe sind« – daher spricht Lucia Leidenfrost in ihren Reflexionen auch nicht von einem ›Prinzip Hoffnung‹, sondern von einer »Miniaturutopie«.

Vom Ende der Nahgesellschaft war die Rede. Doch für die Kultur und die Künste kann es eine digitale Zukunft immer nur als – teilweise notwendige – Erweiterung geben. Das zielt auf die Vermittlung. Das Schreiben ist notwendig ein einsamer Akt, die Lesungen dagegen nicht: »Das ist nicht nur finanziell eine Einbuße, ich habe auch gemerkt, wie sehr eben auch die Literatur eine performative Kunst ist«, sagt Peter Stamm. Und politisch auf das europäische Projekt bezogen? »Die EU ruckelt, aber sie bewährt sich«, schreibt Eva Menasse. »Vielleicht hat dieser Kontinent aus hunderten blutigen Jahren doch etwas gelernt?« Was Simon Strauß in seinem Beitrag bestätigt: »Eine Gesellschaft, die den Wert der Poesie vergisst, wird verhärten. Ohne die Literatur ist Europa verloren.« Zeitenwende? Andreas Rödder bilanziert: »Die Gegenwartsdiagnose meint fast immer, eine Zeitenwende zu erleben. Historiker sind da gelassener, neigen allerdings zu einer Nonchalance à la ›nichts Neues unter der Sonne‹«.

Wir danken allen Beiträger*innen für die Mitarbeit und Unterstützung. Eine Momentaufnahme inmitten der Pandemie hatten wir uns vorgenommen und wir waren überwältigt von den konstruktiven literarischen und theoretischen Rückmeldungen. Was bleibt, ist die Zuversicht. Peter Schneider soll das letzte Wort haben. Mit Blick auf den »digitalen Fernverkehr« von Telemedizin, Onlinehandel und Homeoffice ist er sich gewiss: »Aber mit und gegen diese Trends wird es auch eine Rückkehr zu der am meisten entbehrten Austauschform zwischen Menschen geben: zur Berührung.«

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

Matthias Walz


allmende Nr. 106

Dezember 2020 · 40. Jahr

Redaktion

Hansgeorg Schmidt-Bergmann und Matthias Walz

Herausgegeben von Hansgeorg Schmidt-Bergmann im Auftrag der Literarischen Gesellschaft, Karlsruhe

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Onlineausgabe:

ISBN 978-3-96311-599-8

Printausgabe:

ISSN 0720-3098

Einzelbezug: ISBN 978-3-96311-505-9

Abobezug: ISBN 978-3-96311-506-6

U1 Strandpromenade von Westerland auf Sylt picture alliance /dpa | Christian Charisius

1 Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Bettina Schulte

Matthias Walz: MLO

6 Vea Kaiser: David Payr

Clemens Berger: Katharina Susewind

Ursula Poznanski: Gaby Gelster | Loewe Verlag GmbH

Marc Elsberg: Lukas Ilgner

15 Ristorante Rossini: Guiseppe Maione

17 Jan Wagner: MLO

21 Bernhard Pörksen: Peter-Andreas Hassiepen

25 Marlene Streeruwitz: bahoe books

27 Insa Wilke: Mathias Bothor

28 Ulrike Draesner: MLO

35 Lena Gorelik: Charlotte Troll

37 Alissa Walser: Aquarell, 40 × 40 cm, 2020

38 Martin Walser: MLO

42 Nadja Küchenmeister: Franziska Buddrus

44 Björn Kern: Suskia

47 Homeoffice und Homeschooling:

picture alliance/KEYSTONE | ALESSANDRO DELLA VALLE

48 Digitale Lehre:

picture alliance/dpa | Uwe Zucchi

49 Philipp Staab: Robert Poorten

57 Peter Stamm: Anita Affentranger

60 Lutz Seiler: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

63 Ensemblemusik mit Abstand:

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Isao Tsuchiya

64 Louvre:

picture alliance/dpa/MAXPPP | Olivier Donnars / Le Pictorium

68 Eva Menasse: juergen-bauer.com

69 Logo: ›Arbeit an Europa‹

71 Corona-Kontrollen an der Grenze zu Polen in Görlitz:

picture alliance / Geisler-Fotopress | Matthias Wehnert/ Geisler-Fotopress

71 Simon Strauß: Martin Walz

73 Gedenken an George Floyd in Warschau:

picture alliance / NurPhoto | Aleksander Kalka

76 Lucia Leidenfrost: punktachtneun.de

77 Reichsflaggen vor dem Reichstag:

picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Paul Zinken

78 Donald Trump:

picture alliance / abaca | Gripas Yuri/ABACA

79 Andreas Rödder: Bert Bostelmann

81 Synagoge in Halle (Saale):

picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jan Woitas

83 Peter Schneider: MLO

84 Überwachungskamera am Tian’anmen-Platz in Peking

picture alliance / AP Photo | Andy Wong

96 Claude Vigée: MLO

98 Maren Kames: Mathias Bothor

Nora Bossong: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

99 Fatma Bahar Aydemir: MLO

Thomas Hettche: MLO

Sven Amtsberg: Maike Hogrefe

Marion Poschmann: Frank Mädler

100 Annette Pehnt: Peter von Felbert

101 Clemens Meyer: Gaby Gerster

Josephine von Blueten Staub: Nina Zerche

Carolin Callies: Thommy Mardo

102 Thilo Krause: Peter-Andreas Hassiepen

Esther Kinsky: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

103 Saša Stanišic: Katja Sämann Nora Gomringer: Judith Kinitz

104 Hermann Hesse Literaturpreis-Verleihung: Fränkle

Cihan Acar: Robin Schimko

Anne Weber: Thorsten Greve

Nicht bei allen Fotos konnten die Rechteinhaber ermittelt werden. Wir bitten um Kontaktaufnahme.

Dank für die großzügige Unterstützung an Prof. Dr. Matthias Siegmann, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof

ZEITENWENDE - Inhalt

Vea Kaiser / Clemens Berger / Marc Elsberg / Ursula Poznanski – Tischgespräche zur Gegenwart

Jan Wagner – de vita caroli quarti

Bernhard Pörksen – Zivilisationstest. Die Corona-Krise liefert Antworten auf die Zukunftsfrage der Menschheit: Wie lernen Kulturen? Ein Essay

Marlene Streeruwitz – »zurück bei Büchner.«

Insa Wilke – 5 Fragen – 5 Antworten

Ulrike Draesner – vermooste hose: wie wir nun ranzen

Lena Gorelik – Corona-Tagebuch

Martin Walser – Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist

Nadja Küchenmeister – im zug | es beginnt, wo es endet | 5 Fragen – 5 Antworten

Björn Kern – Ein Wutanfall. Oder: Von der Sehnsucht nach einer Welt, in der Leben und Zerstören nicht ein und dasselbe sind

Philipp Staab – 5 Fragen – 5 Antworten

Peter Stamm – Corona-Tagebuch | 5 Fragen – 5 Antworten

Lutz Seiler – drüben stehen die robinien | in schreibschrift geschrieben tage-läuten, tage-pfeifen

Eva Menasse

Simon Strauß – 5 Fragen – 5 Antworten

Lucia Leidenfrost – Vor, während und eine Miniaturutopie nach der Pandemie

Andreas Rödder – 5 Fragen – 5 Antworten

Peter Schneider – 5 Fragen – 5 Antworten

Rezensionen

Andreas Kohm – In Erinnerung an Claude Vigée

kurzform


VEA KAISER, CLEMENS BERGER, MARC ELSBERG, URSULA POZNANSKI

Tischgespräche zur Gegenwart

Vea Kaiser: Es hat sich viel getan in diesem Jahr. Schon allein, dass wir uns heute hier treffen können ist eine Ausnahmesituation, eigentlich wäre zurzeit Frankfurter Messe.

Ursula Poznanski: Es war sicher richtig, dass die Messe abgesagt wurde. Ich war einen Abend in Frankfurt, aber habe keine Messe gesehen. Ich war am Hauptfriedhof, das war insofern gut, weil ich den brauche für mein aktuelles Buch, und hatte am Abend eine Lesung vor 50 Leuten in einem Raum, wo sonst 150 reingegangen wären. Dann bin ich wieder nach Hause geflogen. Es war insgesamt ein bisschen sinnbefreit. Es gab sogar einen Büchertisch, aber man durfte nicht signieren.

K: Clemens, Du hast gerade in Köln gelesen, wie war es dort?

Clemens Berger: Das Forum Independent hat dort ein Buchfest veranstaltet. Das Pech war, dass an diesem Morgen die Kanzlerin sagte, man solle zu Hause bleiben. Nach Monaten an Vorbereitung war dann sehr wenig los. Ich hatte zwei Lesungen, die erste war um vier. Da waren vielleicht 30 Leute, die zweite hätte um sieben sein sollen, aber da kein Mensch mehr da war, haben wir es gelassen. Dann wollten wir essen gehen, in ein Restaurant, in dem man normalerweise ohne Reservierung keinen Platz bekommt. Als wir hinkamen, war dort kein einziger Mensch. Im Hotel waren beim Frühstück fünf Leute. Man musste zuerst die Hände desinfizieren und dann über die desinfizierten Hände Einwegplastikhandschuhe ziehen. Beim Rückflug, am Sonntag, bin ich sicher zwei bis drei Kilometer durch die Gänge gegangen, ohne einen einzigen Menschen zu sehen. Aber im Flugzeug saßen alle Schulter an Schulter, das finde ich wirklich absurd.

K: In Deutschland beobachtete ich auf der einen Seite viel strengere Regeln, und auf der anderen Seite viel größere Nicht-Akzeptanz dieser. Als ich mit der Deutschen Bahn fahren musste, befand sich mein zugeteilter Sitzplatz neben einem älteren Herrn. Der wollte keine Maske tragen, also hat er sich eine Bierflasche bestellt und an der vier Stunden genuckelt.

P: Stell dir vor, das Virus wäre noch ansteckender und bei 50 % der Infizierten tödlich. Die Leute würden sich doch gegenseitig umbringen, wenn man jemanden ohne Maske sieht.

Marc Elsberg: Interessant ist: Wenn man sich die Seuchenfilme der letzten Jahrzehnte anschaut, sieht man nirgendwo eine Maske.

K: Wie oft habt ihr euch im letzten Jahr gedacht: Um Gottes Willen, das ist ja wie in meinen Romanen? Die Realität holt die Fiktion ein.

P: Ich habe sowas nie geschrieben und habe auch keine Lust, es zu schreiben. Für eine Dystopie müsste man es noch ein bisschen mehr auf die Spitze treiben.

E: Lustig sind die Cartoons, wo zwei Menschen auf der Couch sitzen und sagen: Niemand hat bei diesen Dystopien die Langeweile erwähnt. Das liegt aber natürlich auch an dem Verlauf, den wir haben.

P: Es rechnet ja auch niemand damit, dass du der Sache mal so müde wirst, also dass die Krise einmal langweilig wird. Am Anfang haben noch alle aus den Fenstern gesungen.

B: Der Anfang ist immer interessant.

P: Wir ziehen alle an einem Strang, wir schaffen das!

E: Um die Frage zu beantworten, jein, die Dynamik war bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar, wenn man sich mit solxchen Situationen beschäftigt, so wie ich in »Blackout«. Dass sich die Leute nicht schon nach ein paar Stunden gegenseitig umbringen, sondern dass man in einer Krise am Anfang zusammenhält. Mein Agent und mein Verlag wollten jahrelang, dass ich über eine Pandemie schreibe, aber das hat mich nicht interessiert, weil es schon in den späten 90ern ein riesengroßer Hype war.

K: In diesem Herbst habe ich bereits 25 Corona-Bücher gezählt. Das erste kam Anfang Mai heraus. Ein Schweizer Journalist dürfte binnen einer Woche einen Corona-Roman geschrieben haben. Keine Ahnung, wie der das gemacht hat. Hat es euch bisher gereizt, über Corona zu schreiben?

E: Gar nicht.

P: Nein.

B: Nein.

K: Okay, ich gestehe: Ich schrieb vier Wochen lang über alle diese Paare in meinem Freundeskreis, die durchdrehten, weil die Traumhochzeit nicht stattfinden kann. Ich glaub, ich bin sogar auf 110 Seiten gekommen und dann habe ich alles gekübelt, weil es mir richtig peinlich war.

E: Hast du es gekübelt, weil du dir gedacht hast, dass es eine uninteressante Geschichte ist, oder weil es gerade so viele machen?

K: Beides, zum einen, weil ich das Gefühl hatte, dass das Genre explodieren wird und ich nicht machen will, was alle machen und zweitens bin ich keine Journalistin. Ich kann nur über Dinge schreiben, die abgeschlossen sind, die nicht noch in der Entwicklung begriffen sind. Das war auch der Grund, warum ich mit euch darüber reden wollte, weil ich einfach merke, weil ich noch nicht verstehe, was gerade passiert. Außerdem verstecke ich mich seit Jahren vor einem Projekt, das ich schreiben möchte, aber wahnsinnig Recherche-intensiv ist, weil ich dafür Esperanto lernen muss. Das Corona-Buch war wahrscheinlich ein Versuch, das Lernen aufzuschieben. Was habt ihr denn in diesem Jahr gemacht?

P: Heftig geschrieben, zwei Bücher und ein Spiel mit 50 Rätselkarten.

K: Wäre das anders gewesen, wenn 2020 nicht 2020 gewesen wäre?

P: Nein, weil ich es ihnen schon vorher zugesagt habe.

E: Ich habe auch nichts anders gemacht, nur ein paar Vorträge wurden abgesagt.

K: Konntet ihr euch im Endeffekt mehr auf die Arbeit konzentrieren?

E: Ich war gerade in einer Intensivschreibphase und dachte, ich könnte mich viel besser aufs Buch konzentrieren, weil ich nicht 15 Mal zu Vorträgen nach Deutschland musste. Aber letztendlich konnte ich das nicht so gut, wie ich gedacht hätte, weil man durch die Sache schon ein bisschen abgelenkt war. Ich bin nach Jahren wieder jeden Abend vor der »Zeit im Bild« gesessen.

P: Ich habe am Anfang jede von den Pressekonferenzen angeschaut.

B: Ich hatte im März ein sechs Monate altes Baby und habe in einer absoluten Parallelwelt gelebt, das war herrlich. Ich war jeden Tag zehn Kilometer mit meiner Tochter spazieren. Ich glaube nicht, dass mein Leben ohne Corona anders gewesen wäre, dem Baby ist die Pandemie ja egal. Mich hat interessiert, wie sich die Stadt verändert.

K: Wer von euch hat Klopapier gehamstert?

B: Nein, null, weil ich gedacht habe: Was ist das für ein Blödsinn? Wenn es hart auf hart kommt, können wir alle duschen.

E: Eine Packung hat man meistens eh zu Hause rumliegen, damit kommt man zumindest eine Zeit lang aus.

K: Mir ist tatsächlich an dem Tag das Klopapier ausgegangen und das war eine bittere Situation. Andere Frage: wie ist denn das mit der Einsamkeit? Wir haben ja alle keinen Job, der uns zwingt, mit anderen Menschen zu verkehren und jetzt sind meine sozialen Kontakte wirklich wenig geworden. Wie geht es euch damit?

E: Klar, während dem Lockdown war das sehr reduziert, aber in dem Augenblick, wo es wieder aufgegangen ist, war ich schon zwei Wochen weg und dann haben wir wieder ein normales Leben aufgenommen. Das einzige, was ich halt nicht mache, ist, Vorträge zu halten und dann mit irgendwem an der Bar herumzuhängen, aber Freunde treffen hat sich bei mir nicht wirklich geändert.

P: Mir ist aufgefallen, dass man immer mit denselben Leuten redet, man hat die Familie und dann vielleicht zwei Freunde, mit denen man »whatsappt« und regelmäßig Kontakt hat. Mir ist aber aufgefallen, dass nach zwei Wochen, die Alltagsgespräche weg waren. Dass man sich mit Leuten, die man nicht kennt, kurz unterhält. Irgendwas fehlt mir da im normalen Umgang mit Menschen.

B: Am Beginn war die große Angst, man sprach kaum mit Leuten, eine Höflichkeit aus Nichtwissen, wie gefährlich das ist. Als es hieß, Babys seien Virenschleudern, versteckten sich Menschen in Hauseingängen, wenn wir vorübergingen. Andererseits kommt man mit Menschen ganz anders ins Gespräch, wenn man zum Beispiel älteren Leuten was vom Einkaufen mitbringt. Meine Nachbarn waren so dankbar und glücklich. Aber diese Solidarität war ziemlich schnell wieder verflogen.

K: Bei mir im Haus wars genau das Gegenteil, wir haben einen Nachbarn, der hat schon seit Jahren das Hobby, aus dem Fenster zu schauen, ob jemand sich kurz auf seinen Parkplatz stellt, und dann sofort die Polizei zu rufen. Der hat sich im Lockdown ein anderes Hobby angewöhnt, er steht den ganzen Tag vor dem Billa und beschimpft die Eltern, wenn sich Kinder an die Maske greifen. Der lebt dafür! Wir haben ja den Donaukanal vor der Haustüre, viele junge Leute oder Familien, die auf beengten Verhältnissen leben, gehen dort spazieren. Die Wiener Blockwarte riefen die Polizei, aber es ist trotzdem immer mehr geworden. Bald sah man sogar Fahrräder mit den Kühltaschen, die Bier verkauften, und am Schluss gab es fliegende Händler, die Aperol Spritz, Gin Tonic, Zigaretten und Knabberzeugs verkauften. Unglaublich, wie schnell ein eigener Wirtschaftszweig entstand.

E: Diese Situation funktioniert ja als Brennglas und Verstärker, nicht?

B: Das war am Anfang auch meine These, dass man in so einer Situation noch einmal verstärkt sieht, wie jemand ist. Absolut interessant war, dass ich bis vor Corona zu 95% voraussagen konnte, wie die Leute auf politische Ereignisse reagieren. Bei Corona war das plötzlich komplett anders, komplett andere Zugangsweisen, komplett andere Positionierungen.

E: Es hat sich auch verstärkt, was man in den letzten Jahren speziell in den sozialen Medien und in den ganzen öffentlichen Diskursen mitgekriegt hat: Dass die extreme Unhöflichkeit, die hier Platz gefunden hat, stärker wurde und dass sich manche Leute, vielleicht aus Frust, getraut haben, alles rauszulassen, was sie sich bis dahin nicht getraut haben. Die Leute werden unberechenbar, sie verlieren die Nerven oder denken, dass ihre Zeit gekommen ist, weil es jetzt eh schon egal ist.

P: Es war auch spannend zu sehen, was für ein riesengroßes Publikum man für Verschwörungstheorien gewinnen kann. Ich denk mir immer: Die richtig guten Romanplots sind die von den Verschwörungstheorien.

E: Bei vielen Menschen weiß man ja, dass die nicht erst jetzt plötzlich Verschwörungstheoretiker werden, die waren das immer schon, nur jetzt trauen sie sich plötzlich. Das ist noch einmal ein Schub mehr, diesem ganzen Müll zuhören zu wollen.

K: Ich habe beobachtet, dass da viel Einsamkeit ist und eine gewisse ökonomische Verzweiflung, weil die Krise ein Brennglas ist, sie verstärkt alles. Die vorher schon Schwierigkeiten hatten, durchzukommen, kommen jetzt gar nicht mehr durch, die vorher schon einsam waren, sind jetzt sehr einsam.

E: Die, die vorher schon reich waren, sind jetzt noch reicher.

B: Aber das ist es nicht nur, das betrifft auch AfD-Wähler, Trump-Wähler, etc., und das sind ja nicht immer nur arme Leute. Im Gegenteil, das hat andere Motive. Das Problem ist ja nicht, dass Menschen irgendeinen Schwachsinn glauben, sondern dass sie ihn glauben wollen.

P: Ich glaube, das sind Menschen, die eine Erklärung suchen oder einen Schuldigen haben wollen.

K: Mir ist noch was anderes aufgefallen: Ganz oft sind Leute, die für diese Theorien zugänglich sind, diejenigen, die uns noch vor ein paar Jahren erklärt haben, sie könnten auch Bücher schreiben, wenn sie wollten. Bzw. ihre Lebensgeschichte wäre Stoff für zehn Romane. Mir scheint: Es hat etwas zu tun mit der gefühlten Bedeutung des eigenen Ichs.

E: Die Ich-Zentrierung ist da sicher ganz wichtig. Man will in der Gesellschaft eine Stimme haben, die man im Leben nicht hat. Und dann vertritt man obskure Ideen.

B: Das ist ein heikles Gebiet, das stimmt auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite sollte man auch eine eigene Meinung haben dürfen. Es ist auch ein großes Problem, dass man dann sehr schnell als Verschwörungstheoretiker abgestempelt wird. Jede Verschwörungstheorie hat einen Kern von Wahrheit. Sonst würde sie nicht funktionieren.

P: Verschwörungstheorie wird über alles darübergestülpt, was einem nicht passt? Ich glaube, es braucht schon gewisse Parameter, damit es sich als Verschwörungstheorie qualifiziert.

B: Wenn es aber zum einzigen großen Abwertungsbegriff wird, zurecht oder zu Unrecht, ist das schon problematisch. Natürlich ist vieles davon kompletter Blödsinn.

K: Ihr habt beide dieses Jahr ein Buch herausgebracht, habt ihr dabei die Krise bemerkt?

B: Lesungen sind weniger, aber immerhin gibt es noch Veranstaltungen, nur kann in der Regel bloß ein Drittel der Leute kommen, die sonst kommen könnten.

P: Mein Buch ist tatsächlich eine Woche, bevor die Buchhandlungen zugesperrt haben, erschienen. Das Timing war ganz großartig. Mit den Zahlen ist es immer noch einigermaßen gegangen, aber man spürts auf jeden Fall. Die Leute haben halt völlig andere Sachen gekauft und nicht einen Krimi, der auf einem Friedhof spielt.

K: Mein Buch, das schon ein Jahr alt ist, wurde dafür im Frühjahr relativ häufig gekauft. Ich habe in den Buchhandlungen nachgefragt, und die haben mir erzählt, dass sie totale Probleme damit haben, Neuerscheinungen zu verkaufen. Die Leute haben eher das gekauft, was sie schon kennen, was ihnen jemand empfohlen hat. Das ist ein Sicherheitsdenken.

E: Man möchte wohl lieber etwas Vertrautes nehmen in so einer Zeit, etwas, das sich schon ein bisschen bewährt hat. Abenteuer sind eh grade genug, da braucht man nicht auch noch ein neues Buch, wo man nicht weiß …

K: Ich hatte in der Zeit des Lockdowns drei Interviewanfragen zum Thema: »Frau Kaiser, wie arbeitet man zu Hause?«

P: Das fand ich auch so lustig! Wie geht’s Ihnen jetzt, was hat sich an Ihrem Arbeitsalltag verändert?

E: Bei den Interviews, die bei mir auch zum Teil reinkamen, war das immer eine Frage. Da fragt man sich natürlich schon, ob der jetzt mitdenkt. Das liegt aber vielleicht daran, dass man nach wie vor ein komisches Bild von uns Autorinnen und Autoren hat. Nichten und Neffen von mir, die noch nicht im Berufsleben stehen, haben Jahre lang nicht verstanden, was ich eigentlich mache. Arbeiten kann man nur im Büro, weil alle Eltern und die Eltern im Umfeld das so machen. In der Sicht der Leute ist außerdem jeder, der ein Buch veröffentlicht hat, Millionär.

B: Bei mir ist das eher umgekehrt: Jeder, der ein Buch veröffentlicht hat, ist ein armer Schlucker.

K: Wird sich denn die Literatur durch dieses Jahr ändern, beziehungsweise der Literaturmarkt? Was die Leute schreiben, wer schreibt? Wird sich unsere kleine Insel der Seligen ändern oder wird es nach nächstem Jahr wieder so werden, wie es immer war?

E: Die Langzeitfolgen bleiben abzuwarten, und wenn die Wirtschaft jetzt noch einmal zusammenbröckelt, kann das schon noch einmal einiges bewegen. Was dann passiert, wissen wir nicht so recht. Dann könnte für vieles alles noch existenzieller schwierig werden. Was ich mich gefragt habe, ist: Was bedeutet Literatur zum Beispiel für eine Kriegsgeneration und für heutige Leser? Was ist da der Unterschied? Was für eine Literatur schreibt man für Leute, die nie Extremsituationen erlebt haben? Wir alle haben immer nur Überfluss und Wohlstand erlebt und erleben jetzt zum ersten Mal so etwas wie ein bisschen eine Krise. Da wird vielleicht interessant, ob sich etwas verändern wird, wobei ich nicht sagen könnte, was. Was für Bücher wollten Leute lesen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben? Ob das nicht andere Bücher waren, als das, was unsere Generation lesen wollte, weil sie solche existenziellen Erfahrungen nie gemacht hat? Wenn es da einen Unterschied gibt, vielleicht kommt der wieder ein bisschen raus. Aber ich würde, wie gesagt, nicht wissen, was das dann wird.

P: Ich hatte eine uralte Großmutter, die zwei Weltkriege erlebt hat, und die wollte immer nur lustige Sachen im Kino sehen. In Krisen- und Kriegszeiten hatte man immer diese heile Welt, speziell von Filmen.

B: Das war damals anders als heute. Es war eine scharfe Trennung zwischen E und U, zwischen Unterhaltung und dem Wertvollen. Wir wollen nicht daran erinnert werden, wir wollen lachen, wir wollen Romanzen.

17,96 ₼
Janr və etiketlər
Yaş həddi:
0+
Litresdə buraxılış tarixi:
23 dekabr 2023
Həcm:
201 səh. 69 illustrasiyalar
ISBN:
9783963115998
Müəllif hüququ sahibi:
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