Kitabı oxu: «Bürgergesellschaft heute»

Şrift:

Wolfgang Mazal / Bettina Rausch

Bürgergesellschaft heute

Grundlagen und politische Potenziale

edition noir

Haftungsausschluss:

Das ist eine gemeinsame Publikation vom Wilfried Martens Zentrum für Europastudien und der Politischen Akademie der Volkspartei. Diese Publikation wird mit finanziellen Mitteln vom Europäischen Parlament unterstützt. Das Wilfried Martens Zentrum, die Politische Akademie und das Europäische Parlament übernehmen keine Haftung für die Inhalte der einzelnen Beiträge. Die alleinige Verantwortung für die verhandelten Inhalte obliegt den Autorinnen und Autoren.

Begutachtet von: Sandra Pasarić, WMCES (Brüssel, Belgien), und Christian Moser-Sollmann, PA (Wien, Österreich).



edition noir

Impressum:

© 2021 Verlag noir, Wien

Verlag noir, 1120 Wien, Tivoligasse 73

Redaktion: Christian Moser-Sollmann, Felix Ofner, Roman Schachenhofer, Lorenz Jahn

Grafik: B. Könighofer

ISBN: 978-3-9504939-2-4

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

I. Grundlagen und Theorie der Bürgergesellschaft

Von der Bürgergemeinschaft zur Bürgergesellschaft Politische Partizipation in Antike und Gegenwart

Simon Varga

Zivilgesellschaft und Bürgertum

Ernst Bruckmüller

Grundlagen der Bürgergesellschaft Gegen welche Trends muss man sie sichern?

Werner J. Patzelt

Phänomenologie der Bürgergesellschaft

Manfred Prisching

Die Bürgergesellschaft – ein (neo-?)liberales Projekt

Alexander Bogner

Die Bürgergesellschaft – Allheilmittel für die Demokratie oder schöner Traum? Ein Plädoyer für eine Ordnungspolitik für die Engagementgesellschaft

Michael Borchard

Zivilgesellschaft im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit

Peter Kampits

Gesucht: Brückenbauer – Überlegungen zur Polarisierung westlicher Gesellschaften und ihrer Überwindung

Benjamin Hasselhorn

Mitgestaltung, Mitbestimmung, Moralisierung: Wie die sozialen Bewegungen Politik und Gesellschaft veränderten

Christian Moser-Sollmann

Das befindliche Ich Gedanken zu einer verunsicherten Gesellschaft zwischen Digitalisierung und Hyperindividualisierung

Johannes Domsich

Der Staat und die Zivilgesellschaft – oder die Bürgergesellschaft? Seitenblicke auf Licht und Schatten

Till Kinzel

Eine Gemeinschaft freier und verantwortlicher Menschen

Bettina Rausch

Bürgergesellschaft und Künstliche Intelligenz Trends und Forderungen zum Umgang mit KI in der Europäischen Union

Julia Juen / Verena Ringler

II. Bürgertugenden – Fallbeispiele

Bürgergesellschaft: Schwerpunkt der Politischen Akademie

Gesellschaftsvertrag im Wandel

Michael Borchard / Ulrike Ackermann / Andreas Janko

„Neue Bürgergesellschaft“ Ein Staat, der die Bürger atmen lässt

Werner J. Patzelt / Günther Lutschinger

Bürgergesellschaft in Europa? Starke Impulse aus den Regionen Europa und Gesellschaft beginnen zuhause – zur Wirkkraft angewandter, initiierter Formate von Begegnung und Dialog im regionalen wie grenzüberschreitenden Kontext

Verena Ringler / Magdalena J. Schneider

Österreich zum Blühen bringen! Die Rolle und das Potenzial von gemeinnützig aktiven Stiftungen für Gesellschaft und Staat

Ruth Williams / Christoph Robinson

„Genossenschaft? – Da kommt dir keiner!“ Von der Wiederentdeckung einer oft unterschätzten Rechts- und Organisationsform

Justus Reichl

Social Entrepreneurship: Versuch einer Einordnung in die Bürgergesellschaft

Elisabeth Mayerhofer

Bürgergesellschaft – Lernort Familie

Wolfgang Mazal

Wer Mut zeigt, macht Mut Der Beitrag von Vereinen zum gesellschaftlichen Zusammenleben am Beispiel von Kolping Österreich

Christine Leopold

Lebensschutz in der Bürgergesellschaft

Martina Kronthaler

Gelebte Bürgergesellschaft braucht mehr Vertrauen! Ordnungspolitische Überlegungen zu bürgergesellschaftlichem Engagement, sozialer Wohlfahrt und Gemeinnützigkeit im Spiegel der Arbeit des Hilfswerks

Elisabeth Anselm

Emmaus – von Paris nach St. Pölten Soziale Arbeit geht uns alle an

Karl Langer

Autorenporträts

Vorwort

Zentrale Säulen unserer Demokratie sind neben der Gewaltenteilung und dem liberalen Rechtsstaat auch aktive Bürgerinnen und Bürger, die das Gemeinwesen mitgestalten. In dem Sinn sind Bürgerinnen und Bürger nicht nur Adressatinnen und Adressaten staatlicher Regeln und Normen, sondern auch Mitgestalterinnen und Mitgestalter eben dieser Normen. Und das Gemeinwesen in einem liberalen Staat ist mehr als die staatliche Ordnung, es ist das Zusammenspiel von Menschen und ihren Beziehungen zueinander – in Familien und Freundschaften, im Job und in Vereinen.

Die aktive Mitgestaltung des persönlichen und öffentlichen Umfelds bereichert das menschliche Leben in vielen unterschiedlichen Facetten und macht unsere Gesellschaft dadurch vielfältiger und bunter. Der Mensch ist ohne Zweifel ein politisches und soziales Wesen, das sich in seiner Individualität nur innerhalb einer Gemeinschaft entfalten kann.

Wie wir Gemeinschaft, unsere Gesellschaft, gestalten wollen, wird in den Demokratien westlicher Prägung von den einzelnen Parteien unterschiedlich beantwortet. Grob gesagt lässt sich folgende Unterscheidung treffen: Typisch als links verortete Politik definiert sich vor allem über einen paternalistischen Staat, der alle Lebensbereiche der Bürger überprüft, die Lebensgestaltung plant und bis in kleine Details regelt. Bürgerliche Politik, wie wir sie sehen, vertraut zwar auf den Staat zur Setzung allgemeiner Rahmenbedingungen, stellt jedoch individuelle Freiheit und Eigenverantwortung in den Mittelpunkt. Sie vertraut auf den inneren Antrieb jeder Bürgerin und jedes Bürgers, nach ihren und seinen Fähigkeiten Beiträge für eine funktionierende Gemeinschaft leisten zu wollen. Dies ist die Grundidee des politischen Konzepts einer „Bürgergesellschaft“ als Gemeinschaft freier und verantwortlicher Menschen.

Wie vielfältig und heterogen Konzepte der Bürgergesellschaft in Theorie und Praxis sind, haben die Politische Akademie der Volkspartei und das Wilfried Martens Zentrum für Europastudien in ihrem aktuellen Forschungsschwerpunkt umfassend diskutiert und untersucht.

Wesentliche Grundlage ist ein Menschenbild, das in den jüdischen, christlichen, griechischen und römischen Traditionen unseres Kontinents wurzelt und dessen Fundament die Würde jeder Person ist. In ihr liegt allerdings auch die Verpflichtung, Begabungen aktiv für die Gesellschaft einzusetzen, die das Gleichnis von den „anvertrauten Talenten“ zum Ausdruck bringt. Oder mit Immanuel Kant gesprochen: Es gibt eine individuelle unvollkommene Pflicht des Menschen – nämlich jene der Entwicklung der eigenen Talente – für sich aber auch gegenüber anderen.

Im vorliegenden Sammelband haben wir hochkarätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Publizistinnen und Publizisten, Praktikerinnen und Praktiker gebeten, sich grundlegende Gedanken über Potenziale und Möglichkeiten der Bürgergesellschaft im 21. Jahrhundert zu machen. Theoretische, historische und ideengeschichtliche Beiträge finden sich hier ebenso wie unterschiedliche Fallbeispiele aus der Praxis. Die Vielfalt und der Meinungspluralismus der Beiträge zeigen auch klar auf, wie die permanente Mitsprache und Partizipation einer aktiven Öffentlichkeit den politischen Diskurs und die politische Gestaltung unseres Landes bereichern kann.

Wolfgang Mazal Bettina Rausch


Von der Bürgergemeinschaft zur Bürgergesellschaft
Politische Partizipation in Antike und Gegenwart

Simon Varga

Kurzfassung: Der Beitrag fokussiert Unterschiede und Übergänge von der antiken Bürgergemeinschaft hin zur modernen Bürgergesellschaft. Im Zentrum steht dabei die Frage nach Notwendigkeit und Bedeutung politischer Partizipation in Antike und Gegenwart. Aus aktueller gesellschaftspolitischer Perspektive zeigt sich, dass die heutige Bürgergesellschaft in ihrem Kern – nach wie vor – zu einem guten Teil Bürgergemeinschaft beinhaltet. Dieses Bewusstsein verlangt in letzter Konsequenz nach gemeinschaftspolitischer Empathie – verstanden als Bürgerrecht und Bürgerpflicht.

Hinführung

Antike und Gegenwart in politischen Angelegenheiten miteinander zu verbinden mag auf den ersten Blick den Verdacht eines Anachronismus erwecken, zumal die politische Praxis im Laufe der Geschichte bereits viele Metamorphosen erfahren hat und in Zukunft klarerweise auch viele weitere Veränderungen erfahren wird. Doch auf den zweiten Blick erscheint ein solches Vorhaben nicht nur historisch, sondern auch systematisch durchaus nahezuliegen. Denn bereits zu Beginn des antiken griechischen politischen Denkens in seiner klassischen Tradition wurde jene Frage – in Theorie wie Praxis – gestellt und versucht zu beantworten, die auch heute noch für das Leben in Gemeinschaft bzw. in Gesellschaft unverzichtbar erscheint und mit der viele demokratische Staaten der Gegenwart immer wieder ringen: nämlich nach Ausmaß und Bedeutung der politischen Partizipation des Einzelnen am politischen Gemeinwesen.

Eine umfassende Darstellung der vielen historischen Entwicklungen von der Bürgergemeinschaft der Antike hin zur Bürgergesellschaft der Gegenwart in allen ihren Nuancen kann an dieser Stelle zwar nicht geleistet werden, doch selbst Skizzen zu diesen Entwicklungen legen den keineswegs überraschenden Schluss nahe, dass die Bürgerpartizipation damals wie heute eine unverzichtbare Notwendigkeit zur Gestaltung des politischen Zusammenlebens gewesen ist und auch nach wie vor unverzichtbar sein wird. Doch dabei handelt es sich, wie bereits angedeutet, um einen Allgemeinplatz. Die beiden zentralen Fragen lauten vielmehr, in welcher Intensität Bürgerpartizipation heute von Bürgerinnen und Bürgern eingefordert werden kann und wo die grundlegenden Unterschiede zwischen antiker Bürgergemeinschaft und moderner Bürgergesellschaft tatsächlich ausgemacht werden können.

Zu Beginn dieses Beitrags erfolgt eine kursorische Darstellung der antiken unmittelbaren politischen Praxis der sogenannten Bürgergemeinschaft, verbunden mit historisch-politischen Einblicken in die politische Lebenswelt in der Zeit der griechischen Klassik (1). Daran anschließend folgt ein Wechsel in die politische Theorie der Antike. Dabei werden die Grundlagen der politisch-anthropologischen Philosophie bei Aristoteles und dessen Vorstellungen von politischer Partizipation im Zuge des von ihm entwickelten „Staats nach bestem Ermessen“ erörtert (2). Im nächsten Schritt wird die Transformation von der antiken Bürgergemeinschaft zur modernen Bürgergesellschaft insbesondere anhand soziologischer Betrachtungen zumindest angedeutet (3). Es folgt – in Anbetracht gegenwärtiger weltweiter gesellschaftspolitischer Entwicklungen – ein Abschnitt über die aktuelle Bedeutung der Bürgergesellschaft, die meiner Ansicht nach auch heute noch bzw. wiederum verstärkt zu einem guten Teil als Bürgergemeinschaft zu verstehen ist, ohne hierbei die modernen politischen Entwicklungen und Errungenschaften, so z. B. Menschenwürde, Demokratie, Freiheitsrechte, in irgendeiner Art und Weise in Abrede stellen zu wollen (4). Abschließend wird aus dem zuletzt angeführten Punkt folgernd die Grundlegung von gemeinschaftspolitischer Empathie als Bürgerrecht und Bürgerpflicht verhandelt (5).

1. Antike politische Praxis: Organisationsform, Partizipation, Dichotomie

Zweifelsfrei kommt der griechischen Antike in Bezug auf Entwicklung und Grundverständnis des Politischen für Europa und darüber hinaus ein besonderer Stellenwert zu. Dabei vor allem der Zeit der sogenannten griechischen Klassik, beginnend mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Griechen und den Persern bis hin zur Inthronisierung des angehenden Makedonenkönigs Alexanders des Großen – somit von ca. 500 bis 336 v. Chr. In dieser Zeit der Klassik gelangten die griechischen Stadtstaaten (altgr.: Sg. Polis, Pl. Poleis), u. a. Athen, Sparta, Theben, zu ihrer historisch, politisch und kulturell einzigartigen Bedeutung von weltgeschichtlichem Rang, welche ohne die politische Organisationsform der Polis nicht in dieser Art und Weise möglich gewesen wäre. Und das – bemerkenswerter Weise – trotz vieler interner politischer Konflikte, innerhalb der Stadtstaaten selbst bzw. ebenso zwischen den griechischen Stadtstaaten untereinander, oder externer militärischer Bedrohungen aus anderen Regionen des Mittelmeerraums. In klassischer Zeit dürfte es mehr als 800 Siedlungen im Verständnis der Polis gegeben haben, die in ihrem Erscheinungsbild zwar vielfach variierten, jedoch „eine prinzipiell gleiche Binnenstruktur des Siedlungsraums“1 aufgewiesen haben. Dazu gehörte zumeist ein städtischer Kern mit politischer, ökonomischer und kultureller Infrastruktur, so z. B. die wirtschaftliche und/oder die politische Agora (der Versammlungsplatz für Handel und Politik im Zentrum angrenzend an Verwaltungs- und Kultgebäude) sowie ein dazugehöriges Umland des städtischen Kerns für die notwendige Landwirtschaft. So gehörte z. B. zur Polis Athen ganz Attika, wobei sich die Bürger überall in Attika „Athener“ nannten, selbst wenn sie in einem von der Stadt Athen weit entfernten Dorf lebten.2 In der Zeit der Klassik dürfte die wirkungsmächtigste Polis Athen zwischen 200.000 und 300.000 Einwohner gehabt haben, wobei die Mehrzahl davon in den ländlichen Gebieten gelebt hat.3

Kennzeichnend für das politische Selbstverständnis der Stadtstaaten war das Ideal der „politischen Selbstverwaltung und -regierung durch ihre Bürger und das Streben nach innerer und äußerer Unabhängigkeit“4. Im Vordergrund der Bemühungen der Stadtstaaten standen also insbesondere die Ziele von politischer Autarkie und politischer Autonomie, die untrennbar mit dem Streben nach der dauerhaften ökonomischen Versorgung der Einwohner mit den für das damalige Leben notwendigen wie wünschenswerten Gütern verbunden gewesen sind. Womit es nahe liegt, dass viele Stadtstaaten in regem wirtschaftlichen Austausch standen. Dennoch verfügten die meisten Poleis jeweils über ein eigenes Heer, ein eigenes Rechtswesen sowie über einen eigenen Kalender, und selbst im Zuge des mythischen Kults wurden innerhalb der einzelnen Stadtstaaten unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt.

Das politische Selbstverständnis der antiken Stadtstaaten der Klassik gründete sich auf zwei historisch-kategorischen Tatsachen der politischen Praxis (und zu einem überwiegenden Teil auch in der politischen Theorie), die im Zuge einer Auseinandersetzung rund um das Thema politischer Partizipation in der Antike angeführt werden müssen: die Teilung der Polis in freie und unfreie Menschen sowie das Paradigma des freien (männlichen) Bürgers innerhalb der Polis. Die Trennung von Freien und Unfreien kann trotz „aller Vielfalt der gesellschaftlichen und staatlichen Erscheinungsformen im antiken Griechenland“ als „ein grundlegendes Merkmal eines jeden antiken Staatswesens“5 angesehen werden, und zusätzlich ebenso auch die Beschränkung der Bürgerrechte und -pflichten auf den freien (männlichen) Bürger der Polis.

Aus politischer Perspektive war die Unterscheidung zwischen Freien und Unfreien eine alltägliche Normalität, eine gängige politische Praxis. Der Bürger galt zumeist als frei und konnte eine Reihe von Bürgerrechten für sich in Anspruch nehmen: politische Mitsprache, Rechtsansprüche, Besitzerwerb etc. Doch mit diesen Bürgerrechten waren zumeist auch Bürgerpflichten verbunden: Wehrpflicht, politische Partizipation nach den Vorgaben des geltenden Rechts, die Pflicht zur Übernahme politischer Ämter, einhergehend mit der Verpflichtung, öffentliche Aufgaben zum Wohle der Polis für eine gewisse Dauer zu übernehmen etc. Keine persönlichen und politischen Rechte wurden hingegen jenen zugestanden, die als unfrei galten, im Besonderen den sogenannten Sklaven im Stand der Unfreiheit. Innerhalb der Unfreien gab es jedoch soziale Unterschiede und das Spektrum der unterschiedlichen Tätigkeiten bzw. Verpflichtungen war durchaus groß. Zum einen gab es Staatssklaven (Amtsdiener, Wächter, Bauarbeiter bis hin zu den staatlichen – wie auch den privaten – Bergwerkssklaven). Zum anderen gab es Haussklaven bzw. -knechte und -mägde, die innerhalb des Oikos (der Haus- und Hofgemeinschaft) ebenso unterschiedlichen Tätigkeiten nachgingen, dabei als Küchenhilfe, Hauslehrer, Amme, Hausarzt etc. tätig gewesen sind. Gänzlich ohne politische Rechte waren weiters Frauen und Kinder, selbst wenn die Stellung der Frau von Polis zu Polis variieren konnte. Und auch die Rechte oder vielmehr Nichtrechte von Gästen (den Metöken) oder von Fremden (den Xenoi) waren in den Stadtstaaten per Gesetz unterschiedlich definiert.

Festzuhalten ist in Bezug auf die Zeit der griechischen Klassik:6 (i) Die Dichotomie der Unterscheidung „frei“ und „unfrei“, war eine gesellschaftspolitisch akzeptierte und in der politischen Praxis großteils unhinterfragte Tatsache, auch wenn in Dichtung und Philosophie gelegentlich über eine (mögliche) Rechtfertigung dieser Trennung diskutiert wurde. (ii) Die Unterscheidung „frei“ und „unfrei“, die Bestimmung des „freien Bürgers“ im Kontrast zum „unfreien Sklaven“, spiegelt nicht bloß einen formalen Rechtsstatus wider, sondern impliziert ein antikes politisches Selbstbewusstsein. Bereits bei Aischylos lässt sich diese Spur aufnehmen, wo die Athener – auf die Frage von Seiten der Perser nach dem Namen des Herrschers über die Athener – als freie Bürger bezeichnet werden, die keines Herren Sklaven und niemandes Untertan sind.7 (iii) Auf Seiten der Unfreien arbeiteten die Sklaven in den verschiedensten, mitunter auch in vertraulichen Bereichen bzw. Beziehungen und erhielten dafür unterschiedlich hohe soziale Anerkennung, was allerdings nichts an dem nicht vorhandenen allgemeinen Rechtsstatus, außer jenem des Besitzanspruchs des Herren, änderte. (iv) Sklaven waren dem Menschenhandel mit allen seinen Symptomen schutzlos ausgeliefert, galten als Ware, als Besitz und als Werkzeug. (v) Unfreie (Männer, Frauen, Kinder) waren aber nicht nur rechtlich und politisch enteignet, sondern wurden auch aus anthropologisch-philosophischer Perspektive schlechter gestellt bzw. in anderer Art und Weise betrachtet als Freie.

2. Antike politische Theorie: Anthropologie und Partizipation im besten Staat

Einen unverzichtbaren wie in fast allen Belangen bedeutenden Bestandteil der antiken klassischen politischen Philosophie bildet das Denken des Aristoteles. Gleichwohl er an der grundlegenden Unterscheidung von Freien und Unfreien festhält. In Entwicklung und Darstellung seiner praktischen Philosophie behandelt er dennoch in scharfsinniger wie umsichtiger Art und Weise die „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“8, die eine untrennbare Symbiose von Ethik und Politik darstellt und dabei auch eine konkrete politische Anthropologie beinhaltet, ein politisches Menschenbild im weiteren Sinne,9 das im Laufe der Geschichte der Philosophie und des politischen Denkens viel Anklang aber auch Kritik erfahren hat. Die zentralen Grundlagen dieser politischen Anthropologie lassen sich in drei knappen Punkten darstellen:

(i) In seiner „Politik“ bestimmt Aristoteles den Menschen als ein Wesen, das von Natur aus ein politisches Leben lebt, im Altgriechischen als ein zôon politikon. Doch diese Bestimmung des Menschen als ein politisches Lebewesen sei, so Aristoteles, kein tatsächliches Alleinstellungsmerkmal des Menschen, zumal auch Bienen und andere Tiere (wie z. B. die Ameisen) seiner Beobachtung nach ihr Leben in politischer Art und Weise führen würden.10 Die Bestimmung des Menschen als zôon politikon bei Aristoteles ist also zuallererst einmal eine biologische Einsicht, die auf den Menschen und dessen Natur zwar ebenso zutrifft, jedoch nicht ausschließlich.

(ii) Erst die zweite politisch-anthropologische Definition des Aristoteles zeichnet den Menschen nun in besonderer Art und Weise aus. Denn der Mensch ist nicht nur zôon politikon, also ein politisches Lebewesen im weiteren Sinne, sondern darüber hinaus auch ein zôon logon echon – ein vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen. Durch Sprache und Vernunft, so Aristoteles, sei der Mensch dazu in der Lage, sich „vom Guten und Schlechten, von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen“ und sich darüber untereinander mit anderen Menschen politisch auszutauschen und das Zusammenleben aus politischer Perspektive auf diese Weise zu gestalten.11 Erst in dieser Bestimmung liegt nach Aristoteles der Unterschied zwischen dem Menschen und den (anderen) Tieren begründet.

(iii) Die aristotelische politische Anthropologie verankert den Menschen und dessen Lebensführung also in einer politischen Lebensweise mit anderen Menschen. Der Mensch ist sowohl für das bloße (Über-)Leben als auch für das gute und gelingende Leben auf den Mitmenschen – in unterschiedlicher Art und Weise – unmittelbar angewiesen. Demnach ist der Mensch nicht nur zôon politikon wie auch andere Tiere, also von Natur aus politisch lebend, und auch nicht nur zôon logon echon, vernunft- und sprachbegabt, sondern darüber hinaus auch zôon koinonikon, ein „Gemeinschaftslebewesen“12, das den Bezug zum Mitmenschen braucht wie auch der Einzelne vom Rest der Gemeinschaft gebraucht wird. Ein formales oberflächliches (politisches) Nebeneinanderherleben, wie das unbekümmerte „Grasen auf derselben Weide“13 ist für das Leben des Menschen der aristotelischen politischen Anthropologie nach ausgeschlossen.

Eindringlich hält Aristoteles diese für alles Politische grundlegende Einsicht der unabdingbaren Gemeinschaftszugehörigkeit des Menschen inmitten der Entwicklung seiner politischen Anthropologie in der „Politik“ fest: Derjenige – einzelne Mensch –, der entweder nicht in der Lage dazu ist, an Formen von Gemeinschaft zu partizipieren oder der Gemeinschaft mit anderen Menschen aufgrund seiner individuellen Autarkie nicht bedarf, der sei erstens kein Teil des Staates (d. h. der Polis) und zweitens somit entweder ein (wildes) Tier oder aber ein Gott.14 Doch das wilde Tierhafte zum einen und das autarke Göttliche zum anderen träfen auf den Menschen und dessen Natur nicht zu, zumal dieser für sein Leben in vielen Belangen auf unterschiedliche Formen der Gemeinschaft angewiesen sei.

Aus ethisch-politischer Perspektive erfordert diese Gemeinschaftszugehörigkeit des Menschen aktives politisches Engagement und die Übernahme politischer Verantwortung durch den Bürger. Wie dieses Engagement aussehen kann, beschreibt Aristoteles – neben anderen Stellen in der „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ – in „Politik“ VII und VIII, wo er seinen Staat nach bestem Ermessen entwickelt, die sogenannte „Polis nach Wunsch“.15 Ein Polis-Staatsentwurf auf dem Reißbrett. Im Zuge dieser ethisch-politischen Untersuchungen schreibt er einleitend über das seiner Ansicht nach erstrebenswerteste Leben des Bürgers innerhalb der politischen Gemeinschaft dieses Staats nach bestem Ermessen, das unweigerlich ethisch-politische Grundlagen beinhaltet.16

Auf der einen Seite spricht Aristoteles über die ethische wie politische Unverzichtbarkeit politischer Partizipation des Bürgers innerhalb der politischen Gemeinschaft, der politikê koinonia. In diesem Staatsentwurf ist die politische Partizipation des Bürgers bindend.17 Denn erst die Übernahme von Bürgerpflichten (z. B. militärische, administrative, politische, juristische, kultische) könne Bürgerrechte im engeren wie weiteren Verständnis mit sich bringen (z. B. subjektive Rechtsansprüche, freie Zeit, eigene Interessen, selbstverantwortete Lebensführung, individuelle Sinnerfüllung). Diese Zeit des unverzichtbaren wie geforderten politischen Engagements des Bürgers – sowie jene der individuellen Fürsorge bzw. Arbeit für die Haus- und Hofgemeinschaft – bezeichnet Aristoteles als eine Zeit der „Nichtmuße“ (ascholia), da es hierbei praktischer Tätigkeiten verlange, denen der Bürger unmittelbar nachzugehen habe. Alles ganz im Sinne von politischer Autarkie und politischer Autonomie der Polis.

Auf der anderen Seite jedoch handelt Aristoteles über die Zeit der „Muße“ (scholê) des freien Bürgers in „Politik“ VII und VIII. Es handelt sich dabei um die Zeit der individuellen sinnerfüllten Lebensgestaltung des Einzelnen, über die Politik und die politische Partizipation hinaus. In anderen Worten: Wer seinen politischen Bürgerpflichten in diesem aristotelischen „Staat nach bestem Ermessen“ nachkommt und diese Pflichten im Sinne der Gesetze und zum Wohle der Polis gewissen- wie tugendhaft erfülle, dem stehe – im weiteren Sinne – das Recht zu, sich mit Dingen zu beschäftigen, die über das Politische hinausgehen. Es handelt sich hierbei also im Grunde genommen um das etwaige Potenzial für eine individuelle Lebensgestaltung (Muße), die nach eigenem Dafürhalten bestimmt werden kann, allerdings erst im Anschluss an die Zeit der politischen Partizipation (Nichtmuße). Somit nur dann, wenn die Pflichten der politischen Belange vorab wahrgenommen wurden. Und für die Zeit der Muße empfiehlt Aristoteles dem Bürger eine umsichtige philosophische Auseinandersetzung und Bildung im Allgemeinen. Es ist nicht sehr weit hergeholt, an dieser Stelle zu bemerken, dass Aristoteles zumindest in den genannten Texten über eine Art Bildungsbürgertum nachdenkt.

33,32 ₼

Janr və etiketlər

Yaş həddi:
0+
Litresdə buraxılış tarixi:
22 dekabr 2023
Həcm:
512 səh. 5 illustrasiyalar
ISBN:
9783950493924
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