Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin

Mesaj mə
0
Rəylər
Fraqment oxumaq
Oxunmuşu qeyd etmək
Şrift:Daha az АаDaha çox Аа

Typisch für die Großindustrie war diese taktische Linie jedoch nicht. Das Gros hielt, bis 1932 jedenfalls, das Spiel mit dem Antisemitismus für zu riskant, weil es Kräfte freizusetzen drohte, die sich eines Tages auch gegen die bürgerliche Ordnung wenden konnten. Die klassische Unternehmerpartei der Weimarer Republik, Stresemanns Deutsche Volkspartei, hielt sich von offen antisemitischen Parolen in der Regel fern. Auf der anderen Seite wandte sie sich auch nicht gegen die grassierende Judenfeindschaft. Die DVP wollte es sich weder mit den deutschen Juden noch mit den Judenhassern verderben und ignorierte daher den Antisemitismus tunlichst – eine Haltung, die auch die ihr nahestehende Presse, darunter die Freiburger Zeitung, die Vorläuferin der heutigen Badischen Zeitung, an den Tag legte. Die linksliberale DDP, von einem kleineren Teil des Unternehmerlagers und vom jüdischen Bürgertum unterstützt, verteidigte als einzige bürgerliche Partei konsequent die staatsbürgerlichen Rechte der deutschen Juden. Freilich wurde sie seit 1930 immer mehr zur ›quantité négligeable‹. Bei den beiden Reichstagswahlen von 1932 erhielt sie jeweils nur noch ein Prozent der Stimmen. Jüngere Juden, die bislang die DDP (oder die Deutsche Staatspartei, wie sie sich seit 1930 nannte) gewählt hatten, gaben nun vorzugsweise der SPD die Stimme; ältere, vor allem gläubige Juden unterstützten eher das Zentrum.

Aus welchen Schichten kam nun der harte Kern der Antisemiten? Unter den Mitgliedern des 1919 von den Alldeutschen gegründeten Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes – der größten antisemitischen Vereinigung, die bei ihrem Verbot 1922 180.000 Mitglieder zählte – finden wir Angestellte und Beamte, besonders Lehrer, gefolgt von Angehörigen des selbstständigen Mittelstandes wie Kaufleuten, Kleinunternehmern und Handwerkern. Im Bundesvorstand und in den Führerschaften der Ortsgruppen sind dieselben Gruppen vertreten, außerdem bemerkenswert viele freiberufliche Akademiker, darunter namentlich Ärzte und Rechtsanwälte.

Angestellte und Angehörige des gewerblichen Mittelstandes in den Reihen einer antisemitischen Organisation zu finden, überrascht nicht. Kleine Gewerbetreibende und Kaufmannsgehilfen hatten neben den Bauern schon im späten 19. Jahrhundert die Massenbasis der judenfeindlichen Bewegung gebildet. Antisemitismus und Nationalismus halfen ihnen dabei, sich abzuheben vom internationalen Proletariat – der Klasse, in die sie nicht absinken wollten. Gleichzeitig konnten in die Kampagne gegen die Juden auch die vagen antikapitalistischen Ressentiments dieser Gruppen einfließen. Der Jude, so hieß es in der antisemitischen Propaganda, stehe nicht nur hinter dem internationalen Marxismus, sondern auch hinter dem internationalen Börsenkapital; er ziehe die Fäden der ›roten‹ und der ›goldenen Internationale‹.

Der Niedergang der Antisemitenparteien, eine Folge innerer Zwistigkeiten, mangelnder Effektivität und, nicht zuletzt, des konjunkturellen Aufschwungs seit Mitte der 1890er-Jahre, hatte das politische Gewicht der Judenfeindschaft gemindert, ihr aber nicht den Boden entzogen. Organisationen wie der Bund der Landwirte, der Alldeutsche Verband und die Deutsch-Konservative Partei hielten antijüdische Ressentiments bewusst am Leben. Als während des Krieges Deutschlands Siegesaussichten schwanden, setzte eine verstärkte antisemitische Agitation von rechts ein. Die soziale Zusammensetzung der Mitgliedschaft des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes deutet darauf hin, dass die traditionellen Trägerschichten des Antisemitismus auch nach 1918 den Hauptteil der Massenbasis stellten.

Aber kann man von der Soziologie der organisierten Antisemiten auf die Mentalität ganzer sozialer Schichten schließen? Auf der einen Seite besteht kein Zweifel, dass gerade in den ersten fünf Jahren der Weimarer Republik Aversionen gegen das vermeintlich ›jüdische Berlin‹ in der deutschen Provinz weit verbreitet waren. Bauern und Handwerker, Kleinhändler, Angestellte und Beamte hatten antisemitische Vorurteile, wenn sie sie vor 1918 hatten, in der unmittelbaren Nachkriegszeit gewiss nicht verloren.

Auf der anderen Seite hatte das Scheitern der Antisemitenparteien Spuren hinterlassen. Radikale Judenfeindschaft konnte nicht mehr als Bürgschaft einer wirksamen mittelstandsfreundlichen Politik gelten. Nach dem Krisenjahr 1923 schwand dann allmählich auch jene Angst vor sozialen Umwälzungen, an welche die Antisemiten bis dahin so erfolgreich appelliert hatten. Die Währungsverhältnisse stabilisierten sich; die Sozialdemokratie saß im Reich vom November 1923 bis zum Mai 1928 auf den Bänken der Opposition; Deutschland wurde rein bürgerlich, zeitweilig unter Beteiligung der Deutschnationalen, regiert. Im Frühjahr 1924 schrieb die Nordwestdeutsche Handwerks-Zeitung, ein weit rechts stehendes Blatt, über die Deutschvölkische Freiheitspartei, die sich 1922 von den Deutschnationalen getrennt und mit den Nationalsozialisten verbündet hatte, die »Belastung der Partei mit einem fanatischen Antisemitismus« sei »jedenfalls nicht geeignet, die Hoffnung auf sachliche Arbeit zu begründen.« Solche Kritik berühre aber nicht die völkische Bewegung. »Man kann nämlich gut völkisch sein und doch einer der bisherigen bürgerlichen Parteien angehören.«15

Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband, 1893 als betont antisemitische Organisation kaufmännischer Angestellter gegründet, legte in der Weimarer Republik ebenfalls Wert auf Distanz zum ›Radau-Antisemitismus‹. An seine Stelle setzte er eine sublimere Form von Antisemitismus: die Abwehr des angeblich übertriebenen jüdischen Einflusses auf das kulturelle Leben in Deutschland. Eine vielgelesene, dem Verband nahestehende Zeitschrift, das von Wilhelm Stapel redigierte Deutsche Volkstum, gehörte zu den wichtigsten Sprachrohren dieser Spielart von Judengegnerschaft. Bei Handwerkern und Angestellten gab es also fortdauernde Animositäten gegenüber den Juden, aber von einem quantitativ wachsenden und qualitativ sich radikalisierenden Judenhass kann man nicht sprechen. Seit 1924 lässt sich vielmehr allgemein ein allmähliches Abebben des radikalen Antisemitismus beobachten. Darauf deutet auch die Tatsache, dass die miteinander verbündeten Nationalsozialisten und Deutschvölkischen, die bei den Reichstagswahlen vom Mai 1924 noch 6,5 Prozent der Stimmen erhalten hatten, im Dezember desselben Jahres nur noch auf drei Prozent kamen. Bei den Reichstagswahlen vom Mai 1928 entfielen auf die NSDAP 2,6, auf den Völkisch-Nationalen Block 0,9 Prozent.

In zwei Gruppen der deutschen Gesellschaft hat es eine wesentliche Abschwächung antisemitischer Tendenzen jedoch höchstwahrscheinlich nicht gegeben. Im Kleinhandel, der sich von den meist in jüdischem Besitz befindlichen Warenhäusern sowie den als ›marxistisch‹ und damit ebenfalls als ›verjudet‹ geltenden Konsumvereinen hart bedrängt fühlte, bewirkte die Angst vor überlegener Konkurrenz eine besonders intensive Judenfeindschaft. Ähnlich sah es bei vielen Akademikern aus. Ihr hoher Anteil in den Führungsgremien des Schutz- und Trutzbundes war durchaus symptomatisch. Der Antisemitismus, der schon im späten 19. Jahrhundert vor allem dank Heinrich von Treitschke salonfähig geworden war, fand nach 1918 im Bildungsbürgertum glühendere Verfechter als in irgendeiner anderen Schicht. Der vielfach bezeugte extreme Antisemitismus von Freikorpsführern illustrierte die Feindbildbedürfnisse von Angehörigen der Bildungsschicht, die durch den Krieg aus dem zivilen Leben herauskatapultiert worden waren und danach das Kriegserlebnis künstlich zu verlängern strebten. Die Juden verkörperten für sie alles, was sie am neuen Deutschland hassten: zersetzende Intellektualität und weichlichen Pazifismus, Parlamentarismus und Klassenkampf, westliche Zivilisation und östlichen Bolschewismus. Beim erwähnten antisemitischen Engagement von Ärzten und Rechtsanwählten liegt eine materielle Erklärung nahe: Sie hatten es mit besonders vielen jüdischen Berufskollegen zu tun und rechneten sich aus, dass es ihnen ohne diese Konkurrenten besser gehen würde. Die allgemeine Antipathie gegenüber den Juden erlaubte es ihnen, den eigentlichen, den egoistischen Beweggrund ihrer Judenfeindschaft zu verdrängen.

Dasselbe Motiv spielte eine ausschlaggebende Rolle bei den Studenten. Auch bei ihnen hatte die ›Große Depression‹ der Jahre 1873 bis 1896 einen sozial begründeten Antisemitismus hervorgerufen. Der Verein Deutscher Studenten und der Akademische Turnerbund, beides Gründungen der 1880er-Jahre, waren dezidiert antisemitische Organisationen, und bis zum Ersten Weltkrieg hatten die meisten Korporationen wirksame Aufnahmesperren gegen Juden erlassen. Zwischen 1919 und 1921 nahmen sämtliche schlagende Verbindungen ›Arierparagrafen‹ in ihre Satzungen auf: Studenten jüdischer Herkunft durften diesen Vereinigungen nicht angehören. Auf antisemitischem Boden stand auch der Hochschulring Deutscher Art, der Dachverband der rechtsgerichteten Studentengruppen. Angesichts solcher Vorarbeiten fiel es dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise nicht schwer, die Mehrheit der deutschen (und österreichischen) Studenten für sich zu gewinnen. Schon 1929 schlossen sich die Studentenschaften in Würzburg, Berlin und Erlangen seiner Forderung an, einen Numerus clausus für Juden einzuführen. Im Juli 1931 übernahm die Studentenorganisation der NSDAP die Herrschaft im Vorstand der Deutschen Studentenschaft.

An den deutschen Universitäten war der Antisemitismus ein Vehikel des nationalsozialistischen Vormarsches. »Der Antisemitismus der Studenten: Das Ergebnis sozialökonomischer Verunsicherung« – so betitelt Michael Kater ein Kapitel seines Buches über die politische Entwicklung der deutschen Studenten in der Weimarer Republik.16 Die Inflation hatte die Ersparnisse vernichtet, aus denen das Bildungsbürgertum das akademische Studium seiner Kinder zu finanzieren pflegte. Öffentliche Mittel für Stipendien standen kaum zur Verfügung. Dass Juden nur ein Prozent der Bevölkerung, aber zwischen vier und fünf Prozent der Studenten, in Berlin und Frankfurt am Main sogar über zehn Prozent stellten, dass sie in manchen akademischen Berufen besonders stark vertreten waren, das hatte schon vor dem ›großen Krach‹ von 1929 starke Neidgefühle unter den nicht-jüdischen Studenten genährt. Antisemitismus wurde immer mehr zum Reflex der Angst vor sozialem Abstieg. Die Weltwirtschaftskrise trieb das Ressentiment zum Exzess – auch im wörtlichen Sinn von antijüdischen Ausschreitungen innerhalb und außerhalb der Hörsäle. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund konnte sich des Beifalls sicher sein, als er 1932 die Parole ausgab: »Auch du, nichtjüdischer Student, weißt nicht, ob du zu den 100.000 stellungslosen Akademikern gehören wirst … wir nichtjüdischen Studenten wollen später wirtschaftlich unabhängig sein von der Vorherrschaft des Judentums in den akademischen Berufen.«17

 

Die Professoren traten dem sozial motivierten rassistischen Antisemitismus der Studentenschaft nur selten entgegen. In Freiburg scheint der katholische Dogmatiker Engelbert Krebs der Einzige gewesen zu sein, der dies – im Juni 1932 – mit deutlichen Worten tat. Bezeichnenderweise kritisierte er zugleich aber die negative Rolle, die die Juden aus seiner Sicht in liberalen und sozialistischen Bewegungen spielten. Vermutlich dachten die meisten seiner Kollegen in dieser Hinsicht nicht viel anders. Offen antisemitische Äußerungen vom Katheder waren vor 1933 zwar nicht häufig, aber die Mentalität des sozialen Boykotts war unter Universitätslehrern weit verbreitet. Selbst ein liberaler ›Vernunftsrepublikaner‹ wie der Historiker Friedrich Meinecke machte aus seiner Abneigung gegen das vermeintliche jüdische Wesen kein Hehl. Nicht minder typisch war wohl, dass er individuelle Ausnahmen zuließ und einzelnen Juden, etwa in seinem Schülerkreis, Wohlwollen entgegenbrachte.

Um auch diesen Abschnitt thesenhaft zusammenzufassen: Antisemitische Ressentiments gab es, mit der faktischen Ausnahme der sozialistischen Arbeiterschaft, in allen Schichten der deutschen Gesellschaft. Im Zeichen der relativen wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung nach 1924 verlor der aggressive Antisemitismus der radikalen Rechten an populärer Resonanz. Aber weit verbreitet blieb ein sich kulturell gebender Antisemitismus. Seine Vertreter, darunter vielgelesene Schriftsteller, sahen im modernen Judentum zersetzende Intelligenz und dekadente Großstadtzivilisation, ja oft die Modernität schlechthin verkörpert und lehnten darum die Juden als ›artfremd‹ ab. Die prominente und oft betont progressive Rolle, die Juden im kulturellen Leben spielten, machte sie zur bevorzugten Zielscheibe konservativer Kulturkritik. Das Bildungsbürgertum und die Studenten stellten mehr noch als im Kaiserreich die soziale Vorhut des Antisemitismus. Das Hauptmotiv des akademischen Antisemitismus, das durch alle ideologischen Verbrämungen – auch die kulturelle – hindurchschimmerte, war die Abneigung gegen die jüdische Konkurrenz im eigenen Milieu.

Welche Rolle spielte der Antisemitismus beim Aufstieg des Nationalsozialismus?

Die Antwort auf diese dritte und letzte Frage nehme ich in Form einer These vorweg: Für die Binnenintegration der nationalsozialistischen Bewegung war der Antisemitismus entscheidend; bei der Mobilisierung von Wählern stand er dagegen weniger im Vordergrund.

Hitler erkannte offenbar in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre richtig, dass er mit judenfeindlichen Parolen nicht jene Massen gewinnen konnte, die er brauchte, wenn er auf ›legalem‹ Weg die Macht erobern wollte. In Hitlers Wahlkundgebungen und in den großen Wahlmanifesten der NSDAP von 1930 bis 1932 wurden Versailles und die ›Novemberverbrecher‹, das internationale Bank- und Börsenkapital, der Marxismus und die bürgerlichen Parteien angeprangert – aber ausdrücklich war von den Juden nicht allzu oft die Rede. Anders bei Aufrufen an bestimmte soziale Gruppen, deren antisemitische Neigungen bekannt waren. In der Mittelstandswerbung etwa fehlte selten der Hinweis auf die jüdischen Warenhäuser, die der Nationalsozialismus liquidieren werde. Einen zentralen Platz nahm der Kampf gegen das Judentum aber immer dann ein, wenn die nationalsozialistische ›Bewegung‹ der Adressat war.

Tatsächlich ist es durchaus zweifelhaft, ob die Weltwirtschaftskrise bei der breiten Masse eine ›spontane‹ antisemitische Welle auslöste. Es gab zwischen 1930 und 1932 eine Reihe von antijüdischen Ausschreitungen, aber sie gingen alle auf das Konto von Nationalsozialisten. Aufrufe zum Boykott jüdischer Geschäfte wurden vor 1933 nicht befolgt. Da die Sozialdemokratie seit März 1930 an der Regierung im Reich nicht mehr beteiligt war, ließ sich gegen die staatliche Führung viel schwerer als in den ersten Jahren nach 1918 der Vorwurf erheben, sie sei ›verjudet‹. Nur bei Gruppen, die eine spezifische Konkurrenzfurcht vor den Juden hatten – dazu gehörten fertige und werdende Akademiker, aber auch Kleinhändler –, dürfte die Wendung zum Nationalsozialismus vielfach durch den Antisemitismus bewirkt worden sein. Für das Gros der Gesellschaft gilt, dass eher der Nationalsozialismus dem Antisemitismus Auftrieb gab als umgekehrt. Eva Reichmanns Urteil erscheint insofern prinzipiell zutreffend: »Wenn also der Erfolg der NSDAP ein so getreues Bild der wirtschaftlichen Lage, nicht aber der Judenfrage war, so beweist das, dass im Nationalsozialismus in erster Linie ein Ausweg aus der Krise gesucht wurde. Die antisemitische Propaganda wurde wohl hingenommen, aber der Antisemitismus bildete nicht den Ausgangspunkt für die politischen Entscheidungen der Wähler.«18

Die Hinnahme der antisemitischen Propaganda zeigt freilich auch, wie sehr sich die deutsche Gesellschaft an judenfeindliche Parolen gewöhnt hatte. Vorurteile gegen Juden waren zu jener Zeit in vielen Ländern, und zwar nicht nur in den traditionell antisemitischen Ländern Osteuropas, sondern auch in den westlichen Demokratien weit verbreitet. Aber dort, wo die Demokratie eine lange Tradition und ein breites soziales Fundament hatte, konnte ihre Abschaffung kein populäres Programm werden. Radikale Judengegner hatten in solchen Gesellschaften wenig Chancen, mit judenfeindlichen Forderungen Politik zu machen und eine antidemokratische Massenbewegung auf die Beine zu bringen. Zudem gab es auch in den Führungsschichten starke liberale Gegengewichte gegen totalitäre und rassistische Kräfte. Das war in Amerika nicht anders als in England und, mit Einschränkungen, in Frankreich. Im Deutschland der späten Weimarer Republik fehlte dieses liberale Korrektiv fast völlig. Das war eine Hypothek des deutschen Obrigkeitsstaates, und dieser Sachverhalt muss auf unser Urteil über das Kaiserreich zurückwirken. Ich stimme mit Hans-Günter Zmarzlik darin überein, dass man diese Epoche der deutschen Geschichte nicht nur aus dem Blickwinkel von 1933 und nicht losgelöst aus dem zeitgenössischen europäischen Zusammenhang betrachten darf.19 Aber die Position der feudal-militärischen Herrschaftsschicht Preußens war ein deutsches Spezifikum, zu dem es in den industriell fortgeschrittenen Staaten des Westens keine Parallele gab und das lange über 1918 hinaus fortwirkte. Das gilt nicht nur für den unmittelbaren Einfluss, den diese Gruppe auf die Staatsgewalt – vor 1918 und dann wieder seit Hindenburgs Wahl zum Reichspräsidenten 1925 – ausübte, sondern auch für ihre Rolle als Verbündeter aller antidemokratischen Kräfte von rechts. Kein anderer Teil der deutschen Oberschicht hat so geschlossen und aktiv an der Zerstörung der Weimarer Republik und für die Machtübertragung an Hitler gearbeitet wie die ostelbischen Rittergutsbesitzer.

Aber selbst ein so fortschrittliches Element im politischen System des Kaiserreiches wie das allgemeine Wahlrecht hatte durchaus ambivalente Wirkungen. Es ermöglichte auf der einen Seite den Aufstieg der Sozialdemokratie, auf der anderen trug es erheblich dazu bei, dass es 1918/19 keinen radikalen Bruch mit der Welt des Obrigkeitsstaates gab. Die Erfahrung von einem halben Jahrhundert allgemeinem Wahlrecht ließ den meisten Deutschen, auch der großen Mehrheit der Arbeiter, jede Art von revolutionärer Diktatur als Rückschritt erscheinen. Die Tradition des allgemeinen gleichen Wahlrechts erklärt aber auch, weshalb in Kaiserreich und Republik diejenigen Gegner westlicher Demokratie den größten Erfolg hatten, die sich am besten auf die Mobilisierung der Massen verstanden – Kräfte also wie der Bund der Landwirte, die Deutsche Vaterlandspartei und schließlich, alle Vorbilder weit übertreffend, die Nationalsozialisten, die bewusst demokratische Techniken zur Verfolgung antidemokratischer Zwecke einsetzten. Von daher würde ich die Kontinuität der Zeit vor und nach 1918 stärker betonen als Zmarzlik.

Die konservativen ›Cliquen‹, die Hitler im Januar 1933 zur Kanzlerschaft verhalfen, vertrauten darauf, seine antisemitischen Parolen seien nicht so ernst gemeint, wie sie klangen. Aber für Hitler war, anders als für viele Agitatoren der konservativen Rechten, die Judenfeindschaft niemals Mittel zum Zweck, sondern immer Selbstzweck. Dass er aus seinem Feindbild die tödliche Konsequenz ziehen konnte, das ermöglichten ihm nicht die ›Radau-Antisemiten‹ aus NSDAP und SA, sondern der elitäre ›Orden‹ des Nationalsozialismus, die SS, in deren höheren Rängen es außerordentlich viele Akademiker gab. Das Bildungsbürgertum blieb über den 30. Januar 1933 hinaus die Schicht, aus der sich die Vorhut des deutschen Antisemitismus rekrutierte.

Gewiss, weder das Bildungsbürgertum noch irgendeine andere Schicht der deutschen Gesellschaft hat vor 1933 gewollt, was im Zweiten Weltkrieg mit den Juden geschah. Wer antisemitische Ressentiments hatte, dachte gemeinhin nicht an die umfassende bürgerliche Entrechtung, geschweige denn an die physische Vernichtung der Juden, sondern wäre wohl mit einer sichtbaren Zurückdrängung des jüdischen Einflusses zufrieden gewesen. Aber diese breite Strömung trug eben auch die Minderheit der rabiaten Judenfeinde, während die prinzipiellen Gegner rassischer Diskriminierung gegen den Strom schwammen. So gilt denn auch schon für die Zeit vor 1933, was Kurt Tucholsky im Dezember 1935 – wenige Monate nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze – an Arnold Zweig schrieb: »…ein Land ist nicht nur das, was es tut – es ist auch das, was es verträgt, was es duldet.«20

1 Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung eines Beitrags mit dem gleichen Titel, der zuerst in dem folgenden Band erschienen ist: BERND MARTIN; ERNST SCHULIN: Die Juden als Minderheit in der Geschichte. München [Deutscher Taschenbuch Verlag] 1981, S. 271-289.

2 MICHAEL BRENNER: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München [Beck] 2000.

3 CORNELIA HECHT: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik. Bonn [Dietz] 2003.

4 DIRK WALTER: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik. Bonn [Dietz] 1999.

5 WOLFGANG BENZ; ARNOLD PAUCKER; PETER PULZER (Hrsg.): Jüdisches Leben in der Weimarer Republik (Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts Bd. 57). Tübingen [Mohr] 1998. WOLFGANG BENZ (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Berlin [De Gruyter] 2009.

6 Vgl. HAROLD D. LASSWELL: The Structure and Function of Communicationin Society. In: LYMAN BRYSON (Hrsg.): The Communication of Ideas: A Series of Addresses. New York [Harper] 1948, S. 37-51. WINFRIED SCHULZ: Kommunikationsprozess. In: ELISABETH NOELLE-NEUMANN; WINFRIED SCHULZ; JÜRGEN WILKE (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. Frankfurt/M. [Fischer] 2002, S. 153-182, dort S. 157.

7 HEINRICH AUGUST WINKLER: Geschichte des Westens. 4 Bde. München [Beck] 2011-2015.

8 HEINRICH AUGUST WINKLER: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zur Wiedervereinigung. 2 Bde. München [Beck] 2000, Neuauflage 2020.

9 VICTOR KLEMPERER: Leben sammeln, nicht fragen, wozu und warum? Berlin [Aufbau] 2000.

10 GABRIELE TERGIT: Effingers. Hamburg [Hammerich & Lesser] 1951, Neuauflage München [Beck] 2020.

11 Zit. n. OTTOKAR STAUF VON DER MARCH: Die Juden im Urteil der Zeiten. Eine Sammlungjüdischer und nichtjüdischer Aussprüche. München [Deutscher Volksverlag] 1921, S. 178-179.

12 WERNER JOCHMANN: Die Ausbreitung des Antisemitismus. In: WERNER E. MOSSE; ARNOLD PAUCKER (Hrsg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Ein Sammelband. Tübingen [Mohr] 1971, S. 439-440.

 

13 Antisemitismus. In: Der Große Herder. 4. Aufl., Bd. 1. Freiburg [Herder] 1926, S. 725.

14 HANS ROSENBERG: Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse. In: HANS ROSENBERG: Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1978, S. 83-101.

15 Nordwestdeutsche Handwerks-Zeitung vom 27. März und 17. April 1924, zit. n. HEINRICH AUGUST WINKLER: Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 1972, S. 160.

16 MICHAEL H. KATER: Studentenschaft und Rechtsradikalismus 1918-1933. Eine sozialgeschichtliche Studie zur Bildungskrise in der Weimarer Republik. Hamburg [Hoffmann und Campe] 1975, S. 145.

17 Ebenda, S. 148.

18 EVA G. REICHMANN: Die Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe. Frankfurt/M. [Europäische Verlagsanstalt] 1969, S. 277.

19 Vgl. HANS-GÜNTER ZMARZLIK: Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich 1871-1918. In: BERND MARTIN; ERNST SCHULIN (Hrsg.): Die Juden als Minderheit in der Geschichte. München [Deutscher Taschenbuch Verlag] 1981, S. 249-270, dort S. 252-253.

20 KURT TUCHOLSKY: Ausgewählte Briefe 1913-1935. Reinbek b. Hamburg [Rowohlt] 1962, S. 336.