Kitabı oxu: «Mona & Lisa»

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Mona & Lisa

Das (fiktive) Tropenland Paragua, zentraler Schauplatz dieses Romans, stemmt sich gegen die Widrigkeiten des Fortschritts. Die Bewahrung der Natur steht als oberstes Gebot auf dem Banner des kleinen Inselstaates. Paraguas Bürger leben auf der Basis des Selbsterhalts, aber dank kluger Politik unter geradezu luxuriösen Verhältnissen. Die durch Verzicht auf Überflüssiges eingesparten Mittel verwendet Paragua nicht zum Bau von Autobahnen und Großstädten, sondern zur Anhebung der allgemeinen Lebensqualität. Mona & Lisa beleuchtet auf spannende Weise beide Seiten der Medaille: Hier „der Westen“ mit seinen zahllosen, unverzichtbar erscheinenden Errungenschaften, dort Paragua mit seiner selbst erwählten Bescheidenheit — aber es gibt nur einen Gewinner.

Der deutsche Journalist Randolf Roon kommt bei einem Flugzeugabsturz in Paragua ums Leben. Seinem Sohn Robert gelingt es nach langen vergeblichen Anläufen, die mysteriösen Umstände des Crashs aufzuklären. Paragua wird darüber zu seiner neuen Heimat und die von dort stammende Biologin Mona zu seiner Frau.

Sein in Deutschland lebender Stiefbruder Gernot Hagen erliegt bei einem Besuch ebenfalls der Faszination Paraguas und verliebt sich zudem unsterblich in Monas Schwester Lisa. Nach der Heirat siedelt sich das Paar in Deutschland an. Dort findet die überaus glückliche Ehe ein tragisches Ende, als die exotisch aussehende Lisa von Skinheads erschlagen wird. Hagen ermittelt auf eigene Faust die Täter, die jedoch aus „Mangel an Beweisen“ freigesprochen werden.

Daraufhin mutiert der friedliche Akademiker Dr. Hagen zum gnadenlosen Racheengel. Er und sein Stiefbruder treiben die Killer in eine tödliche Falle, die die paraguanische Justiz dann zuschnappen lässt . . .

Roland Hanewald, Jg. 1942, erwarb sich als Seefahrer die anfänglichen Konturen seines Weltbildes, das während eines langjährigen Aufenthalts auf den Philippinen an weiterer Internationalität gewann. Die Kenntnis unserer Erde ist mit großer Intensität in seinen Erstlingsroman Mona & Lisa geflossen. Wie realistisch die darin geschilderte „paraguanische“ Existenz sein kann, lebt der Verfasser selbst vor: Er besitzt weder Auto noch Fernseher, nicht einmal ein Fahrrad, und ist dennoch wunschlos glücklich.

Roland Hanewald

Mona & Lisa

Putsch gegen die Zeit

Ein globaler Roman

Ein Geschlecht vergeht, das andre kommt, die Erde aber bleibt ewiglich. Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller. An dem Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder hin. Was ist, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird. Und geschieht nichts Neues unter der Sonne.

Prediger Salomo

1

Der Großvater lachte und rief: „Du bist ein kleiner Teufel!“ - gerade in dem Augenblick, als Regina Roon das Zimmer betrat.

„Weshalb tituliert ihr Männer den Jungen eigentlich immer als ‚Teufel‘?“, erkundigte sie sich verärgert. „Randolf hat auch diese dumme Angewohnheit!“

„Hat er dir nie erzählt, warum?“ Der Alte tat erstaunt. Seine Schwiegertochter warf ihm einen argwöhnischen Blick zu: „Nein.“

Rupert Roon stopfte sich umständlich eine Pfeife und setzte sie unbeeilt in Brand. Aus einer dicken Rauchwolke klang es dann bedeutsam hervor: „Robert der Teufel war eine sehr berühmte historische Figur.“ Der weißhaarige Mann übersah Regina Roons ungeduldige Geste, musterte das Bücherbord, förderte nach kurzer Suche ein schmales Bändchen zutage und blätterte ein wenig darin. „Ah, ja. Ich zitiere: ‚Dem Normannenherzog Hubert und seiner bis dahin kinderlosen Frau wird durch die Macht des Bösen endlich ein Erbe geboren, der sich von klein auf wild und gewalttätig, als Jüngling dann geradezu kriminell gebärdet. Prinz Robert mordet, plündert und vergewaltigt, bis er eines Tages erfährt, dass er schon vor seiner Geburt dem Teufel geweiht wurde. Nun geht Robert in sich und nach Rom, um dort zu beichten und zu büßen. Ein Eremit gibt ihm als Buße auf, sich närrisch und stumm zu stellen und mit den Hunden in den Straßen zu leben...‘“

„Hör auf“, stöhnte Regina Roon. „Das ist ja grässlich!“

„Moment“, wehrte der Alte ab und lächelte maliziös. „Es geht noch weiter. ‚Sieben Jahre vegetiert Robert der Teufel so in Demütigung und Buße, bis sich ihm inkognito die Gelegenheit zu einer ritterlichen Heldentat bietet. Er befreit den römischen Kaiser von einem schurkischen Seneschall und bekommt, nach einigen unvermeidlichen Ritardandi, die zunächst stumme, dann aber wunderbar von der Sprachlosigkeit geheilte Tochter des Kaisers zur Frau.‘ Vorhang.“

„Ich bin auch sprachlos“, stieß Regina Roon hervor. „Wegen dieses historischen Blödsinns nennst du den Kleinen einen Teufel.“

„Nicht nur deshalb“, antwortete der Alte entrüstet, doch in seinem faltigen Gesicht irrlichterte es dämonisch. Jedem, der seinen Sohn Randolf kannte, wäre jetzt die frappante Ähnlichkeit der beiden Männer aufgefallen. „Der teuflische Robert war im ganzen Mittelalter ungeheuer populär, so wie heute etwa ein Filmschauspieler oder, na, Fernsehfritze. Er kommt in Dramen, Balladen und Versromanen vor. Später sogar bei Meyerbeer und Nestroy. Und weißt du, wer Roberts Sohn war?“

„Und du quasselst genau wie dein Sohn“, rief Regina Roon wütend aus. „Ich will’s gar nicht wissen!“ Und damit stürmte sie aus dem Raum und schlug die Tür hinter sich zu.

Rupert Roon schmunzelte und stellte das Buch an seinen Platz zurück, sich selbst die Frage beantwortend: „Wilhelm der Eroberer. Jetzt weißt du, warum du ein Teufel bist“, wandte er sich gut gelaunt an den Jungen, der mit großen Augen der Szene beigewohnt hatte. „Aber ich schlage dir etwas vor: Wir nennen dich ab jetzt ‚Robert der Eroberer’, damit deine Mutter Frieden gibt. Was hältst du davon?“

Der Knabe strahlte. „Au, ja!“ Ein Eroberer wollte er gerne sein, das war besser als mit den Hunden auf der Straße zu leben. „Was ist vergewaltigen?“, fragte er dann neugierig.

Der Großvater antwortete zunächst nichts. Er ging zum Fenster, öffnete es. Baulärm scholl herein. In einiger Entfernung waren Betonmischer aufgefahren, Kräne kreischten, Maschinen rüttelten, eine neue Autostraße entstand. Entlang der Trasse lagen umgesägte Bäume wie tote Tiere, und auf einer fertigen Fahrbahn dröhnte der Verkehr bereits.

Der Alte winkte den Knaben zu sich heran und wies hinaus. „Das“, sagte er leise und schloss das Fenster wieder behutsam.

Ein Kerl mit Ecken und Kanten. Ein Typ wie Schmirgelleinen. So wurde der Erwachsene Randolf Roon wiederholt von Leuten beschrieben, die mehr als eine flüchtige Begegnung mit ihm gehabt hatten. Oder auch als Nagel, der unter vielen hervorstand und sich nicht einklopfen ließ. An Versuchen hatte es nicht gefehlt. Namentlich in der Schule war ausgiebig an der Persönlichkeit des Jünglings herumgehämmert worden. Ohne viel Erfolg; man hätte ebensogut versuchen können, einen eckigen Pflock in ein rundes Loch zu treiben. Randolf Roon ging schon als Kind unbeirrt seinen Weg, und sein Vater bestärkte ihn in dieser Eigenwilligkeit. Rupert Roon und sein Sohn harmonierten in einer Weise, die auf Außenstehende unerklärlich wirkte, waren eines Geistes Kind. Und das, obwohl der Patriarch sich nur selten zu Hause aufhielt. Er befuhr als Seemann, zuletzt als Kapitän, die Ozeane und überließ die Erziehung des Sprösslings zwangsläufig seiner deutschstämmigen Frau Celeste, die er, im Krieg interniert, in Chile kennengelernt hatte und mit der er später zurück in seine Heimat gezogen war. Dennoch bewirkten die mütterlichen Bemühungen wenig Sichtbares. Sowie Rupert Roon von großer Fahrt zurückkehrte, wandte sich der Junge wieder unmissverständlich dem Vater zu und sog dessen pragmatische Lebensweisheit in sich ein, als sei er aus Löschpapier. Wie alle wahrhaft freiheitlich empfindenden Menschen lag Rupert Roon auf dauerhaftem Kollisionskurs zu Bürokraten, Amtsträgern überhaupt, Advokaten, Bankern, Politikern und Managern, die er allesamt als Ausbünde der Hinterhältigkeit bezeichnete, und ließ keinen Anlass aus, seinen Abscheu auszudrücken. Dieses Wesensmerkmal schien sich auf geradem biologischen Wege auf den Sohn übertragen zu haben. Und der, wie sich später des öfteren zeigen sollte, hatte dieses Saatgut ebenfalls auf der Direttissima an den Erbfolger Robert weitergereicht.

Wie sein Vater war Randolf Roon selten daheim. Als Organisator von Expeditionen, privatem Zielfahnder und freiem Journalisten galt ihm die ganze Welt als Wildbahn, und auf seinen Reisen erlebte er mitunter die aberwitzigsten Abenteuer. Er prahlte nicht mit seinen Taten, wenn er nach tage-, mitunter wochenlanger Abwesenheit zurückkehrte, sondern ließ das Erlebte in spannende Fotoreportagen fließen und hob sich einen Rest auf, sozusagen als Nachspeise, um Frau und Sohn damit in funkelnd humoriger Weise zu unterhalten. Der junge Robert war gefesselt von diesen Erzählungen, zumal die Vorträge oft von fremdartig exotischer Musik untermalt waren, die der Vater selbst zu Band gebracht hatte und die dem Jüngling außerordentlich gut gefiel. Von dem modischen und zumeist englischsprachigen Geplärr, das immer mehr die heimatliche Szene bestimmte, hielt er nichts, konnte sich jedoch in höchstem Maß für arabische, indische und malaiische Kompositionen begeistern – was selbst den Vater verwunderte. Regina Roon hingegen hörte sich die Berichte und das winselnde Gedudel eher mit lächelnder Duldsamkeit als wahrem Interesse an. Sie hätte, bevor Robert geboren wurde, jederzeit an diesen Safaris teilnehmen können. Doch es zog sie nicht hinaus; sie fand stattdessen Befriedigung darin, das vielfältige Material, das ihr Mann periodisch anlieferte, zu archivieren und für die jeweiligen Endfassungen zu bearbeiten, bis der Globetrotter wieder eintraf und durch seinen Heißhunger auf die Strohwitwe stets erneut seine zölibatär verbrachte Zwischenzeit überwältigend unter Beweis zu stellen wusste.

„Meine kleine Vagina“, nannte Randolf Roon seine Frau in nur geringfügiger Abwandlung ihres Vornamens, ohne eine Spur von Ironie und immer mit großer Zärtlichkeit. Regina Roon hatte sich anfangs heftig gegen diese ultimative Koseform gewehrt. Doch ihr Mann setzte die Tradition mit der ihm eigenen Unbeirrtheit fort, bis sie eines Tages das Sinnlose ihres Widerstands einsah und sich in das Unabänderliche fügte. Nur ab und zu rächte sie sich auf eher niedliche Art, indem sie ihren Gatten mit „Randy“ titulierte. Der vielsprachige Weltreisende wusste natürlich um die englische Bedeutung dieses Wortes, nämlich „scharf“ im körperlichen Sinn, und amüsierte sich darüber. „Stimmt doch“, bestätigte er lächelnd.

„Du benutzt mich als Sexobjekt“, barmte seine Frau.

„Und du mich“, ergänzte ihr Mann zuvorkommend. Randolf Roon scherte sich einen feuchten Kehricht um Konventionen und emanzipatorische Modetrends und war mit einem atavistischen Selbstverständnis Ehemann und Liebhaber, das seine Lebenspartnerin trotz gelegentlichen Aufbegehrens mitriss und sie in einsamen Nächten auf das Heftigste Sehnsucht nach den „scharfen“ Stunden empfinden ließ. Oft hatte sie sich in den Phasen des Alleinseins anklagende Vorwürfe für den Abwesenden zurechtgelegt, mit denen sie ihn bei seiner Ankunft zu überhäufen gedachte. Je länger er ausblieb, desto drastischer wurde ihre Wortwahl, bis sich in ihrer Phantasie Schleusen für ganze Zorntiraden biblischen Zuschnitts öffneten. Doch kaum stand der Adressat der mentalen Schmähungen auf der Schwelle, als ihr die Traumgebilde auch schon zusammensanken wie Seifenblasen. Ihr wurde schwindlig, wenn der so lang Vermisste sie in seine Arme schloss, stark, sicher und verlässlich bis zur Selbstaufgabe, und ihre unterdrückten Leidenschaften wallten dann wie ein sprudelnder Quell empor und umfingen den Ankömmling in verschwenderischer Fülle, die bis zu seiner neuerlichen Abreise aus nie endenwollender Unermüdlichkeit zu schöpfen schien.

Dass ihr Randy trotz seiner mannhaften Auftritte im Grunde seines Herzens ein kleiner Junge geblieben war - dafür liebte seine Frau ihn ganz besonders. Randolf Roon war andererseits keines jener beklagenswerten Geschöpfe, die sich für unvergleichlich individuell hielten, weil sie mit diesem Anspruch den Aufrufen einer Ideologie folgten, die die Vereinzelung des Menschen zum Daseinsideal verklärte. In den westlichen Konsumgesellschaften herrschte dieser infantile Typus zunehmend vor, der sich den Forderungen der Mehrheit ironischerweise nicht zu entziehen vermochte und deshalb nur ein Mitläufer unter vielen, also alles andere als ein „Individualist“ war, sich inmitten der Masse genauso verzweifelt selbst darzustellen trachtete wie der große Rest. Das bis zur Exzentrizität ausgeprägte Einzelgängertum Randolf Roons kam jedoch nicht aus irgendwelchen Männerzeitschriften, sondern aus dem Bauch heraus, wo zweifellos eine genetische Verankerung bestand – der Vater unterschied sich ja um keinen Deut vom Sohn. Zum Extrem des Eigenbrötlers neigte zwar weder der eine noch der andere. Doch beide kultivierten ihre epizentrische Wesensform, erachteten sie als völlig normal und vermieden weitgehend, sich mit gesichtslosen Langweilern abzugeben, die nicht ihrer geistigen Vielschichtigkeit entsprachen. Beide, jeder auf seine Art, waren erfolgsgewöhnt, machten sich jedoch wenig aus materiellen Werten und bedachten Leute, die ihr Selbstwertgefühl aus teuren Statussymbolen bezogen, mit spürbarer Geringschätzung. Beide missbilligten den Anspruch des Fortschritts, Antworten geben zu können auf Fragen, die noch gar nicht gestellt worden waren, und beide grinsten mit unverhohlener Herablassung über ebenjene selbsternannten Individualisten, die als Herdenmenschen ein Leben in der Menge führten und zu einem Ausbruch in eine andere Daseinssphäre gar nicht fähig waren.

Die Ablehnung von Konventionen, die den „Typ wie Schmirgelleinen“ auszeichnete, umfasste primär einen globalen Kleidungskodex. Randolf Roon besaß weder Anzug noch Krawatte, war über jeglichen Markenfetischismus haushoch erhaben, vertauschte lange gegen kurze Hosen, sowie die Temperatur zehn Grad überschritt und fühlte sich in schlabbrigen Khakihemden sichtlich am wohlsten, wenn er nicht gerade mal zum Entsetzen seiner Mitwelt im saharischen Burnus erschien. Wegen dieser Marotten, vielen an der Zahl, hatte „die kleine Vagina“ zunächst Krach geschlagen. Doch auch hier war sie, mehr noch als bei anderen Reizthemen, ins Leere gelaufen und hatte alsbald aufgegeben. Denn vernünftigerweise war sie zu der Einsicht gelangt, dass sie ihren Mann so liebte, wie er war. Ein plötzlich in Geschäftsanzug und Luxuskarosse gewechselter Randolf Roon hätte den Eindruck der Unechtheit erweckt, wäre ihr wahrscheinlich schrecklich fremd und langweilig vorgekommen. „Bleib so, wie du bist“, hatte sie mitunter am Ohr ihres Liebhabers gestöhnt und dessen ausbleibende Antwort beglückt dahingehend gedeutet, dass es zu keiner Änderung des Status quo kommen würde. Randolf Roon war offenbar weit davon entfernt, seine freie Lebensart in ein Korsett bürgerlicher Konformitätszwänge pressen zu lassen und seiner Existenz vermittels umgeschnürter Krawatte eine Symmetrie zu verschaffen, an der es ohnehin nie gemangelt hatte.

Selten war eine Ehe ungleicher zusammengesetzt als jene der Regina und des Randolf Roon, selten war eine Ehe glücklicher. Doch das Schicksal hatte andere Pläne für das Paar. Sohn Robert war zwölf Jahre alt, als der Anruf kam, der das Leben der Familie Roon einschneidend veränderte. Ein Kollege Randolfs vom regionalen Journalistenverband teilte Regina Roon nach längerem Herumgedruckse mit, dass ihr Mann in dem fernen Tropenstaat Paragua in ein Flugzeugunglück verwickelt gewesen sei. Zwar wisse man noch nichts Genaues, doch Flug 110 der Air Paragua, auf dem Randolf mit nachweisbarer Sicherheit Passagier gewesen war, gelte als verschollen. Zur Zeit des Unglücks habe schlechtes Wetter geherrscht, die Maschine sei bereits seit achtundvierzig Stunden überfällig, und man müsse sich auf das Schlimmste gefasst machen. Zwar bestehe noch vage Hoffnung, dass das Flugzeug in den Dschungel gestürzt sei und dass es Überlebende geben könnte. Er, der Anrufer, würde die Frau seines Kollegen und Freundes minutiös auf dem laufenden halten, und sie möge die Zuversicht wahren.

Während ihrer Ehe hatte Regina Roon angesichts des risikobefrachteten Lebenswandels ihres Gatten eigentlich ständig mit einer solchen Nachricht rechnen müssen. Sie war sich dieses Potenzials auch bewusst gewesen, hatte die Möglichkeit jedoch stets bis zur Unmöglichkeit kleingedacht und in eine mentale Abstellkammer verdrängt. Dass dieser größte anzunehmende Unfall jetzt eingetreten war, versetzte sie in einen Zustand derartiger Fassungslosigkeit, dass ihr gesamtes Denkvermögen gelähmt schien. Sie saß über Stunden hinweg unbeweglich da, wie nach einem gerade erlittenen Schlaganfall, starrte wort- und tränenlos ins Leere und überließ dem Schwiegervater die Handhabung der Haushaltsangelegenheiten, die der Alte, selbst wie mit Keulen geprügelt, mehr schlecht als recht erledigte. Auch in den Medien erfuhr das Unglück Erwähnung, und die Anrufe des Journalisten setzten sich in den nächsten Tagen wie zugesagt fort. Sie brachten jedoch nichts Neues und endeten schließlich ohne eine tröstliche Note. Diverse Verwandte und Bekannte machten ebenfalls ein telefonisches Debüt, doch auch sie hatten nichts mitzuteilen, baten nur um Aufklärung; manche waren lediglich von penetranter, sensationslüsterner Neugier getragen. Regina Roon war für die Anrufer ohnehin nicht mehr erreichbar, denn sie lag mittlerweilen mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus. Statt ihrer betrieb der alte Rupert Roon eine Kommunikationszentrale, in der die Fäden des Falls Flug 110 jetzt zusammenliefen. Bis in die späte Nacht hockte der gebeugte Greis in ständiger Bereitschaft, um bei jedem Klingeln des Telefons voller Hoffnung sogleich zur Stelle zu sein. Jedesmal ließ er den Hörer wieder um eine Illusion ärmer entkräftet sinken. Das endgültige Aus kam knapp zwei Wochen später, als eine Schwimmweste, die dem vermissten Flugzeug zweifelsfrei zugeordnet werden konnte, an der Ostküste der paraguanischen Insel Santo antrieb. Flug 110 sei aufgrund extremer Wetterverhältnisse nach Ausfall eines Motors in den Ozean gestürzt, hieß das offizielle Kommuniqué daraufhin, und alle an Bord befindlichen Personen seien ums Leben gekommen. Drei Monate nach dem Absturzdatum wurde der deutsche Journalist Randolf Roon in Übereinkunft mit internationalem Luftverkehrsrecht für tot erklärt. Gleichzeitig teilten die Behörden seinen Hinterbliebenen mit, dass etwaige Ansprüche gegen die zuständige Fluggesellschaft in Paragua so schnell wie möglich geltend gemacht werden müssten, dass die Aussichten auf Erfolg jedoch als sehr gering einzustufen seien. Regina Roon und ihr Schwiegervater, beide um Jahre gealtert, beschlossen übereinstimmend, von dem Angebot keinen Gebrauch zu machen. Sie fanden es ungeheuerlich und geradezu nach Ablehnung schreiend, einen Menschen dieserart in Geld aufzuwiegen.

So heiß Regina Roon ihren Mann geliebt, verzweifelt auf seine Rückkehr gehofft und dann verzagend betrauert hatte – zwei Jahre nach dem Unglück kam, zunächst zögerlich, dann immer fühlbarer, der Wunsch nach neuer männlicher Gesellschaft über sie. Es war nicht das Verlangen nach körperlichem Vollzug. Dass kein anderer Mann als Randolf ihr die exquisiten Höhepunkte der Vergangenheit für den Rest ihres Lebens zu vermitteln imstande sein würde, betrachtete sie als schicksalhaftes Faktum. Sie wollte es auch auf gar kein solches Experiment ankommen lassen; es wäre, wusste sie, im Wortsinn vergebliche Liebesmüh gewesen. Nein, sie suchte nach einer Schulter, an die sie sich wieder lehnen konnte, nach kleinen Gemeinsamkeiten, nach der Füllung des bestehenden Vakuums, nach einer Familie. Das waren nach ihrem Dafürhalten allesamt ehrenhafte Absichten. Dennoch stellte sich so etwas wie Scham über den „Verrat“ an dem Verschollenen ein, als sie ihrem Schwiegervater nach langem innerlichem Widerstreit schließlich mit diesen Plänen gegenübertrat. Sie gedachte ihn in aller Kürze vor vollendete Tatsachen zu stellen und hoffte, dass ihre Stimme die Stärke ihres Entschlusses signalisieren würde. Doch das Vorhaben geriet ihr genau wie so oft bei Randolf gründlich daneben. Die Luft wich aus dem schwachen Ballon ihrer künstlich aufgebauten Selbstsicherheit, kaum dass sie des misstrauisch blinzelnden Alten ansichtig wurde. Sie musste sich zwingen, ihm überhaupt in die Augen zu blicken, und die Worte wollten nicht aus ihrem Mund, bis Rupert Roon sie letztlich aufforderte, ihr Herz auszuschütten. Er sei auf alles gefasst.

„Ich habe vor, wieder zu heiraten“, flüsterte die Schwiegertochter.

„Ah? Nur zu.“ Der Alte schien wenig überrascht. „Und wer ist der glückliche Auserwählte in zweiter Instanz?“

„Hermann Hagen.“

„Ist das nicht der —“

„Ja. Der mir schon in meiner Jugend den Hof gemacht hatte.“

„Und was ist der jetzt?“

„Frühpensionierter Oberpostrat.“

„Was anderes als Randolf, eh?“

„Ja.“ Regina Roon seufzte elend. „Ich möchte noch einen Sohn haben, Rupp.“

„Aus dem gebärfreudigen Alter bist du ziemlich raus. Aus dem lendenstarken auch.“

„Quatsch.“ Sie gewann etwas Oberwasser. „Darum geht es nicht. Hermann ist verwitwet, wie ich. Seine Frau ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Und er hat einen Sohn. Gernot. Zwei Jahre jünger als Robert.“

„Reicht der dir nicht?“

„Robert entgleitet mir immer mehr. Was sage ich — er ist mir schon längst entglitten. Und du weißt, wer dafür verantwortlich ist.“

„Der Junge braucht einen Vater“, knurrte der Alte ungehalten. „Lass mich das machen. Er muss sich mit einer männlichen Bezugsperson identifizieren können, um sich später im Leben zu behaupten.“

„Alleinerziehende Mütter sind durchaus fähig, dafür die Grundlagen zu schaffen.“

„Das sind sie nicht. Vielleicht bei Töchtern, und dort auch nur zur Hälfte. Söhnen können sie nicht vormachen, wie man zum Mann wird. Sollen die Knaben nach feministischen Rollenverständnissen heranwachsen? In einem Zeitalter, dessen Probleme mehr denn je danach rufen, richtungweisend von beiden Geschlechtern gemeinsam angepackt zu werden? Sieh dir nur an, wie viele Versager unsere Gesellschaft wegen des Irrglaubens, ihre Kinder könnten auch mit fünfzig Prozent ihres Entwicklungsvolumens groß werden, hervorgebracht hat. Und weiterhin hervorbringt. Muttersöhnchen sind noch nie die Triebfeder menschlichen Strebens gewesen.“

Männlichen Strebens meinst du. Mutterliebe ist durch nichts zu ersetzen.“

„Das bestreite ich auch gar nicht, obwohl die in Europa erst vor ein paar Generationen in Mode geraten ist. Und obwohl viele heutige Mütter mangels Mann Halt bei ihren Söhnen suchen und den Vorgang dann mit Mutterliebe verwechseln.“

„Eher solche, die einen Schwächling zum Mann haben.“

„Wer hat sie denn dazu gemacht? Und wer drängt die Jungväter immer mehr in Mutterschaftsrollen, für die sie keinerlei Bestimmung haben, heh? Männer besitzen keinen Instinkt dafür, ihren Gören den Hintern zu pudern. Sie haben andere Vorbildfunktionen.“

„Rede du nur von Vorbildern. Du warst doch selbst keines. Bist du nicht den größten Teil deines Lebens auf See herumgeschaukelt?“

„Bin ich. Dennoch hat mich Randolf als Vater wahrgenommen. Mehr noch vielleicht, als wenn ich ständig zu Hause gewesen wäre und mich um seinen Hintern gekümmert hätte.“

„Ein verbissener Einzelgänger war deshalb aus ihm geworden. Und Robert wird auch einer.“

„Na, na.“ Der Alte schüttelte tadelnd den Kopf. „Du wirst die beiden doch wohl nicht als bindungslose Asoziale bezeichnen wollen. So weit ich das beurteilen kann, war Randolf trotz seiner vielen Abwesenheiten ein großartiger Ehegatte.“

Die Schwiegertochter verbiss sich aufwallende Tränen. Er hat mir die Zehen geküsst, dachte sie. Und was nicht noch alles. Hermann Hagen käme nicht einmal auf den Gedanken. „Ja. Das war er“, gestand sie kläglich. „So einen finde ich nie wieder.“

„Jetzt kommt ja der Oberpostrat.“

„Ach Unsinn, Rupp. Du sagst doch selbst, eine Vaterfigur sollte da sein.“ Sie blickte ihn nicht ohne Zärtlichkeit an, sah die Wesenszüge des verlorenen Sohnes deutlich dupliziert. Rupert Roon war auch im fortgeschrittenen Alter lange ein attraktiver Mann geblieben und wäre für manche Frau seiner Generation noch eine gute Partie gewesen. Nichts lag ihm aber ferner, als eine neue Verbindung einzugehen, nachdem seine Frau Celeste vor einigen Jahren verstorben war. Regina Roon hatte stets seine Charakterstärke bewundert, die zweifellos zu seiner vorbildlich verlaufenen Ehe beigetragen hatte. „Du verrichtest, wenn ich ehrlich sein soll, die Aufgabe auch hervorragend“, setzte sie den Dialog mit festerer Stimme fort. „Robert ist auf positive Art ganz anders als seine Altersgenossen. Aber gedenkst du ewig zu leben?“

„Ich weiß nicht, ob Robert der Teufel sich mit einem frühpensionierten Sesselfurzer identifizieren wird.“

„Du könntest dich schon etwas galanter ausdrücken.“

„Soll dein Galan hier nun einziehen?“

„Nein. Er hat selbst ein Haus. In Kranach. Außerdem ist er nicht mein Galan.“

„Ich wollte nur galant sein. Na, dann nicht. Er wohnt dort, und du wohnst hier. Die ideale Ehe.“

„Das musst du gerade beurteilen, nach deinem Vagabundenleben.“ Sie lächelte ihn an, gleichermaßen um Vergebung für ihren Vorwitz bittend, denn der Alte war auf dem Ohr empfindlich. „Aber es wäre mir schon lieb, wenn wir hier zusammen wohnen könnten. Ich möchte dieses Haus nicht aufgeben, Rupp. Es ist ja so eine Art Stammsitz der Familie Roon, voller Andenken und Eigenheiten. Von dieser letzten Bindung will ich Robert nun wirklich nicht trennen.“

„Gut, dass du das zu würdigen weißt.“ Die Stimme des alten Mannes wurde milder. „Ich glaube aber nicht, dass ich mit deinem Briefträger unter einem Dach residieren möchte. Das halbe Haus gehört ja immerhin noch mir.“

„Hast du eine bessere Idee?“

Rupert Roon dachte eine Weile nach und nickte dann. „Ja. Ich verkauf’ euch meine Hälfte. Für einen fairen Preis.“

„Und du?“

„Ich leg’ mir dafür ein Boot zu. Wollte ich schon immer.“

„Du willst auf einem Boot leben?“

„Na, und? Ich bin Seemann.“

„Und im Winter?“

„Da bin ich auch Seemann. Ich werde dahin gondeln, wo es warm ist. Mit Booten kann man das, wenn du dich erinnern willst.“

„Darf man denn überhaupt ständig auf einem Boot wohnen?“

Darf? Äh - klar doch. Ich hab’ mich schon kundig gemacht.“

„So? Bei wem denn?“

„Beim lieben Gott. Wer sollte sonst für mich zuständig sein? Irgendein Sesselfurzer vielleicht?“

Rupert Roon hatte in traditioneller Familienmanier sein Vorhaben ohne viel Federlesens verwirklicht. Nach dem Verkauf des Resthauses an das Ehepaar Hagen — und nach Einrichtung eines Zimmers musealen Zuschnitts zum Gedenken an den verschollenen Sohn; darauf hatte er bestanden — zog der emeritierte Kapitän mit schmalem Gepäck an Bord eines günstig erworbenen und neu auf den Namen „Celeste“ getauften vormaligen australischen Perlenluggers, erbaut 1908 auf Thursday Island, fünfzehn Meter lang und aus eisenharten tropischen Hölzern gefügt. Die „Celeste“ lag hinfort zumeist in einem stillen Seitenarm des Stroms, der an der Heimatstadt des Roon-Clans vorüberfloss und von dem der Alte so oft auf große Fahrt gegangen war. Jetzt pusselte er auf dem Boot herum und vertrieb sich auf diese Weise, wie Beobachter vermeinten, die reichlich bemessene Zeit seines Ruhestands, um nach seinem bewegten Leben nicht in Depressionen zu verfallen. Das mutmaßten auch Bekannte der älteren Semester, die ihm mitunter noch begegneten. Sie waren mehrheitlich geckenhaft in bunte Freizeituniformen gewandet, von Plastikhelmen gekrönt, mit „Bikes“ oder „Inline Skates“ bewehrt, und jeder der alten Männer keuchte solcherart gewappnet gegen sich selber an. Der Skipper sah den Rentneraufgeboten, ihrem schimmernden Helmschmuck und blitzenden Rüstzeug mit gerunzelten Brauen und zweifelnd verzogenen Lippen hinterdrein. Die hechelnden Greise hoben in diesem würdelosen Aufzug ihr wahres Alter nur noch mehr hervor, empfand er, und gaben bedauernswerte Figuren ab. Einladungen, beim „Jogging“, „Biking“, „Skating“ und „Walking“ mitzutun statt sich den Freuden der wahren Welt zu verschließen, wies er schroff, wenn auch mit nach eigener Überzeugung höflicher Ausdrucksweise zurück. Doch er hatte wohl zu viel aristokratische Herablassung in seine Ablehnungen fließen lassen und sich vor allem zu deutlich über das anglisierte Dummdeutsch der Sportsfreunde mokiert, denn die Offerten wurden nicht wiederholt und Kontakte blieben hinfort aus. Sollte der alte Sack doch auf seinem Schlorren versauern!

Aber daran dachte „Opa Rupp“, vom Seelentief äonenweit entfernt, nicht im Geringsten. Er setzte, im Gegenteil, auf der „Celeste“ handfeste Pläne in die Praxis um. Regina Hagen, verwitwete Roon, sollte zu ihrem Leidwesen zuerst davon erfahren. Sie hatte gehofft, dass der neue Status und die physische Distanz zum Großvater zu einer Vertiefung ihrer Bindungen an den Sohn führen würden. Doch das erwies sich als Irrtum. Der junge Robert ließ sich weniger denn je daheim sehen, sondern schloss sich dem Alten auf dessen schwimmender Bleibe enger als zuvor an. Jede freie Minute brachte er auf der „Celeste“ zu, und sowie längere Ferien begannen, ging das Boot ankerauf. Die beiden Roons verschwanden dann unter vollen Segeln am Horizont, zunächst mit Zielen in der Nord- und Ostsee, bis in die schwedischen Schären und finnischen Seen hinein, später nach Irland, Spanien und den Azoren. Robert kam von jeder dieser Touren gebräunt und strahlend, männlicher und gereifter und seinem Erzeuger immer ähnlicher sehend zurück, umfing seine Mutter in liebevoller Umarmung, begrüßte Stiefvater und –bruder mit kühler Reserve und fuhr fort, das Gymnasium mit zunehmender Lustlosigkeit zu besuchen und den Rest der Zeit der „Celeste“ zu widmen, die wieder unschuldig zwischen Schilfinseln vor Anker lag. Dann trat mit Abitur und Wehrdienst eine Unterbrechung dieser glücklichen Verhältnisse ein, und Robert verabschiedete sich danach mit der Erklärung, er wolle allein auf eine längere Reise gehen. Der Großvater akzeptierte die Verkündung ohne Kommentar. Er hatte sich keinen Illusionen darüber híngegeben, dass der Enkel auf alle Ewigkeit mit ihm Kreuzfahrten unternehmen würde. Es war ohnehin an der Zeit, dass ein gut aussehender Jungmann wie Robert sich der Schürzenjagd widmete, denn selbige, argwöhnte Rupert Roon, war das eigentliche Motiv.

11,33 ₼
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